Vortrag von Prof. Dr. Herbert Brücker, IAB und Universität Bamberg anlässlich der Fachtagung der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Fraktion, Berlin, 21. März 2011
2. Einleitung Im gegenwärtigen Aufschwung steigt das Verhältnis von offenen Stellen zu Arbeitslosen deutlich Das Erwerbspersonenpotenzial wird in DE ohne Zuwanderung von 45 Millionen auf 27 bis 29 Millionen Personen im Jahr 2050 sinken Das Wanderungssaldo ist in Deutschland in den letzten fünf Jahren auf Null gesunken Die vorliegenden Zahlen deuten darauf hin, dass Deutschland durch Migration mehr Hochschulabsolventen verliert als gewinnt
3. Dieser Vortrag Diskutiert die Folgen des kurzfristigen Fachkräftebedarfs und des langfristigen Rückgangs des Erwerbspersonenpotenzials Untersucht die deutsche Wanderungsbilanz und ihre Ursachen vor dem Hintergrund internationaler Erfahrungen und neuer Forschungserkenntnisse Diskutiert die Handlungsoptionen für eine Verbesserung der Wanderungsbilanz und eine nachhaltige Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials durch Zuwanderung
5. 1. Kurzfristiger Fachkräftebedarf und Mismatch Zwischen dem langfristigen Fachkräftebedarf und kurzfristigen Fachkräftelücken („Mismatch“) ist zu unterscheiden Im vierten Quartal 2010 standen 996.000 offenen Stellen (+25%) rund 2.9 Millionen Arbeitslose und 4 Millionen Unterbeschäftigte gegenüber Dieses Verhältnis wird sich weiter verbessern, so dass in vielen Regionen, Sektoren und Berufen Stellen nicht oder nur nach langen Vakanzen besetzt werden können Es handelt sich allerdings überwiegend um ein konjunkturelles Phänomen, das Erwerbspersonenpotential erreicht gerade seinen demographischen Höhepunkt
6. 2. Langfristiger Fachkräftebedarf und demographischer Wandel Langfristig wird das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland demographiebedingt deutlich zurückgehen, die große Unbekannte ist die Zuwanderung Durch die Rente mit 67 und eine steigende Erwerbs-beteiligung insbesondere von Frauen kann es bis 2050 um rund 2 Millionen Personen erhöht werden Durch eine Nettozuwanderung von 200.000 Personen p.a. kann es bis 2050 um rd. 7 Millionen Personen erhöht werden Der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials hat vor allem gravierende Folgen für die soziale Sicherungssysteme
10. 3. Welche Folgen hat der Rückgang des EPP? Der Rückgang des EPP ist nicht mit einer dauerhaften „Fachkräftelücke“, d.h. einem persistenten Überschuss der Arbeitsnachfrage über das Angebot gleichzusetzen Drei Anpassungsmechanismen sprechen dafür, dass der demographische Wandel per se keinen Einfluss auf Unterbeschäftigung und Fachkräftelücke hat: Anpassung des Kapitalstocks (Kaldor, 1961) Anpassung der Löhne Anpassung des Arbeitsangebots Es kann folglich sein, dass der Rückgang des EPP mit gleichbleibender Unterbeschäftigung einhergeht
11. Simulation eines Rückgangs des Arbeitsangebots Empirische Fakten sprechen dafür, dass die Kapital-Output Ratio unabhängig vom Arbeitsangebot konstant bleibt (Kaldor, 1961; Ottaviano/Peri, 2006; Brücker/Jahn, 2009) Folglich ergibt sich keine Änderung der Löhne und -- bei unvollkommenen Arbeitsmärkten -- der gesamtwirtschaft-lichen Arbeitslosenquote bei einem Arbeitsangebotsschock und konstanter Struktur des Arbeitsangebots Arbeitsmarktwirkungen können sich aber durch Veränderungen in der Struktur des Arbeitsangebots, z.B. den Trend zur Höherqualifizierung ergeben
13. Simulation eines Rückgangs des Arbeitsangebots um 10 Prozent (e.g. 2025 vs. 2010) Quelle: Eigene Simulationen.
14. 3. Folgen des Rückgang des EPP (Forts.) Der Rückgang des EPP wirkt also nur dann auf den Arbeitsmarkt, wenn er die Struktur des Arbeitsangebots verändert; die gesamtwirtschaftliche Rate des technischen Fortschritts (total factorproductivity) beeinflusst; Aber: Der Rückgang des EPP wirft erhebliche Folgen für den Sozialstaat auf, der durch Zuwanderung jüngerer Arbeitnehmer gewinnt (Bonin, 2006) Nettogewinn durch Zuwanderung eines Ausländers heute bei 2,200 EURO p.a. Dieser Nettogewinn würde auf 5,600 EURO steigen, wenn Ausländer die gleiche Arbeitsmarktperformanz wie gleichaltrige Inländer hätten
15. Auswirkungen auf den Sozialstaat Der Rückgang des EPP erhöht das Finanzierungssaldo der Sozialversicherungssysteme, d.h. vor allem der gesetzlichen Rentenversicherungssysteme Erhöhung der Pro-Kopf-Belastung der Staatsverschuldung Eine Person im erwerbstätigen Alter leistet gegenwärtig einen Nettobeitrag von 5.800 Euro zu den öffentlichen Haushalten (Bonin 2006), dieser Beitrag steigt durch den demographischen Wandel, der Gesamtbeitrag zum Finanzierungssaldo über den Lebenszyklus ist positiv und steigt mit der Qualifikation Hier liegt die eigentliche Ratio einer nachhaltigen Entwicklung des EPP
17. 1. Leidet Deutschland unter einem „Brain Drain“? Global gewinnen innerhalb der OECD nur die USA, Kanada und Australien substanziell durch die Zuwanderung Hochqualifizierter definiert als Personen mit tertiärer Ausbildung (ISCED 5-6) Im Zensusjahr 2001 verzeichnete Deutschland gegenüber den OECD Staaten ein negatives Wanderungssaldo bei den Hochqualifizierten von 311.000 Personen, das knapp durch ein positives Wanderungssaldo von 368.000 Personen gegenüber den Nicht-OECD Staaten kompensiert werden konnte Die Wanderungsbilanz dürfte sich seitdem verschlechtert haben, genaue Aussagen lassen die Daten nicht zu
18. „Wanderungssaldo“ von Personen mit tertiärer Bildung zwischen den OECD Staaten, 2001 Quelle: Docquier/Marfouk (2010) database, eigene Berechnungen.
19. „Wanderungssaldo“ von Personen mit tertiärer Bildung zwischen den OECD Staaten, 2001 Deutschland: 937.000 Personen mit tertiärer Bildung leben in anderen OECD Staaten, 566.000 Personen mit tertiärer Bildung aus anderen OECD Staaten leben in Deutschland. Saldo: 370.000 Personen. Quelle: Docquier/Marfouk (2010) database, eigene Berechnungen.
20. „Wanderungssaldo“ von Personen mit tertiärer Bildung insgesamt, 2001 Quelle: Docquier/Marfouk (2010) database, eigene Berechnungen.
21. „Wanderungssaldo“ von Personen mit tertiärer Bildung insgesamt, 2001 Deutschland: 937.000 Personen mit tertiärer Bildung leben in anderen OECD Staaten, 1.011.000 Personen mit tertiärer Bildung aus anderen Staaten leben in Deutschland. Saldo: 74.000 Personen. Quelle: Docquier/Marfouk (2010) database, eigene Berechnungen.
22. Deutschland: Zu- und Fortzüge, 1974 bis 2009 Quelle: Statistisches Bundesamt (2011), GENESIS Datenbank.
23. Deutschland: Zu- und Fortzüge, 1974 bis 2009 Quelle: Statistisches Bundesamt (2011), GENESIS Datenbank.
24. DE: Zu- und Fortzüge nach Regionen, 2009 Quelle: Statistisches Bundesamt, Sonderauswertung 2010.
25. Zu- und Fortzüge von Deutschen, 2003 bis 2009 Quelle: Statistisches Bundesamt (2011).
26. 2. Die Europäische Entwicklung Anders als im OECD Rahmen insgesamt ist das Wanderungssaldo bei Hochqualifizierten in der EU ausgeglichen (Eurostat LFS, Ette/Sauer 2010) 45.000 deutsche Hochschulabsolventen leben in der EU, 48.000 Hochschulabsolventen aus der EU leben in DE Dies kann aber die Abwanderung in die Schweiz und die USA nicht ausgleichen Durch die EU Osterweiterung ist mit einer anfänglichen Zuwanderung von 100.000 bis 140.000 Personen p.a. mit einem überproportionalen Anteil Hochqualifizierter zu rechnen
27. 3. Der globale Pool an Hochqualifizierten Rund 338 MillionenPersonenmittertiärenBildungsabschlüssenweltweit 191 Millionen in LändernmithohemEinkommen 29% derBevölkerung 25+ 56 Millionen in LändernmitoberemmittleremEinkommen 12% derBevölkerung 25+ 80 Millionen in LändernmitgeringeremEinkommen 5% derBevölkerung 25+ 12 million in Niedrigeinkommensländern 3% derBevölkerung 25+ AnteilderHocheinkommensländerfälltzuGunstender “Emerging-Economies” einschließlichOst- und Mitteleuropa
28. Anteil der jeweiligen Ländergruppe an den Personen mit tertiärer Bildung, 1975 bis 2000 Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage von Defoort (2010).
30. 4. Determinanten der Zuwanderung Hochqualifizierter ÖkonometrischeEvidenz: SignifikanteEffektederSteuerungder Migration nachQualifikation SignifikanteEffektederLohnprämiefürBildung und Ausbildung Positive EffektefürMaßnahmen die Migranten (temporär) von sozialstaatlichen Transfers ausschließen KeinesignifikantenEffektefür Transfers durch den Sozialstaat, Mindestlöhne und FuE-Ausgaben Brücker et al. (2010/11); Ortega/Peri (2010)
32. 1. Reform der Zuwanderungssteuerung Zuwanderung ist langfristig der wichtigste Hebel zur nachhaltigen Entwicklung des EPP Arbeitsmarkteffekte der Zuwanderung weitgehend neutral, positive Wirkungen für Gesamtwirtschaft und Sozialstaat Mit steigender Qualifikation verbessert sich Integration der Zuwanderer und steigen die fiskalischen Nettoerträge Zur Steuerung der Zuwanderung stehen angebots- und nachfrageorientierte Instrumente zur Verfügung Angebotsorientiert: e.g. Punktesysteme Nachfrageorientiert: Antrag durch Unternehmen, Arbeitsmarkttest Konvergenz der Systeme durch Positivlisten von Berufen
33. Option I: Punktesystem Punktesysteme begründen in der Regel ein Daueraufenthaltsrechts und schließen an temporäre Aufenthaltsregelungen an (CA, AUS) Zugang über Daueraufenthaltsrecht: Hochschulabschluss und sehr hohes Einkommen (wie bisher) Temporäres Aufenthaltsrecht (3 Jahre) mit anschließendem Daueraufenthaltsrecht Punkte für Bildung, Beruf, Berufserfahrung, Sprachkompetenz Keine Vorrangprüfung Kanäle für Studenten und Facharbeiter mit Vorrangprüfung
34. Option II: Weiterentwicklung des Zuwanderungsrechts Daueraufenthaltsrecht: Hochschulabschluss und sehr hohes Einkommen (wie bisher?) Temporäres Aufenthaltsrecht (3 Jahre) mit anschließendem Daueraufenthaltsrecht Hochschulabsolventen mit 40.000 Euro Jahreseinkommen Positivliste der Berufe für qualifizierte Fachkräfte ohne Hochschulabschluss Keine Vorrangprüfung, Tariflohn Zugang für andere Fachkräfte nach Vorrangprüfung Kanäle für Studenten
35. Aussetzen der Vorrangprüfung Positivliste der Berufe Nachfrageseite: Verhältnis offener Stellen/Arbeitslose Vakanzzeiten Erwartete Berufsabgänge Problem: Datengrundlage (Erhebung der offenen Stellen und Vakanzzeiten) Angebotsseite: Prognose der Arbeitsmarktintegration (AL-Risiko und Lohn) Mikrodaten gestützt (IABS, IEB) Problem: Time lags.
36. EU Blue Card Gewährung eines temporären Aufenthalts- und Arbeitsrechts, das in ein Daueraufenthaltsrecht umgewandelt werden kann Freie Mobilität im Binnenmarkt nach Übergangsfrist Kriterien: Mindestens das 1,5-fache der durchschnittlichen Bruttoverdienste, in spezifischen Berufen das 1,2-fache Problem: Das 1,5-fache kann für junge Hochschulabsolventen zu hoch sein, besser nach Alter staffeln.
37. Zuwanderung von Familienangehörigen Der freie Zugang von Familienangehörigen ist für die Wanderungsanreize entscheidend Gegenwärtig unterliegen Familienangehörige von Hochqualifizierten keiner Vorrangprüfung, aber von qualifizierten Arbeitskräften Es bedarf folglich einer Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Familienangehörige von qualifizierten Arbeitskräften
38. 2. Anwerbung von Studenten Studenten sind einer der wichtigsten Kanäle für die Zuwanderung von Hochqualifizierten Investition in die Bildung von Ausländern kann leicht kompensiert werden, wenn sie einen Teil ihrer Erwerbsbiographie in Deutschland verbringen Reform des Hochschulen und gezielte Anwerbung ist sinnvoll englische Studienangebote, ggf. Gebühren für nicht-EU-Ausländer Stärkung der Anreize für Arbeitsmarktintegration in DE, gezielte Werbung
39. 3. Kontinuierliche Anwerbung von Fachkräften Transparenz durch gute Arbeitsvermittlung in erweiterter EU, europäischer Peripherie und Südost-/Ostasien Anwerbungsinitiativen von Unternehmen unterstützen (Auslandskammern, Entwicklungszusammenarbeit)