2010 - EESSI - Electronic Exchange of Social Security Information
2011 - Koordination von Familienleistungen
1. Koordination von
Familienleistungen
Österreichisches trESS-Seminar
7. Juli 2011, Salzburg
Elias Felten
Übersicht
• Systematik des Kapitels über
Familienleistungen
• Definition von Familienleistungen
• Sachlicher Anwendungsbereich
• Persönlicher Anwendungsbereich
• Anzuwendende Rechtsvorschriften -
Prioritätsregeln
• Leistung von Unterschiedsbeträgen
• Resümee
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2. Systematik
• Definition der Familienleistungen in Art 1 lit z
• Inhaltliche Regelungen in Kapitel 8
• Nur noch 4 Artikel unter der VO 883/2004
– Art 67: Exportanspruch für Familienangehörige
– Art 68: Antikumulierungs- und Prioritätsregeln
Regelungen zur Antragsstellung
– Art 68a: Sicherung der Unterhaltsverwendung
– Art 69: Regelungen für Leistungen an Waisen
Systematik
• Ergänzende Bestimmungen in der DVO
987/2009
• Besondere Vorschriften für Familienleistungen
in Kapitel VI
– Art 58: Spezielle Prioritätsregeln
– Art 59: Regelungen bei Änderung der
anzuwendenden Rechtsvorschriften
– Art 60: Spezielle Regelungen zur Antragstellung
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3. Systematik
• Kapitel über Familienleistungen im Vergleich
zur VO 1408/71 kürzer und übersichtlicher
• Prioritätsregeln nunmehr ausschließlich in der
GVO
• DVO enthält nur mehr Regelungen für
Sonderfälle bzw zur praktischen Durchführung
• Kürzere und übersichtliche Regelungen
bedeuten jedoch leider keine einfachere
Rechtslage
Sachlicher Anwendungsbereich
• Weites Verständnis der Familienleistungen
gem Art 1 lit z :
– Sowohl Geld- als auch Sachleistungen; auch
Annexleistungen (§ 28 KBG; § 18a ASVG)
– Ausgleich von Familienlasten
– Unerheblich: Art der Finanzierung, Administration
– Keine Differenzierung zwischen Familienleistungen
und –beihilfen
– Weitere Ausnahme unter VO 883/2004:
Unterhaltsvorschüsse
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4. Frage (1)
Wie sind in Bezug auf Staaten mit Systemen, die für Waisen
nur Familienleistungen vorsehen, die Pensionsverfahren zu
führen? Sind in Bezug auf diese Staaten für
Waisenpensionen nur die Koordinierungsregelungen für
Familienleistungen anzuwenden und besteht für diese
Staaten, die keine Waisenpensionen kennen, dann die
Verpflichtung, ihre Familienleistungen (als Ersatz für eine
Pension?) zu exportieren? Sind nur die Koordinierungs-
regelungen für Familienleistungen anzuwenden und die
Verfahren daher ausschließlich von den Trägern für
Familienleistungen durchzuführen?
Zu Frage (1)
• Leistungen für Waisen zT als Renten-, zT als
Familienleistungen konzipiert
• Daher Sonderregeln in Art 69 GVO
– Leistungen in Form von Renten werden nach dem
Rentenkapitel (Kapitel 5) koordiniert (Art 69 Abs 2)
– Familienleistungen werden nach den Artt 68 ff
koordiniert (Anspruch auf Export bei
Systemunterschieden)
– Verfahren richtet sich nach Art 61 DVO
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5. Zu Frage (1)
Beispiel (aus Spiegel, ZIAS 2006, 141)
AN arbeitet in MS A und wohnt in MS B als seine Eltern
versterben.
MS A: Waisenrente und Familienbeihilfe (80 €)
MS B: besondere Familienbeihilfe für Waisen (200 €)
MS A ist der prioritär zuständige Staat; daher Anspruch auf
Waisenrente berechnet nach Kapitel 5 und Anspruch auf
Familienbeihilfe in Höhe von 80 € von MS A; MS B ist als
nachrangiger Staat verpflichtet besondere Familienbeihilfe
für Waisen in Höhe von 120 € zu leisten (= Unterschieds-
betrag gem Art 68 Abs 2)
Sachlicher Anwendungsbereich
• Ausnahmemöglichkeit (Anhang I):
– Besondere Geburts- und Adoptionsbeihilfen
– Unterhaltsvorschüsse
• Ausnahme von Unterhaltsschüssen bedeutet:
– Kein Anspruch auf Gleichbehandlung gem Art 4?
– Kein Exportanspruch?
• Gilt seit dem 1.5.2010: keine speziellen
Übergangsbestimmungen gem Art 87
• Gilt nicht im Verhältnis zur Schweiz/EWR
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6. Sachlicher Anwendungsbereich
• Gleichbehandlung: Art 18 AEUV gilt auch für
Materien, die ausdrücklich von der VO
1408/71 bzw VO 883/2004 ausgeschlossen
sind (Rs Nerkowska)
– OGH: Gleichbehandlungsanspruch von
Unionsbürgern bei reinen Inlandssituation (10 Ob
76/08m)
• Aufenthaltskriterium: Einschränkung der
Personenfreizügigkeit ? (vgl Rs Leclere/
Deaconescu)
Sachlicher Anwendungsbereich
• Art 7 (2) VO 492/2011: Anspruch auf soziale
Vergünstigungen = Diskriminierungsverbot
– Ausgleich von Familienlasten (Rs Martinez Sala)
– Unterhaltsvorschuss nach UVG? (vgl Rs
Offermanns)
• Persönlicher Anwendungsbereich: AN; aber
auch Familienmitglieder (Rs Bernini)
• Aufenthaltskriterium: Diskriminierung von
unselbständigen GrenzgängerInnen? (Rs
Geven)
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7. Persönlicher Anwendungsbereich
• Auswirkungen der Neuformulierung des
persönlichen Anwendungsbereichs gem Art 2
im Bereich der Familienleistungen?
– VO 883/2004 gilt für inaktive Unionsbürger – also
auch für Kinder!
– Kinder können sich in eigener Person auf die VO
berufen (Drittstaatsangehörige VO 1231/2010)
– Eigenes Rechtsstatut für inaktive Unionsbürger:
Wohnsitzstaat gem Art 11 Abs 3 lit e (Rs Bosmann!)
Frage (2)
Ansprüche vor fünfjähriger Aufenthaltsdauer
Beispiel aus der Praxis: Rumänin lebt seit 4 Jahren mit
Mann und Kindern, eines hier geboren, in Österreich. Mann
war offenbar nur fallweise erwerbstätig. Paar ist jetzt
getrennt. Frau lebt mit Kindern im Frauenhaus. Mann ist
untergetaucht, dzt. nicht erwerbstätig, auch kein AMS-
Bezug mehr. Keine sonstigen Mittel. Frau mit Kindern
bekommt Mindestsicherung, hat aber keinen Anspruch auf
Familienleistungen, da mangels Erwerbstätigkeit und
Existenzmittel kein rechtmäßiger Aufenthalt in Österreich?
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8. Zu Frage (2)
• Mutter und Kind sind Unionsbürger;
grenzüberschreitender Sachverhalt
• Wohnort iSd Art 1 lit j VO 883/2004 (Art 11
DVO 987/2009)? - Bezug von Mindestsicherung
• Aufenthaltsrecht vs Leistungsanspruch
• Zweck der VO 883/2004 maßgeblich; Selbst
unter der RL 2004/38/EG ist zwischen
Leistungsanspruch und Aufenthaltsrecht zu
differenzieren (Rs Trojani)
Anzuwendende Rechtsvorschriften
• Art 67 normiert Exportgebot des
Beschäftigungsstaates für Familienangehörige
• Familienangehörigeneigenschaft entscheidend
für Exportanspruch
– Definition in Art 1 lit i: Innerstaatliche Definition;
Ehegatten, minderjährige und unterhaltsberechtigte
volljährige Kinder; Scheidung? vgl Rs Humer; Slanina
– Modifikation: Überwiegende Bestreitung des
Unterhalts anstelle gemeinsamen Haushalts
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9. Frage (3)
Seit dem EuGH-Urteil Slanina erhalten österreichische
Stiefväter/Stiefmütter für die Kinder ihrer ausländischen
Gattinnen, mit denen sie in Österreich zusammenleben und
hier erwerbstätig sind, keine Familienleistungen aus
Österreich mehr, da nun ausschließlich der leibliche Vater
maßgeblich sei, der im Heimatland einen Anspruch geltend
machen kann. Dies, obwohl der Elternbegriff des § 2 Abs. 3
lit c FLAG ein weiter ist und auch Stiefeltern umfasst. Liegt
also kein Auslandsbezug vor, dann erhalten Stiefväter in der
selben Situation Familienleistungen aus Österreich. Ist diese
Schlechterstellung aufgrund einer EU-Kollisionsnorm
zulässig?
Zu Frage (3)
• Ergebnis der Rs Slanina: Leiblicher,
unterhaltspflichtiger und in AUT beschäftigter
Vater vermittelt Anspruch auf Familienbeihilfe
• Problem „Patchwork-Familien“: 2 Väter/Mütter
– Welche Person Vorrang hat, wird durch die VO
883/2004 nicht geregelt
– Familienbetrachtungsweise (Art 60 Abs 1 DVO)
• 2 Anknüpfungspunkte: Prioritätsregeln des Art
68 GVO maßgeblich
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10. Prioritätsregeln
• Bei Familienleistungen können grundsätzlich
mehrere MS zuständig sein
• VO 883/2004 will aber Überbezug von
Familienleistungen verhindern (vgl zB Art 10)
• Art 68 enthält daher Prioritäts- bzw
Antikumulierungsregeln
– Ansprüche auf Grund einer Beschäftigung
– Ansprüche auf Grund eines Rentenbezugs
– Ansprüche auf Grund des Wohnsitzes
Prioritätsregeln
• (1) Beschäftigung geht (2) Rentenbezug und (3)
Wohnsitz vor
• Bei zwei Beschäftigungen (= derselbe Grund iS
des Art 68 Abs 3): Wohnort der Kinder ist
ausschlaggebend; ebenso bei 2 Rentenbezügen
bzw 2 Wohnorten
Vater = AN Mutter = AN
in MS A in MS B
(Vorrangig) Zuständiger
Wohnort Staat ist MS B
der Kinder
in MS B
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11. Frage (4)
Sind die Prioritätsregeln des Art. 68 lit. b) iii) der VO
883/2004 so auszulegen, dass es im folgenden Fall zu einer
Änderung der bisherigen Handhabung unter der VO
1408/71 gekommen ist? Vater ist in BRD berufstätig,
Mutter lebt ohne Beschäftigung mit dem Kind in AUT.
Bisher war Deutschland als Beschäftigungsstaat vorrangig
zuständig. Da die Familienleistungen sowohl in AUT als
auch in der BRD nicht durch eine Beschäftigung, sondern
durch den Wohnort ausgelöst werden, sind sie aus
denselben Gründen zu gewähren. Ist daher auf Grund des
Wohnorts der Kinder nunmehr Österreichs zuständig?
Zu Frage (4)
• Wortlaut des Art 68 ist missverständlich;
Österreich hat daher den Versuch einer
entsprechenden Klarstellung unternommen
• Jedoch: VO 883/2004 soll im Vergleich zur VO
1408/71 zu keinen Änderungen führen
• Daher: Art 68 stellt nicht auf die
innerstaatliche Systematik ab (Wohnsitz- vs
Erwerbssystem), sondern auf die Anknüpfung
für die anzuwenden Rechtsvorschriften iSd
Art 11
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12. Prioritätsregeln
• Begriff der Beschäftigung/selbst.
Erwerbstätigkeit durch Beschluss F 1 der
Verwaltungskommission konkretisiert:
– vorübergehenden Unterbrechung (Krankheit,
Mutterschaft, … Urlaub, Streiks…unbezahlter Urlaub
zum Zweck der Kindererziehung)
• Beschluss F 1 bezieht sich auf Art 68 nicht auf
Art 11 – welcher Staat ist für Personen in
Karenz zuständig? (vgl OGH 10 Ob 35/11m; vgl
auch Rs van Delft)
Frage (5)
Welche Befugnisse haben die für Familienleistungen
zuständigen Behörden (Finanzamt, KV-Träger),
Hinweisen auf Scheinselbständigkeit nachzugehen und
die Leistung wg festgestellter Scheinselbständigkeit
abzulehnen, wenn a. Anmeldebescheinigung vorliegt
oder b. keine Anmeldebescheinigung vorliegt.
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13. Zu Frage (5)
• Problem: Begründung eines Aufenthaltsrechts;
Verschiebung der Zuständigkeit
• Selbständige nach 1408/71: Erbringung von
Leistungen, die ganz oder teilweise der
Bestreitung des Lebensunterhalts dienen (Rs
van Roosmalen) - Höhe der Einkünfte grds
unerheblich (vgl aber Rs Geven zur FreizügigVO)
• Beurteilung der (Schein-)Selbständigkeit wie
bei Inlandsfällen (Anmeldebescheinigung nur
Indiz)
Frage (6)
Wann liegt ein Zuständigkeitskonflikt gem. Art 6 Abs. 2 EU-
VO 987/2009 vor, bei dem die Familienleistung vorläufig vom
Wohnsitzstaat zu leisten ist? Problem in der Praxis:
Umfangreiche Erhebungen zwischen den Trägern zweier
Mitgliedstaaten, die oft viele Monate dauern. Während
dieser Zeit erhalten Familien, die in Österreich leben, weder
aus dem einen noch aus dem anderen Staat
Familienleistungen (keine Familienbeihilfe, damit auch kein
Kinderbetreuungsgeld). Darf das Familienbeihilfenverfahren
hier gemäß § 281 BAO ausgesetzt werden? Oder sollte nicht
vielmehr genau das durch Art 6 Abs. 2 EU-VO 987/2009
verhindert werden?
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14. Zu Frage (6)
• Zuständigkeitskonflikte sind nach den
Bestimmungen der DVO zu lösen
• Art 68 DVO: Träger, bei dem Antrag gestellt
worden ist, prüft Zuständigkeit
– Bei Feststellung der nachrangigen Zuständigkeit,
vorläufige Entscheidung über anzuwendenden
Prioritätsregeln und Weiterleitung des Antrags an
den Träger des anderen MS (Art 68 Abs 3 GVO) –
Stellungnahmefrist von 2 Monaten zur vorläufigen
Entscheidung
Zu Frage (6)
– Keine Stellungnahme innerhalb von 2 Monaten:
Vorläufige Entscheidung wird anwendbar - Träger
zahlt Leistungen - Anrufung der VW-Kom (Art 6
Abs 3) - Rückforderungsmöglichkeit vom
vorrangig zuständigen Träger gem Art 73 DVO
– Bei Uneinigkeit der Träger (wohl innerhalb der 2
Monate): Verfahren Art 6 Abs 2-5 DVO; vorläufige
Leistung durch Träger des Wohnortes (der Kinder
gem Art 60 Abs 4 DVO) – Anrufung der VW-Kom
• Max. Zeitraum zur Aussetzung von Leistungen
sind 2 Monate
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15. Unterschiedsbetrag
• Nachrangiger MS muss Unterschiedsbetrag
leisten, sofern nach den nachrangigen Rechts-
vorschriften höhere Familienleistung gebührt
– Nicht bei Vermittlung durch Wohnort (Art 68 letzter
Satz)
• Vielzahl an ungelösten Problem in der Praxis
(„Ein- oder Zwei-Körbe-Theorie“; Berechnung
pro Kind/pro Familie; laufend oder im
Nachhinein; Sachleistungen)
Resümee
• Kapitel ist klarer und kürzer (gilt insb für
Prioritätsregeln)
• Einbeziehung inaktiver Personen hat gerade für
Familienleistungen Konsequenzen (Normierung
des Bosmann-Urteils?)
• Bei Wohnsitzsystemen ergibt sich ein
zunehmendes Spannungsverhältnis zw dem
Anspruch auf Aufenthalt und Gleichbehandlung
• Viele Fragen sind weiterhin offen
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