1. Nach dem Prozess ist vor dem Prozess
Und mittendrin Andreas Engel
Von Bartek Langer
Es ist Freitag, kurz nach 9 Uhr. Im Zimmer Nummer 8 des Frankfurter Landgerichts sitzen links eine
Dolmetscherin und ein Rechtsanwalt, zwischen ihnen der Angeklagte. Auf der rechten Seite hat der
Staatsanwalt seinen Platz eingenommen. In der Mitte des großzügig angelegten Raumes, in dem die 6.
große Strafkammer über Recht und Unrecht entscheidet, begutachtet der Richter die erdrückende
Beweislast gegen den Mann, der sich wegen Drogenbesitz verantworten muss. Der Beschuldigte, 37 Jahre
alt, gebürtiger Nigerianer mit schwedischer Staatsbürgerschaft, wurde am Frankfurter Flughafen verhaftet,
als er versuchte 926 Gramm 80%-iges Kokain nach Stockholm zu schmuggeln. Die 73 in Plastikfolie
umhüllten Behältnisse, die gestreckt rund 360.000 Euro einbringen würden, führte sich der Drogenkurier
innerhalb mehrerer Stunden rektal in seine Bauchhöhle ein. „Lange geht’s heute nicht, Viertel nach Zehn
sind wir draußen“, sagt Andreas Engel, hält kurz inne und fügt überzeugt hinzu, „drei Jahre wird er
kriegen.“
Verhandlung
Die Verhandlung wird Wort für Wort protokolliert
Andreas Engel weiß wovon er redet und er redet viel, denn er hat eine Menge zu erzählen. Der stämmige
Mann mit einem gepflegten Schnurrbart und einen leichten Sonnenbrand auf der Glatze verbringt jede
freie Stunde in den Räumlichkeiten des Frankfurter Landgerichts. Und nicht nur das. Er protokolliert
penibel alle Fakten, die er vor, während und nach einer Verhandlung zusammenträgt – die Anatomie eines
Prozesses gewissermaßen. Seine Aufzeichnungen, in denen er zwecks persönlicher Studien regelmäßig
blättert, lesen sich wie Polizeiakten. Pedantisch geht er vor, als hätte er die Befürchtung für jedes
Versäumnis, für jedes fehlende Bruchteil einer Information anschließend rapportieren zu müssen.
Namentlich notiert er sämtliche Prozessbeteiligten, den Richter, den Staatsanwalt, den Verteidiger, die
Schöffen. Er beschreibt den Tathergang, die Tatwaffe – sofern vorhanden, das Motiv, er gibt das
Aktenzeichen, das Datum, den Richterspruch und die genaue Uhrzeit jenes an. Er nennt die
entscheidenden Paragraphen, zumeist aus dem Kopf, falls nicht, dann schlägt er nach im Strafgesetzbuch
oder in der Strafprozessordnung, die er wie aus dem Ärmel zaubert. Man kann behaupten, Andreas Engel
ist ausgestattet, als müsste er heute das Plädoyer halten. Denn gerade im Detail liegt Engel zufolge der Reiz
an der Sache. „Mich interessiert es, aus welchem Umfeld der Täter kommt, wie er aufgewachsen ist, ich
versuche ein Profil von ihm zu erstellen“, erklärt er. „Das alles erfährt man nur in einer Verhandlung, ein
Zeitungsartikel reicht dafür nicht aus.“
Schicksalsschlag brachte die Wende
Seit sieben Jahren geht der 45-Jährige aus dem hessischen Oberursel-Weißkirchen seiner Leidenschaft
nach, einer Leidenschaft, die er bereits als Jugendlicher entdeckte. „Alles hat mit dem Filmklassiker „Die
12 Geschworenen“ angefangen“, erinnert er sich. Jener Gerichtsthriller, in dem Henry Fonda als
Geschworener auf der Suche nach der Wahrheit ist, in einer Gesellschaft zerfressen von Vorurteilen und
Intoleranz. In der Folgezeit wurde sein Interesse an der Welt der Justiz immer größer, er las Bücher,
sammelte Zeitungsartikel – doch es blieb sozusagen bei der Theorie. Erst durch einen Schicksalsschlag
sollte er sein Hobby richtig ausleben können. „Damals erlitt ich einen Schlaganfall“, sagt Engel. Seitdem
ist der gelernte Bauschlosser und Schreiner, Frührentner. Zwar ließ er sich danach zum Kraftfahrer
umschulen, doch die Wirbelsäule machte ihm zu schaffen, „es ging nicht mehr“. In der neuen
Lebenssituation hatte Engel viel Zeit, Zeit, mit der er nichts anfangen konnte. „Ich wollte den Tag
2. interessant gestalten“, sagt er und gesteht, „auf die Dauer waren ja irgendwelche Richtershows im
Fernsehen langweilig.“
öffnete
Vertrauen öffnet e viele Türen
2000 Fälle und 40 prall gefüllte Kladden später, sitzt er hier, mittendrin, in der ersten Reihe. Den Weg bis
zum Gericht legt Engel mit dem Fahrrad zurück, er radelt an die 30 Kilometer täglich – daher auch der
Sonnenbrand auf dem Kopf. Zurzeit muss er jedoch kürzer treten. „Meine Frau arbeitet wieder und ich
muss auf unseren zweijährigen Sohn aufpassen, Erziehungsurlaub quasi“, sagt Engel, dessen Blick plötzlich
starr wird. Engel erhebt sich, der Richterspruch wird erwartet. „Der Angeklagte wird zu einer Haftstrafe
von drei Jahren verurteilt“, heißt es. Engel packt seine Sachen, verabschiedet sich vom Richter,
Verteidiger, Staatsanwalt, es ist Viertel nach Zehn. Engel muss weiter, er hetzt durch den riesigen
Gerichtskomplex, 82 Kammern, 400 Mitarbeiter, 140 Richter und jede Menge bekannte Gesichter. Ein
„Hallo“ hier, ein „Wie geht’s“ dort, in der Kantine Small-Talk mit dem Rechtsanwalt, im Aufzug
erkundigt sich die Putzfrau nach dem Wohlbefinden der Familie. „Man kennt sich“, sagt Engel. Und diese
Bekanntschaften sind auch nötig. Nötig, um in den Genuss vieler Privilegien zu kommen, die anderen
versagt bleiben. „Im Laufe der Jahre hat sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut“, erläutert er. „Man hat
schnell begriffen, dass ich an den Fällen interessiert bin und nicht im Gerichtssaal sitze, damit mir einer
abgeht.“
Scharfschützen, Sicherheitskräfte und Engel mittendrin
Vertrauen, das sich beispielsweise im April 2002 auszahlen sollte, beim ersten Verfahren gegen
Fundamentalisten aus dem Al-Qaida-Netzwerk auf deutschem Boden. Fünf arabischen Extremisten,
wohnhaft im Frankfurter Stadtteil Eckenheim, wurde vorgeworfen, im Dezember 2000 ein Attentat auf
den Straßburger Weihnachtsmarkt geplant zu haben. Das Land Hessen ließ für die Verhandlung den
Justizpalast komplett umbauen. Man täte alles, um das Risiko zu minimieren, sagte Landgerichtspräsident
Eberhard Kramer seinerzeit. Es galt die höchste Sicherheitsstufe. „Ein Hohheitsgebiet“, blickt Engel
zurück, „rein durften nur ausgewählte Leute.“ Und zu jenen Ausgewählten zählte Andreas Engel.
Umgeben von zahllosen Sicherheitskräften in jeder Ecke und Scharfschützen auf den Dächern, passierte er
sämtliche Kontrollen und ließ sich in der ersten Reihe nieder – als wäre es ein Tag wie jeder andere.
Jeden Tag eine neue Überraschung
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Andreas Engel an diesem Freitag bei der wöchentlichen
Pressekonferenz des Landgerichts mit von der Partie ist. Bei der Veranstaltung, die eigentlich nur
Journalisten vorbehalten ist, werden die Fälle für die kommende Woche vorgestellt. Aufmerksam sitzen
sich die örtlichen Reporter gegenüber, hören der Pressesprecherin gespannt zu, spekulieren, mit welcher
Schlagzeile sie die künftige Lokalseite schmücken könnten. Über 80 Verhandlungen werden es wieder
sein, Raub, Totschlag, Vergewaltigung, Erpressung – alles ist dabei. Das Frankfurter Landgericht ist für
eine Million Menschen zuständig, da ist immer was los. „Früher glich mein Besuch im Gericht einem
Weihnachtskalender mit verschiedenen Türen“, erklärt Engel seine Neugierde, „man wusste nicht, was
sich hinter der nächsten verbirgt.“
Rauschgiftdelikte
Rauschgiftdelikte stehen bei Engel ganz oben
Was am Montag hinter der Tür des Zimmers 11 E passiert ist indes geklärt. Ein 41-Jähriger Mann wird
wegen Körperverletzung angeklagt. Der Akte zufolge hat jener zwei Bücher über Hinduismus und
Buddhismus bei Karstadt mitgehen lassen. „Ein Feingeist also“, befindet ein Reporter der älteren
Generation mit einer beinahe genauso alten Fotokamera um den Hals. „Nachdem er anschließend dem
3. Verkäufer zwei Zähne rausgeschlagen hatte, war er nicht mehr so feingeistig“, erwidert die
Pressesprecherin schmunzelnd. Engels Blick wandert währenddessen eifrig über die zehnseitige
Sitzungsliste, abrupt tippt er mit dem Zeigefinger auf eine fünfzehnstellige Zahlenfolge. „Am Mittwoch
gibt’s wieder eine Rauschgiftsache“, meint er, „das sind die interessantesten Fälle, man erfährt die
skurrilsten Verstecke.“
Hüllenlose Finanzexperten und wollüstige Bauern
Es gibt viel Kurioses, das Engel im Laufe der Zeit im Gerichtssaal zu Hören bekommen hat, Geschichten,
die andere wohl nur aus dem Fernsehen kennen. Da gab es den Finanzexperten von N-TV, der
splitternackt durch die Zeil flitzte, an seinem Glied war eine Schnur angebracht, am Ende jener eine
Schere befestigt und als wäre das noch nicht genug: fordernd hielt er ein Plakat mit der Aufschrift
„Schwanz ab!“ empor. Oder den Bauer aus Bayern, der das Familienkonto um 10.000 DM erleichterte,
um angeblich einen Traktor in Frankfurt zu kaufen. Dort angekommen, war der neue Trecker vergessen,
dafür suchte der Mann das erstbeste Bordell der Stadt auf. Nach seinem Schäferstündchen wurde er mit
K.O.-Tropfen betäubt und das Geld war verschwunden. „Da gehört das Opfer bestraft und nicht der
Täter“, resultiert Engel mit einem Grinsen.
Wahrheit
Die Wahrheit ist nicht immer einfach zu ertragen
Doch nicht immer geht es amüsant zu, das Gros der Fälle geht eher unter die Haut. Wie etwa bei einer
Familientragödie, bei der ein Vater seine beiden vier und fünf Jahre alten Söhne vergiftet und
anschließend in den Main geworfen hatte. Nicht jeder kann die Wahrheit, die wie bei einem Puzzle aus
vielen kleinen Einzelteilen zusammengesetzt wird, vertragen. Das hat gar die Gattin am eigenen Leib
erfahren, als sie einst ihren Mann ins Gericht begleitet hatte. „Es ging um Kindesmissbrauch und das
medizinische Gutachten war zu viel für sie“, berichtet Engel. Für alle anderen Anekdoten hat die Ehefrau
aber ein offenes Ohr und akzeptiert das ungewöhnliche Hobby ihres Mannes. Auch Engel selbst hatte
anfangs mit seinen Gefühlen zu kämpfen. „Damals konnte ich den gewissen Schalter nicht umdrehen“,
sagt er, „mittlerweile habe ich gelernt das nicht an mich ranzulassen.“
Augenhöhe
Künftig auf Augenhöhe mit dem Richter
Und wenn es nach ihm geht, wird Notizblock 40 nicht der Letzte sein – zumindest falls er nicht eines
offiziellen Amtes walten muss. Denn vor einigen Tagen bekam er Post vom Magistrat der Stadt Oberursel-
Taunus. Jenes Schreiben enthielt die „Vorschlagsliste für die Wahl der Schöffen für das Land- und
Amtsgericht Frankfurt, Wahlperiode 2009 bis 2013“. Eine freudige Nachricht, denn sollte Engel
tatsächlich zum Schöffen ernannt werden, könnte er bald noch näher am Geschehen dran sein,
Mitspracherecht eingeschlossen, auf der Suche nach der Wahrheit – ganz wie Henry Fonda eben.