1. Der Irrsinn ist amtlich
Eine kurze Geschichte über Bürokratie und der nicht mehr ganz neuen Idee, sie abzubauen
Das Antragsformular ist säuberlich ausgefüllt, natürlich nur in den vorgegebenen Feldern und
in ordentlichen Druckbuchstaben. Alle erforderlichen Dokumente, Bescheinigungen und
Durchschläge liegen anbei. Den Vormittag hat sich der gewissenhafte Bürger in weiser
Voraussicht für seinen Ämtergang freigenommen, denn um die Uhrzeit, wenn die Staatsdiener
erholt ihr Tagwerk beginnen und sich noch keine Warteschlangen vor den Amtsstuben
gebildet haben, sollte es doch eigentlich schnell erledigt sein… Spätestens an dieser Stelle
wird unser wackerer Bürger jedoch feststellen, was verwaltungstechnische Formalitäten im
deutschen Behördenwesen tatsächlich bedeuten.
Die Bundesrepublik ist fest in der Hand der Bürokratie. Denn Ordnung muss sein, schließlich
sind wir in der ganzen Welt für unseren Beamtenstaat berühmt. Also: Ohne Formular keinen
Antrag, ohne Antrag keine Genehmigung, ohne Genehmigung kein gar nichts. Und Sie haben
doch vorher hoffentlich eine Nummer gezogen, damit Sie auch wissen, wann Sie an der Reihe
sind? Die Suche nach der richtigen Behörde und dem zuständigen Beamten führt so manchen
Antragssteller an den Rand der Verzweiflung. Glücklich, wer mit der richtigen Strategie dem
Bürokratiewahnsinn zu trotzen vermag.
Die Beamtenherrschaft ein rein teutonisches Phänomen? Der Passierschein A38 belegt das
Gegenteil schwarz auf weiß, zumindest im Comic. Daher ein kleiner Rückblick in die Jugend.
Oder auf Youtube – ist beides genehmigt. In dem französischen Zeichentrickfilm „Asterix
erobert Rom“ von 1976 müssen der gallische Titelheld und sein Freund Obelix zwölf
2. „Der Irrsinn ist amtlich“ Essay, 2009 Fiona Pröll
2
Aufgaben erfüllen, um ihr Dorf vor der Übernahme durch Julius Caesar zu schützen. In der
Präfektur, dem „Haus, das Verrückte macht“, gilt es, den besagten Passierschein zu besorgen.
Dafür sind zuvor andere Formulare nötig, für die teilweise wiederum weitere Formulare
gebraucht werden. Gewöhnlich müssen sich die Antragsteller auf eine lange Wanderung von
Pontius zu Pilatus machen, bis sie durch den Behördengang allmählich den Verstand
verlieren. Asterix und Obelix schlagen die Beamten jedoch mit ihren eigenen Waffen, indem
sie diese selbst zur Suche nach einem angeblich neu eingeführten Formular veranlassen.
Dass nicht jeder Kampf gegen die Bürokratie von Erfolg gekrönt ist, schildert eines der
größten Werke der Weltliteratur. Nein, alles was recht ist, hier sprechen wir nicht vom
„Lustigen Taschenbuch“ über Mickey Maus‘ „Abenteuer in Absurdistan“ von 1993. In „Der
Process“ wird Josef K. scheinbar grundlos verhaftet. Die Umstände sind grotesk, niemand
kennt das Gesetz, sodass der Protagonist in ein albtraumhaftes Labyrinth einer surrealen
Bürokratie gerät. Josef versucht, sich gegen die zunehmende Absurdität zu wehren. Obgleich
er einiges über die Hierarchiestrukturen, worin er gefangen ist, lernt, werden seine
Anstrengungen gegen das System letztlich vergebens sein. Franz Kafka, der als Beamter in
der halbstaatlichen „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“
arbeitete, kannte den Bürokratiealltag aus eigener Erfahrung.
Überhaupt scheint es recht und billig, den Amtsschimmel als literarisches Sujet einzuspannen.
So ist England in Charles Dickens‘ Roman „Little Dorrit“ fest unter der Herrschaft der
Barnacle-Sippe. Deren Machtzentrum ist das „Circumlocution Office“, auf Deutsch soviel
wie „Komplikationsamt“. Diese Behörde hat als einzige Aufgabe, den Fortschritt wie auch
jede andere Form von Tätigkeiten schon im Keim zu ersticken. Auf fade Beamtenwitze soll
an der Stelle verzichtet werden.
3. „Der Irrsinn ist amtlich“ Essay, 2009 Fiona Pröll
3
Die Bezeichnung bureaucratie hat übrigens der Franzose Vincent de Gournay im 18.
Jahrhundert erfunden. Schon kurz darauf wurde das Wort auch jenseits des Hexagons
geläufig. 1922 legte der Soziologe Max Weber eine wissenschaftliche Definition der
Bürokratie in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ vor. Demnach machen festgelegte
Arbeitsteilung, hierarchische Strukturen, Aktenführung sowie Regelungen ein schnödes
Verwaltungssystem zur amtlichen Schreibstubenherrschaft.
So leben wir nun in einem Paragraphendschungel. 85000 Gesetze und Verordnungen regeln in
der BRD unseren Alltag. Natürlich sind in jedem modernen Staat Vorschriften nötig, natürlich
ist Handeln ohne gesetzliche Grundlage rechtswidrig und natürlich muss in der Legislative
auch der Einzelfall durch Sonderregelungen berücksichtigt werden. Trotzdem kommt unser
erschöpfter Antragssteller von vorhin ebenso wie die Unions-Arbeitsgruppe Bürokratie-
Abbau im Bundestag zu der Erkenntnis: Mehr als die Hälfte der Vorschriften sind überflüssig.
Als 2003 das Saarland 4000 Verordnungen strich, fielen niemandem die fehlenden
Paragraphen auf. Ein deutliches Zeichen, dass auch ohne zuvor erteilte Ausreisegenehmigung
ein Entkommen aus Absurdistan möglich ist.
So innovativ die kritischen Stimmen klingen, Bürokratieabbau ist keineswegs solch eine
neuartige Erfindung, wie uns viele Politiker weismachen wollen. Genau genommen gibt es
Bemühungen um eine Vereinfachung der Verordnungen seitdem moderne Staaten mit
komplexen Rechtssystemen existieren. Schon Reichskanzler Theobald von Bethmann
Hollweg pochte auf eine „Lockerung aller bürokratischer Fesseln“. Und auch Altkanzler
Helmut Kohl wollte sich auf die gewagte Expedition begeben, den „Rechts- und
Vorschriftendschungel zu durchforsten und zu lichten“. Die „Regulierungswut“, wie sie
Bundespräsident Roman Herzog formulierte, blieb jedoch ungebremst. Deshalb erfüllt die
Entbürokratisierung heute noch ihren Zweck als Regierungsversprechen und Parteiprogramm.
Nachdem aus der Agenda 2010 das „Gesetz zur Umsetzung von Vorschlägen zu
4. „Der Irrsinn ist amtlich“ Essay, 2009 Fiona Pröll
4
Bürokratieabbau und Deregulierung“ hervorging, darf der geneigte Bürger auf weitere
Angriffe auf die verklausulierte Hydra gespannt sein.
Die Stilblüten, die das Amtsdeutsch zuweilen hervorbringt, können da nur als kleine
Wiedergutmachung dienen. Denn oft fällt es einem im Paragraphendschungel schwer, die
„forstwirtschaftliche Nutzfläche“ vor lauter „raumübergreifendem Großgrün“ zu sehen. Sie
wissen schon.
Fiona Pröll