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Herr Rode und das Paradies der Erinnerung
Borken. Fünfzehntausend Quadratme-
ter für eine Person. Das ist viel Platz.
Aber noch immer nicht genug, um das
Leben des Richard Rode aus Northeim in
Südniedersachsen zu fassen, seine Lei-
denschaften und Erinnerungen.
Fünfzehntausend Quadratmeter – so
viel misst das alte, seit Jahrzehnten
schon stillgelegte Braunkohlekraftwerk
im hessischen Borken. Für ein paar sym-
bolische D-Mark kaufte Richard Rode
vor 15 Jahren das morsche Backstein-
massiv, da war er Ende Fünfzig. Ein Al-
ter, bis zu dem sich reichlich was ange-
sammelt hat, Kostbares und Kurioses, in
jedem Menschenleben. Ungleich mehr
ist es aber, was sich in so vielen Jahr-
zehnten bei einem Raritätenjäger, Anti-
quitätensammler und tüchtigen Floh-
marktausrichter ansammelt – kurzum:
im Leben des Richard Rode. Seitdem ist
natürlich noch einiges hinzugekommen,
weitere Lagerstätten mussten her, aber
vor allem hat Richard Rode die letzten
15 Jahre damit verbracht, die Dinge zu
ordnen.
Jetzt, da vieles seinen Platz gefunden
hat in den Hallen des alten Kraftwerks –
die handgeschriebenen Urkunden von
„Turnvater Jahn“, die Teller und Tassen
zur Hochzeit von Königin Silvia und
auch die 250 Terrakotta-Krieger, Origi-
nalkopien aus China –, jetzt also lädt
Rode, 72, Altersgenossen aus dem gan-
zen Bundesgebiet ein, um gemeinsam
mit ihm, dem Hausherren, auf Entde-
ckungsreise zu gehen, zurück in vergan-
gene oder auch vergessene Zeiten. Vor-
bei an Vitrinen mit D-Mark-Scheinen
auf rotem Samt, Honecker-Porträts, Kai-
ser-Wilhelm-Büsten. Und weil Rode, Ar-
chitekt, Bauunternehmer und selbst er-
klärter „Erfinder des Hallenflohmarkts
in Deutschland“, immer schon ein findi-
ger Geschäftsmann war, hat er sich et-
was einfallen lassen, um für die Nostal-
gie-Revue zu werben. Er nennt sie: „Ers-
ter Deutscher Senioren-Freizeitpark.“
PR-Leute haben dafür in Rodes Auf-
trag eine Pressemappe zusammenge-
stellt, edles Schwarz mit goldener Rah-
mung. Ihr Titel: „Erster Deutscher Senio-
ren-Freizeitpark“. Viel stand da nicht
drin, unbeantwortet blieb die Frage: Was
soll das sein? Achterbahnfahrten in Zeit-
lupe? Paradiesäpfel zum Auslöffeln? Um-
herspazierende Dornröschen-Figuren,
die Anti-Aging-Tipps geben?
Die Mappe landete in den Postein-
gängen vieler Redaktionen, das kann
man an dem Andrang erkennen, der bei
der Führung für Medienvertreter
herrscht, zur offiziellen Eröffnung des
„Freizeitparks“ am Wochenende. Rode,
dunkelblauer Anzug, Krawatte, emp-
fängt mit Sekt. Er selbst trinkt O-Saft.
Und er ist unumstößlich guter Laune,
selbst dann noch, als der x-te Medien-
vertreter Zweifel an der Genauigkeit des
Namens äußert: Freizeitpark? „Nein,
nein, wir haben hier keine Riesenrutsche
und kein Rumtata – das ist nichts für Se-
nioren“, sagt Rode. Ob dann nicht die
Bezeichnung „Museum“ treffender ge-
wesen wäre, fragt jemand. „Wir sind
kein Museum – im Museum gibt’s keine
Action“, erwidert Rode und zeigt die
Treppe runter, zum Keller. Dort findet
sich die Disko „Graceland“, helle Flie-
sen, Holzverkleidung, der neue Arbeits-
platz eines Elvis-Doubles, das „Love Me
Tender“ singt und „Viva Las Vegas“ und
alles, was die Besucher nach dem Rund-
gang durch die Ausstellung hören möch-
ten. Bei einem Erfrischungsgetränk und,
womöglich, bei einem Tänzchen.
Woher er denn so genau wisse, was
seine Zielgruppe wünscht, fragt ein an-
derer, ob Rode sich habe beraten lassen.
„Da brauch’ ich keinen Rat. Ich selbst
bin Senior, habe im Bekanntenkreis vie-
le Senioren – ich weiß, was die interes-
siert.“ Es sei nämlich so: Die betagten
Leute hätten keine Lust mehr auf die
fünfte, sechste, siebte Brauereibesichti-
gung. „Die wollen sich an ihre Jugend
erinnern, ihre Enkel bei der Hand neh-
men und denen sagen: Guck mal, so und
so war das früher“, sagt Rode, selbst
fünffacher Großvater. Und weil alles Re-
den die Zweifler ja doch nicht umstimmt,
breitet Rode die Arme aus, sagt: „Man
muss den Freizeitpark sehen, um zu wis-
sen, was er ist. Folgen Sie mir!“ – und
schreitet behänd voran, durch die tep-
pichbelegten Flure und Hallen seines
Retro-Reichs.
Die erste Station führt in die Anfänge
der Breitensportbewegung, 19. Jahr-
hundert. „Sportgeschichte ist mein
Steckenpferd“, sagt Rode und er-
zählt ein bisschen was über die Ex-
ponate; darunter Hochräder, Turn-
böcke, ein Paar hochhackiger Ten-
nisschuhe für Damen. Die Wände
sind tapeziert mit Urkunden und
Siegerehrungen. Rode ist sehr
stolz auf all das und eilt
weiter, zur nächsten
Sensation: ein Weih-
nachtscafé. Einfach
so. Rote Kugeln
baumeln vom Ei-
chenschrank, die
Bäume tragen
reichlich Lamet-
ta, auf den Ti-
schen stehen
Nikolausstie-
fel, Kaffee und
Kekse sind
serviert. „Das
kommt jetzt
überraschend, was?“ Richard Rode reibt
sich die Hände und erzählt, dass die
Weihnachtszeit für ihn das Größte ist,
schon immer. „Warum also nicht das
ganze Jahr zur Weihnachtszeit erklären?
Mit Lebkuchen und Pipapo?“ Der Frei-
zeitpark ist Rodes Imperium, hier gelten
seine Regeln.
Ein paar Meter weiter wachen zwei
wuchtige Bronzelöwen grimmigen Bli-
ckes am Aufgang einer Stahltreppe.
Über ihr prangt ein Porträt des großen
Führers Mao Zedong, dahinter fängt
China an. Nicht das China der einge-
sperrten Bürgerrechtler und erschöpften
Bandarbeiter, sondern ein Sehnsuchts-
China, voll echter Harmonie und nach-
gebauter Schreine, Vasen und Gemä-
cher.
„Ni hao“, grüßt die in Glitzer gewan-
dete junge Chinesin im Tempel des Qin
Shihuangdi, des ersten Kaisers
von China. Räucherstäbchen
glimmen, ein marmorner
Riesenbuddha blickt zufrie-
den ins Hallennirvana. Im
spärlich ausgeleuchteten
Nebenraum stehen 250
massive Terrakotta-Solda-
ten in Reih und Glied. Es
tropft von der rissi-
gen Decke auf
die erstarr-
ten Kämp-
fer, Richard Rode ärgert das sehr, aber es
ist diese kleine Widrigkeit, die der skur-
rilen Szenerie auf wundersame Weise
Authentizität verleiht. Es ist, als stünde
man in einer dunklen, feuchten Ausgra-
bungsstätte. Warum eigentlich China?
„Ich war schon oft in China“, sagt Ri-
chard Rode, „aber viele Ältere träumen
ein Leben lang von einer Reise dorthin –
hier können sie sie haben.“
Richard Rode hat kein Problem damit,
von Älteren zu sprechen, wenn er Ältere
meint. Er malt dabei keine Gänsefüß-
chen in die Luft, spricht nicht von der
„Generation 50plus“, von „Silver Sur-
fers“ oder „Best Ager“ – er verleugnet
das Alter und das Altern nicht. Denn mit
dem Alter steigt der Wert – davon ist er
überzeugt. Und weil er sehr viel Altes,
also Wertvolles in seinem Kraftwerk ge-
hortet hat, rechnet er fest mit großem In-
teresse am „Freizeitpark“.
Mit seinen Geschäftsideen hat er oft
richtig gelegen. Aber jetzt geht es nicht
ums Geschäft. Nicht bei einem Eintritts-
preis von 5 Euro, 3 Euro für Gruppenrei-
sende. Jetzt geht es wohl um ihn, Ri-
chard Rode, der sich selbst mit einem
Museum ehrt, in seinem selbst erschaf-
fenen Reich. Weil aber ein Reich kein
Reich ist, wenn es keiner bestaunt, sol-
len nun bitte alle mal herschauen. Und
außerdem zeichnet sich ein Reich ja
auch durch fortwährende Expansion aus:
„Ich bin auf der Suche nach einem
weiteren Objekt“, sagt Richard
Rode, „vielleicht ein kleines
Schloss in Ostdeutschland,
in dem ich weitere Teile
meiner Sammlung ausstel-
len könnte.“
Ein 72-Jähriger meint ziemlich genau zu wissen, was seine Altersgenossen wünschen – und eröffnet einen „Freizeitpark für Senioren“
Von Marina KorMbaKi
Der „Senioren-Freizeitpark“ ist ein Parcours durch die Geschichte: Ein freundlicher Volkspolizist bewacht den DDR-Abschnitt,
Mao heißt die Besucher in der China-Sammlung willkommen, für Kaiser Wilhelm II. ist ein ruhiges Plätzchen vorgesehen, und Sport wird auch gewürdigt.
„Wenn das Baby nicht gesund ist, gibt es oft kein Geld“
Bangkok. Die Wogen kochen hoch bei
diesem Thema, weltweit ist die Empö-
rung groß. Eine thailändische Leihmut-
ter, die im Dezember Zwillinge zur Welt
gebracht hatte, sprach schwere Anschul-
digungen gegen ihre Auftraggeber aus –
ein australisches Ehepaar. Angeblich ha-
ben die beiden das eine Kind, ein Mäd-
chen, angenommen, das andere aber, ei-
nen am Downsyndrom leidenden
Jungen, bei der Leihmutter zurückgelas-
sen. Das Kind ist schwer krank und
braucht Herzoperationen, die 21-jährige
Leihmutter Pattaramon aber sah sich
nicht imstande, die dafür nötigen 15 000
Euro aufzubringen. Inzwischen aber
wurden Spenden zusammengetragen,
die Behandlung wird damit möglich.
Lange Zeit war nicht klar, wer die
leiblichen Eltern des behinderten Jun-
gen, der Gammy heißt, tatsächlich sind.
Am Montag nun wurden sie gefunden –
und der Vater behauptet, von der Exis-
tenz des zweiten Babys gar nichts ge-
wusst zu haben. „Wir hatten keine Ah-
nung von dem behinderten Zwillings-
bruder“, behauptet der in Westaustralien
lebende leibliche Vater des sechsmona-
tigen Säuglings. Journalisten hatten ihn
und seine Ehefrau aufgespürt. Doch den
Vorwurf, den kranken Säugling zurück-
gelassen und nur die gesunde Zwillings-
schwester nach Australien mitgenom-
men zu haben, weist der Mann strikt zu-
rück. Die thailändische Leihmutter Pat-
taramon widerspricht ihm: „Er war doch
mehrmals im Krankenhaus, hat sich um
die gesunde Zwillingsschwester geküm-
mert – aber Gammy nie angesehen“, er-
zählt die 21-Jährige. Sie aber erklärt
auch, die leiblichen Eltern nie getroffen
zu haben.
Je mehr über den Fall bekannt wird,
umso undurchsichtiger erscheinen die
Hintergründe. Leihmutter Pattaramon,
die sich für das noch anonyme Paar im
Westen Australiens künstlich befruchten
ließ, wird mittlerweile hermetisch von
den Ärzten des Samitivej Sriracha Hos-
pitals in ihrer Heimatstadt Chonburi ab-
geriegelt. Sie hat erklärt, das Baby auf
jeden Fall behalten zu wollen.
Auf der Website der Vermittlungs-
agentur Weneedbaby.com in Thailand
gibt es immer noch Schwangerschafts-
tests im Sonderangebot. Aber prechara-
tea-at-hotmail-dot-com antwortet nicht
mehr unter der Telefonnummer, die in
einer Anzeige angegeben war. „Brau-
chen Surrogatmutter“, lautete der Text
der Agentur, die angeblich in den Fall
Gammy verwickelt war, „20 bis 35 Jahre
alt, nicht zu fett, vorhandene Kinder
nicht älter als zehn Jahre, Bezahlung
455 000 Baht (etwa 11 000 Euro)“.
Es ist eine von vielen Annoncen, die
in Thailand kursieren. Nicht einmal der
Skandal um den kleinen Gammy scheint
die Geschäfte zu stören. Bei New Life
Asia (newlifeasia.net) wirbt weiter eine
Mariam Kukunashvili samt Mail-Adres-
se aus Indien und Telefonnummer in
Thailand Surrogatmütter an und offeriert
ihre Dienste für interessierte Paare. Die
33-jährige Thailänderin Yechiela, die
sich lange vor dem Gammy-Skandal für
einen Zusatzverdienst als Leihmutter in-
teressierte, berichtet gegenüber dieser
Zeitung über die Warnung einer künst-
lich befruchteten, im dritten Monat
schwangeren Frau: „Es ist nicht immer
einfach. Wenn das Baby nicht gesund
ist, gibt es oft kein Geld.“ Ob es sich bei
dem Säugling Gammy um ein solches
„schlechtes Beispiel“ handelt, ist ange-
sichts der widersprüchlichen Informatio-
nen gegenwärtig unklar.
Das internationale Ge-
schäft mit Leihmüttern exis-
tiert häufig am Rande der
Legalität und ohne Versi-
cherungsschutz. Thailand
und der mexikanische Bun-
desstaat Tabasco haben sich zu neuen
Anlaufstellen entwickelt, seitdem Indien
die 3000 „Baby-Fabriken“ des Landes –
mit einem bis zwei Milliarden US-Dollar
geschätzten Umsatz – stärker reguliert.
Die häufigsten Kunden sind im südost-
asiatischen Thailand Australier und auch
immer mehr US-Bürger.
Nicht alle Schwangerschaften schei-
nen so reibungslos abzulaufen wie von
Interessengruppen oft dargestellt. In
Australien entfachte der Fall bereits eine
hitzige Diskussion. Paare, die bereits ge-
zahlt haben und auf die Geburt des Kin-
des in Thailand warten, fürchten sich in-
zwischen vor dem Gesetzgeber. Ihre Sor-
ge: Canberra könnte mit neuen Regeln
die „Übernahme“ der Babys aus der Re-
torte unterbinden.
Gammys Zukunft, dessen Surrogat-
mutter unverhofft zur tatsächlichen Mut-
ter geworden ist, scheint zumindest fi-
nanziell abgesichert zu sein. Mittlerwei-
le sind aus aller Welt mehr als 206 000
US-Dollar auf einem austra-
lischen Spendenkonto ein-
getroffen. Mit dem Geld sol-
len die künftig nötigen
Herzoperationen des Jun-
gen bezahlt werden.
In Deutschland sind Leih-
mutter-Geschäfte verboten. Beim Aus-
wärtigen Amt heißt es: „Leihmutter-
schaftsverträge, in denen sich eine Frau
bereit erklärt, sich einer künstlichen
oder natürlichen Befruchtung zu unter-
ziehen oder einen nicht von ihr stam-
menden Embryo auf sich übertragen zu
lassen oder sonst auszutragen, sind in
Deutschland sittenwidrig und damit
nichtig.“ Wenn sich dennoch Deutsche
auf diesen Weg begeben, dann nur ver-
deckt: Die deutschen Behörden dürfen
davon nichts wissen.
Der aufsehenerregende Fall eines behinderten Säuglings in Thailand zeigt, wie fragwürdig das Geschäft mit Leihmüttern geworden ist
Von Willi GerMund
und Christiane oelriCh
Die thailändische Leihmutter Pattaramon will Säugling Gammy nun behalten. Foto: dpa
Spender geben
Geld für nötige
Operationen
„Nostalgie zieht immer“
Herr Meyer-Hentschel, immer
mehr Unternehmen entdecken
Seniorenmarketing für sich –
die ausdrückliche Ansprache
älterer Käufergruppen. Lohnt
sich der Aufwand?
Ja, denn die Zahl älterer Men-
schen nimmt von Jahr zu Jahr
zu. Es ist eine Gruppe mit viel
freier Zeit und einem derzeit
recht ordentlichen finanziellen
Auskommen. Daran knüpfen
schon heute viele Branchen
an.
Welche Branchen setzen auf
Senioren?
Vor allem im touristischen Bereich sind
Senioren eine sehr geschätzte Kunden-
gruppe. Aber auch klassische Freizeit-
einrichtungen wie Schwimmbäder be-
mühen sich um ältere Menschen – vom
kommunalen Hallenbad bis zum Erleb-
nisbad. Weil sich aber Freizeit im Alter
anders definiert als bei Jün-
geren, die damit vor allem Er-
holung von einem spannungs-
reichen Arbeitstag verbinden,
steht bei Freizeitangeboten
für Senioren nicht die Ent-
spannung im Vordergrund –
sondern der Austausch mit
anderen. Es ist kein Zufall,
dass in den Cafés des Möbel-
hauses Ikea sehr viele Senio-
ren anzutreffen sind. Dort fin-
den sie Geselligkeit, und ein
solches Angebot versucht
jetzt auch der Handel nach-
zuahmen.
Wollen Senioren eigentlich als „Senioren“
angesprochen werden oder sollte man
Ihnen lieber nicht damit kommen?
Lieber nicht. Ältere Menschen fühlen
sich von diesem Wort nicht angespro-
chen. Und wenn doch, dann erst ab Mit-
te Siebzig und nur, wenn es für sie von
Vorteil ist; etwa wenn sie als „Senior“ ei-
nen Rabatt oder einen Gewinn erhalten.
Senioren schätzen Höflichkeit – und
zwar nicht nur verbal, sondern auch in
der Bedienungsfreundlichkeit von Pro-
dukten oder der Architektur von Gastro-
nomie. Ein Restaurant, dessen Eingangs-
tür schwer ist und sich nur nach außen
hin öffnen lässt, gibt älteren Menschen
das Gefühl, sie seien nicht willkommen.
Taugt Nostalgie zum Instrument fürs
Seniorenmarketing?
An Nostalgie-Erlebnisse zu appellieren
ist eine sichere Marketingstrategie. Blitz-
schnell stellt sich da ein gutes Gefühl
ein, man kennt sich aus, weiß Bescheid.
Die meisten Menschen verklären ja die
Vergangenheit zu etwas Wunderbarem
und blenden viel Negatives aus. Da sind
für Werber die zurückliegenden Jahr-
zehnte ein Riesenfundus.
Interview: Marina Kormbaki
Nachgefragt ...
... bei Gundolf
Meyer-Hentschel,
Marktforscher mit
Schwerpunkt Se-
niorenmarketing.
„Das kommt überraschend,
was?“: Richard Rode er-
füllt sich einen Lebens-
traum. Fotos: Kormbaki/dpa
BLICK IN DIE ZEIT 3HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG |NR. 180 | DIENSTAG, 5. AUGUST 2014

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  • 1. Herr Rode und das Paradies der Erinnerung Borken. Fünfzehntausend Quadratme- ter für eine Person. Das ist viel Platz. Aber noch immer nicht genug, um das Leben des Richard Rode aus Northeim in Südniedersachsen zu fassen, seine Lei- denschaften und Erinnerungen. Fünfzehntausend Quadratmeter – so viel misst das alte, seit Jahrzehnten schon stillgelegte Braunkohlekraftwerk im hessischen Borken. Für ein paar sym- bolische D-Mark kaufte Richard Rode vor 15 Jahren das morsche Backstein- massiv, da war er Ende Fünfzig. Ein Al- ter, bis zu dem sich reichlich was ange- sammelt hat, Kostbares und Kurioses, in jedem Menschenleben. Ungleich mehr ist es aber, was sich in so vielen Jahr- zehnten bei einem Raritätenjäger, Anti- quitätensammler und tüchtigen Floh- marktausrichter ansammelt – kurzum: im Leben des Richard Rode. Seitdem ist natürlich noch einiges hinzugekommen, weitere Lagerstätten mussten her, aber vor allem hat Richard Rode die letzten 15 Jahre damit verbracht, die Dinge zu ordnen. Jetzt, da vieles seinen Platz gefunden hat in den Hallen des alten Kraftwerks – die handgeschriebenen Urkunden von „Turnvater Jahn“, die Teller und Tassen zur Hochzeit von Königin Silvia und auch die 250 Terrakotta-Krieger, Origi- nalkopien aus China –, jetzt also lädt Rode, 72, Altersgenossen aus dem gan- zen Bundesgebiet ein, um gemeinsam mit ihm, dem Hausherren, auf Entde- ckungsreise zu gehen, zurück in vergan- gene oder auch vergessene Zeiten. Vor- bei an Vitrinen mit D-Mark-Scheinen auf rotem Samt, Honecker-Porträts, Kai- ser-Wilhelm-Büsten. Und weil Rode, Ar- chitekt, Bauunternehmer und selbst er- klärter „Erfinder des Hallenflohmarkts in Deutschland“, immer schon ein findi- ger Geschäftsmann war, hat er sich et- was einfallen lassen, um für die Nostal- gie-Revue zu werben. Er nennt sie: „Ers- ter Deutscher Senioren-Freizeitpark.“ PR-Leute haben dafür in Rodes Auf- trag eine Pressemappe zusammenge- stellt, edles Schwarz mit goldener Rah- mung. Ihr Titel: „Erster Deutscher Senio- ren-Freizeitpark“. Viel stand da nicht drin, unbeantwortet blieb die Frage: Was soll das sein? Achterbahnfahrten in Zeit- lupe? Paradiesäpfel zum Auslöffeln? Um- herspazierende Dornröschen-Figuren, die Anti-Aging-Tipps geben? Die Mappe landete in den Postein- gängen vieler Redaktionen, das kann man an dem Andrang erkennen, der bei der Führung für Medienvertreter herrscht, zur offiziellen Eröffnung des „Freizeitparks“ am Wochenende. Rode, dunkelblauer Anzug, Krawatte, emp- fängt mit Sekt. Er selbst trinkt O-Saft. Und er ist unumstößlich guter Laune, selbst dann noch, als der x-te Medien- vertreter Zweifel an der Genauigkeit des Namens äußert: Freizeitpark? „Nein, nein, wir haben hier keine Riesenrutsche und kein Rumtata – das ist nichts für Se- nioren“, sagt Rode. Ob dann nicht die Bezeichnung „Museum“ treffender ge- wesen wäre, fragt jemand. „Wir sind kein Museum – im Museum gibt’s keine Action“, erwidert Rode und zeigt die Treppe runter, zum Keller. Dort findet sich die Disko „Graceland“, helle Flie- sen, Holzverkleidung, der neue Arbeits- platz eines Elvis-Doubles, das „Love Me Tender“ singt und „Viva Las Vegas“ und alles, was die Besucher nach dem Rund- gang durch die Ausstellung hören möch- ten. Bei einem Erfrischungsgetränk und, womöglich, bei einem Tänzchen. Woher er denn so genau wisse, was seine Zielgruppe wünscht, fragt ein an- derer, ob Rode sich habe beraten lassen. „Da brauch’ ich keinen Rat. Ich selbst bin Senior, habe im Bekanntenkreis vie- le Senioren – ich weiß, was die interes- siert.“ Es sei nämlich so: Die betagten Leute hätten keine Lust mehr auf die fünfte, sechste, siebte Brauereibesichti- gung. „Die wollen sich an ihre Jugend erinnern, ihre Enkel bei der Hand neh- men und denen sagen: Guck mal, so und so war das früher“, sagt Rode, selbst fünffacher Großvater. Und weil alles Re- den die Zweifler ja doch nicht umstimmt, breitet Rode die Arme aus, sagt: „Man muss den Freizeitpark sehen, um zu wis- sen, was er ist. Folgen Sie mir!“ – und schreitet behänd voran, durch die tep- pichbelegten Flure und Hallen seines Retro-Reichs. Die erste Station führt in die Anfänge der Breitensportbewegung, 19. Jahr- hundert. „Sportgeschichte ist mein Steckenpferd“, sagt Rode und er- zählt ein bisschen was über die Ex- ponate; darunter Hochräder, Turn- böcke, ein Paar hochhackiger Ten- nisschuhe für Damen. Die Wände sind tapeziert mit Urkunden und Siegerehrungen. Rode ist sehr stolz auf all das und eilt weiter, zur nächsten Sensation: ein Weih- nachtscafé. Einfach so. Rote Kugeln baumeln vom Ei- chenschrank, die Bäume tragen reichlich Lamet- ta, auf den Ti- schen stehen Nikolausstie- fel, Kaffee und Kekse sind serviert. „Das kommt jetzt überraschend, was?“ Richard Rode reibt sich die Hände und erzählt, dass die Weihnachtszeit für ihn das Größte ist, schon immer. „Warum also nicht das ganze Jahr zur Weihnachtszeit erklären? Mit Lebkuchen und Pipapo?“ Der Frei- zeitpark ist Rodes Imperium, hier gelten seine Regeln. Ein paar Meter weiter wachen zwei wuchtige Bronzelöwen grimmigen Bli- ckes am Aufgang einer Stahltreppe. Über ihr prangt ein Porträt des großen Führers Mao Zedong, dahinter fängt China an. Nicht das China der einge- sperrten Bürgerrechtler und erschöpften Bandarbeiter, sondern ein Sehnsuchts- China, voll echter Harmonie und nach- gebauter Schreine, Vasen und Gemä- cher. „Ni hao“, grüßt die in Glitzer gewan- dete junge Chinesin im Tempel des Qin Shihuangdi, des ersten Kaisers von China. Räucherstäbchen glimmen, ein marmorner Riesenbuddha blickt zufrie- den ins Hallennirvana. Im spärlich ausgeleuchteten Nebenraum stehen 250 massive Terrakotta-Solda- ten in Reih und Glied. Es tropft von der rissi- gen Decke auf die erstarr- ten Kämp- fer, Richard Rode ärgert das sehr, aber es ist diese kleine Widrigkeit, die der skur- rilen Szenerie auf wundersame Weise Authentizität verleiht. Es ist, als stünde man in einer dunklen, feuchten Ausgra- bungsstätte. Warum eigentlich China? „Ich war schon oft in China“, sagt Ri- chard Rode, „aber viele Ältere träumen ein Leben lang von einer Reise dorthin – hier können sie sie haben.“ Richard Rode hat kein Problem damit, von Älteren zu sprechen, wenn er Ältere meint. Er malt dabei keine Gänsefüß- chen in die Luft, spricht nicht von der „Generation 50plus“, von „Silver Sur- fers“ oder „Best Ager“ – er verleugnet das Alter und das Altern nicht. Denn mit dem Alter steigt der Wert – davon ist er überzeugt. Und weil er sehr viel Altes, also Wertvolles in seinem Kraftwerk ge- hortet hat, rechnet er fest mit großem In- teresse am „Freizeitpark“. Mit seinen Geschäftsideen hat er oft richtig gelegen. Aber jetzt geht es nicht ums Geschäft. Nicht bei einem Eintritts- preis von 5 Euro, 3 Euro für Gruppenrei- sende. Jetzt geht es wohl um ihn, Ri- chard Rode, der sich selbst mit einem Museum ehrt, in seinem selbst erschaf- fenen Reich. Weil aber ein Reich kein Reich ist, wenn es keiner bestaunt, sol- len nun bitte alle mal herschauen. Und außerdem zeichnet sich ein Reich ja auch durch fortwährende Expansion aus: „Ich bin auf der Suche nach einem weiteren Objekt“, sagt Richard Rode, „vielleicht ein kleines Schloss in Ostdeutschland, in dem ich weitere Teile meiner Sammlung ausstel- len könnte.“ Ein 72-Jähriger meint ziemlich genau zu wissen, was seine Altersgenossen wünschen – und eröffnet einen „Freizeitpark für Senioren“ Von Marina KorMbaKi Der „Senioren-Freizeitpark“ ist ein Parcours durch die Geschichte: Ein freundlicher Volkspolizist bewacht den DDR-Abschnitt, Mao heißt die Besucher in der China-Sammlung willkommen, für Kaiser Wilhelm II. ist ein ruhiges Plätzchen vorgesehen, und Sport wird auch gewürdigt. „Wenn das Baby nicht gesund ist, gibt es oft kein Geld“ Bangkok. Die Wogen kochen hoch bei diesem Thema, weltweit ist die Empö- rung groß. Eine thailändische Leihmut- ter, die im Dezember Zwillinge zur Welt gebracht hatte, sprach schwere Anschul- digungen gegen ihre Auftraggeber aus – ein australisches Ehepaar. Angeblich ha- ben die beiden das eine Kind, ein Mäd- chen, angenommen, das andere aber, ei- nen am Downsyndrom leidenden Jungen, bei der Leihmutter zurückgelas- sen. Das Kind ist schwer krank und braucht Herzoperationen, die 21-jährige Leihmutter Pattaramon aber sah sich nicht imstande, die dafür nötigen 15 000 Euro aufzubringen. Inzwischen aber wurden Spenden zusammengetragen, die Behandlung wird damit möglich. Lange Zeit war nicht klar, wer die leiblichen Eltern des behinderten Jun- gen, der Gammy heißt, tatsächlich sind. Am Montag nun wurden sie gefunden – und der Vater behauptet, von der Exis- tenz des zweiten Babys gar nichts ge- wusst zu haben. „Wir hatten keine Ah- nung von dem behinderten Zwillings- bruder“, behauptet der in Westaustralien lebende leibliche Vater des sechsmona- tigen Säuglings. Journalisten hatten ihn und seine Ehefrau aufgespürt. Doch den Vorwurf, den kranken Säugling zurück- gelassen und nur die gesunde Zwillings- schwester nach Australien mitgenom- men zu haben, weist der Mann strikt zu- rück. Die thailändische Leihmutter Pat- taramon widerspricht ihm: „Er war doch mehrmals im Krankenhaus, hat sich um die gesunde Zwillingsschwester geküm- mert – aber Gammy nie angesehen“, er- zählt die 21-Jährige. Sie aber erklärt auch, die leiblichen Eltern nie getroffen zu haben. Je mehr über den Fall bekannt wird, umso undurchsichtiger erscheinen die Hintergründe. Leihmutter Pattaramon, die sich für das noch anonyme Paar im Westen Australiens künstlich befruchten ließ, wird mittlerweile hermetisch von den Ärzten des Samitivej Sriracha Hos- pitals in ihrer Heimatstadt Chonburi ab- geriegelt. Sie hat erklärt, das Baby auf jeden Fall behalten zu wollen. Auf der Website der Vermittlungs- agentur Weneedbaby.com in Thailand gibt es immer noch Schwangerschafts- tests im Sonderangebot. Aber prechara- tea-at-hotmail-dot-com antwortet nicht mehr unter der Telefonnummer, die in einer Anzeige angegeben war. „Brau- chen Surrogatmutter“, lautete der Text der Agentur, die angeblich in den Fall Gammy verwickelt war, „20 bis 35 Jahre alt, nicht zu fett, vorhandene Kinder nicht älter als zehn Jahre, Bezahlung 455 000 Baht (etwa 11 000 Euro)“. Es ist eine von vielen Annoncen, die in Thailand kursieren. Nicht einmal der Skandal um den kleinen Gammy scheint die Geschäfte zu stören. Bei New Life Asia (newlifeasia.net) wirbt weiter eine Mariam Kukunashvili samt Mail-Adres- se aus Indien und Telefonnummer in Thailand Surrogatmütter an und offeriert ihre Dienste für interessierte Paare. Die 33-jährige Thailänderin Yechiela, die sich lange vor dem Gammy-Skandal für einen Zusatzverdienst als Leihmutter in- teressierte, berichtet gegenüber dieser Zeitung über die Warnung einer künst- lich befruchteten, im dritten Monat schwangeren Frau: „Es ist nicht immer einfach. Wenn das Baby nicht gesund ist, gibt es oft kein Geld.“ Ob es sich bei dem Säugling Gammy um ein solches „schlechtes Beispiel“ handelt, ist ange- sichts der widersprüchlichen Informatio- nen gegenwärtig unklar. Das internationale Ge- schäft mit Leihmüttern exis- tiert häufig am Rande der Legalität und ohne Versi- cherungsschutz. Thailand und der mexikanische Bun- desstaat Tabasco haben sich zu neuen Anlaufstellen entwickelt, seitdem Indien die 3000 „Baby-Fabriken“ des Landes – mit einem bis zwei Milliarden US-Dollar geschätzten Umsatz – stärker reguliert. Die häufigsten Kunden sind im südost- asiatischen Thailand Australier und auch immer mehr US-Bürger. Nicht alle Schwangerschaften schei- nen so reibungslos abzulaufen wie von Interessengruppen oft dargestellt. In Australien entfachte der Fall bereits eine hitzige Diskussion. Paare, die bereits ge- zahlt haben und auf die Geburt des Kin- des in Thailand warten, fürchten sich in- zwischen vor dem Gesetzgeber. Ihre Sor- ge: Canberra könnte mit neuen Regeln die „Übernahme“ der Babys aus der Re- torte unterbinden. Gammys Zukunft, dessen Surrogat- mutter unverhofft zur tatsächlichen Mut- ter geworden ist, scheint zumindest fi- nanziell abgesichert zu sein. Mittlerwei- le sind aus aller Welt mehr als 206 000 US-Dollar auf einem austra- lischen Spendenkonto ein- getroffen. Mit dem Geld sol- len die künftig nötigen Herzoperationen des Jun- gen bezahlt werden. In Deutschland sind Leih- mutter-Geschäfte verboten. Beim Aus- wärtigen Amt heißt es: „Leihmutter- schaftsverträge, in denen sich eine Frau bereit erklärt, sich einer künstlichen oder natürlichen Befruchtung zu unter- ziehen oder einen nicht von ihr stam- menden Embryo auf sich übertragen zu lassen oder sonst auszutragen, sind in Deutschland sittenwidrig und damit nichtig.“ Wenn sich dennoch Deutsche auf diesen Weg begeben, dann nur ver- deckt: Die deutschen Behörden dürfen davon nichts wissen. Der aufsehenerregende Fall eines behinderten Säuglings in Thailand zeigt, wie fragwürdig das Geschäft mit Leihmüttern geworden ist Von Willi GerMund und Christiane oelriCh Die thailändische Leihmutter Pattaramon will Säugling Gammy nun behalten. Foto: dpa Spender geben Geld für nötige Operationen „Nostalgie zieht immer“ Herr Meyer-Hentschel, immer mehr Unternehmen entdecken Seniorenmarketing für sich – die ausdrückliche Ansprache älterer Käufergruppen. Lohnt sich der Aufwand? Ja, denn die Zahl älterer Men- schen nimmt von Jahr zu Jahr zu. Es ist eine Gruppe mit viel freier Zeit und einem derzeit recht ordentlichen finanziellen Auskommen. Daran knüpfen schon heute viele Branchen an. Welche Branchen setzen auf Senioren? Vor allem im touristischen Bereich sind Senioren eine sehr geschätzte Kunden- gruppe. Aber auch klassische Freizeit- einrichtungen wie Schwimmbäder be- mühen sich um ältere Menschen – vom kommunalen Hallenbad bis zum Erleb- nisbad. Weil sich aber Freizeit im Alter anders definiert als bei Jün- geren, die damit vor allem Er- holung von einem spannungs- reichen Arbeitstag verbinden, steht bei Freizeitangeboten für Senioren nicht die Ent- spannung im Vordergrund – sondern der Austausch mit anderen. Es ist kein Zufall, dass in den Cafés des Möbel- hauses Ikea sehr viele Senio- ren anzutreffen sind. Dort fin- den sie Geselligkeit, und ein solches Angebot versucht jetzt auch der Handel nach- zuahmen. Wollen Senioren eigentlich als „Senioren“ angesprochen werden oder sollte man Ihnen lieber nicht damit kommen? Lieber nicht. Ältere Menschen fühlen sich von diesem Wort nicht angespro- chen. Und wenn doch, dann erst ab Mit- te Siebzig und nur, wenn es für sie von Vorteil ist; etwa wenn sie als „Senior“ ei- nen Rabatt oder einen Gewinn erhalten. Senioren schätzen Höflichkeit – und zwar nicht nur verbal, sondern auch in der Bedienungsfreundlichkeit von Pro- dukten oder der Architektur von Gastro- nomie. Ein Restaurant, dessen Eingangs- tür schwer ist und sich nur nach außen hin öffnen lässt, gibt älteren Menschen das Gefühl, sie seien nicht willkommen. Taugt Nostalgie zum Instrument fürs Seniorenmarketing? An Nostalgie-Erlebnisse zu appellieren ist eine sichere Marketingstrategie. Blitz- schnell stellt sich da ein gutes Gefühl ein, man kennt sich aus, weiß Bescheid. Die meisten Menschen verklären ja die Vergangenheit zu etwas Wunderbarem und blenden viel Negatives aus. Da sind für Werber die zurückliegenden Jahr- zehnte ein Riesenfundus. Interview: Marina Kormbaki Nachgefragt ... ... bei Gundolf Meyer-Hentschel, Marktforscher mit Schwerpunkt Se- niorenmarketing. „Das kommt überraschend, was?“: Richard Rode er- füllt sich einen Lebens- traum. Fotos: Kormbaki/dpa BLICK IN DIE ZEIT 3HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG |NR. 180 | DIENSTAG, 5. AUGUST 2014