SlideShare a Scribd company logo
1 of 1
Download to read offline
Beim Besuch von UNO-Generalsekretär Perex de Cuellar in Oshakati, Ovomboland, forderten Frauen die Beseitigung
der berüchtigten Terrorgruppe „Koevoet* aus d*r Polizei Fotos: ND/Gräßler; ZB/Pressfoto
Nahe der Stadt Rundu im Norden des Landes sind diese finnischen Sol-
daten, die der UNO-Unterstützungsgruppe angehören, stationiert
„Noch niemals zuvor haben wir
Namibier uns einander so nahe
gestanden. Gemeinsam entschei-
den wir über die Zukunft unse-
res Landes." So beschwört der
Sprecher des Südwestafrikani-
schen Rundfunks täglich mehr-
mals die Hörer, sich für die No-
vemberwahlen zur Unabhängig-
keit registrieren zu lassen. Har-
monie suggeriert auch der all-
abendliche Fernsehwerbespot, der
lachende Namibier aller Rassen
in einer glücklichen Familie ver-
eint zeigt.
Doch in der kommerziellen Ver-
packung steckt ein Stück namibi-
scher Realität. Wer das Land in
diesen Tagen besucht, kann die
aufbrechenden Anfänge der For-
mierung einer neuen, unabhän-
gigen Nation beobachten, in der
alle ihren Platz suchen und fin-
den müssen — Ovambos und
Weiße, Hereros, Mischlinge und
Buschmänner. Die 1,3 Millionen
Namibier gehören elf größeren
und einer Vielzahl kleinerer Be-
völkerungsgruppen an. Ein Jahr-
hundert deutscher und südafrika-
nischer Kolonialherrschaft haben
Namibia zudem politisch zer-
stückelt, die ethnische Zersplitte-
rung zementiert. Die 1987er Aus-
gabe des „Political who's who of
Namibia*4
führt allein 49 politi-
sche Parteien und Gruppierungen
auf; inzwischen sind es noch
mehr.
Derzeit konzentriert sich die
UNO-Hilfsgruppe UNTAG auf
die Kontrolle eines freien und
fairen Wahlprozesses, besonders
die korrekte Wahlkampagne und
Wählerregistrierung, die seit An-
fang Juli laufen. Indes ist den
meisten Namibiern klar, daß die
UNTAG ihnen nicht die Verant-
wortung für. ihre eigene Zukunft
abnehmen kann. Peter Koep,
38jähriger Anwalt, hat deshalb
schon vor drei Jahren eine poli-
tische Gruppe-;gegründet, deren
Name „Namibia Peace Plan 435"
an die entsprechende Resolution
des UNO-Sicherheitsrates erin-
nert. Sie bemüht sich, einen Dia-
log der unterschiedlichen politi-
schen und ethnischen Kräfte her-
beizuführen. „Ich bin nicht
weißer Namibier, sondern Nami-
bier", sagt Koep, das Programm
der Gruppe auf die knappste For-
mel bringend.
Ende Juli hatte die Gruppe in
einer Messehalle Windhoeks Ver-
treter der SWAPO, der Demokra-
tischen Turnhallen-Allianz (DTA),
des progressiven Wahlbündnisses
NNT und der konservativen wei-
ßen Nationalen Partei zur öffent-
lichen Debatte zusammenge-
bracht. Wie die Sympathien ver-
teilt sind, bekommt Jannie de
Wet, ehemaliger Minister der von
Pretoria eingesetzten und erst im
Februar aufgelösten „Übergangs-
regierung" Namibias, zu spüren.
Hinter seiner Nationalen Partei
steht ein guter Teil der weißen
Geschäftswelt Namibias und nicht
zuletzt die im Nachbarland Süd-
afrika regierende Nationale, Par-
tei.' Unangenehmen Fragen 'muß
sich.auch Moses Katjiuongua.von
der DTÄ erwehren, ebenfalls
früherer Minister. Wie man Ver-
trauen zu jemandem haben solle,
der in den Diensten des Feindes
gestanden habe, will ein junger
Mann wissen. Es ist der einzige
Moment, in dem Emotionen die
Diskussion außer Kontrolle ge-
raten zu lassen drohen. „Wir soll-
ten uns davor hüten, andere zu
beschimpfen, wenn wir eine neue
Nation aufbauen wollen", appel-
liert Veranstalter Koep an die
Zuhörer.
Sehr unterschiedlich sind die
Voraussetzungen, unter denen
die verschiedenen politischen
Gruppen Namibias ihren Weg in
den neuen Staat antreten. Die
SWAPO tut es mit der Autorität
und dem Selbstbewußtsein der
einzigen politischen Kraft, die
jahrzehntelang konsequent die
Okkupanten bekämpft hat.
„Gegen uns werden derzeit vie-
le Mittel eingesetzt, um unseren
Wahlkampf zu behindern. Aber
wir glauben, daß wir dem stand-
halten können", sagte mir im
SWAPO-Hauptquartier in der
WJndhoeker.. - Goethestraße das
ZK-Mitglied Tulinane Emvula,
langjährige*! OS Vertreter» ctier
SWAPO in der DDR. „Unser
Volk hat lange genug unter dem
südafrikanischen Kolonialismus
gelitten, die Menschen wissen,
was sie wollen. Und wir, die
SWAPO, haben eine Botschaft für
sie. Wir haben Vertrauen in das
Volk."
„Über den Ausgang der Wah-
len spekulieren zu wollen ist
müßig. Sollten sie frei und fair
verlaufen, werden der SWAPO
von nahezu allen Beobachtern
große Chancen eingeräumt,
stärkste Partei in der 72köpfigen
Verfassungsgebenden Versamm-
lung zu werden. Die SWAPO hat
zunächst alle Koalitionen vor der
Wahl abgelehnt, schließt diese
für die Zeit danach aber nicht
aus.
Das Hauptquartier des vermut-
lich einzigen ernsthaften Rivalen
der SWAPO, der „Demokratischen
Turnhallen-Allianz", liegt schräg
gegenüber dem SWAPO-Sitz. Den
weißen Führer der DTA, Dirk
Mudge, konnte ich nicht sprechen,
er weilte gerade auf Einladung
der britischen Regierung in Lon-
don. Dafür stand Tanuel Kozon-
guizi, ebenfalls Exminister, zur
Verfügung. Nur die DTA sei in
der Lage, das dringend benötigte
Geld für die Entwicklung Nami-
bias zu beschaffen, erklärte er
mir. Sie werde Investoren anlok-
ken und verfolge keine Politik,
die die Weißen aus dem Land
treibe. Außerdem verfüge sie
über die Erfahrung einer zehn-
jährigen Regierungszeit. (1978,
als die SWAPO nicht an den
Wahlen teilnahm, bekam die von
Südafrika protegierte DTA 80
Prozent der Stimmen.)
„Ob das in den Augen der
schwarzen Bevölkerungsmehrheit
ein Plus ist?" zweifle ich. „Na-
türlich, wenn Sie heute fragen,
welcher Partei die Interessen der
Schwarzen am "HerzeiTT'liegen,
werden Sie gewöhnlich zur Ant-
wort bekommen: ,der SWAPO1
.
Aber es ist das eine, im Busch
zu kämpfen, etwas anderes, das
Land zu regieren ..."
Neben der SWAPO, der DTA
mit ihren 11 Koalitionsparteien
und der Nationalen Partei, haben
sich nur noch wenige politische
Kräfte landesweit profiliert.
Das übrige Parteienspektrum
widerspiegelt die ethnische Zer-
splitterung. Viele Parteien haben
nur regionale oder gar nur lokale
Bedeutung. Die im Entwurf des
Wahlgesetzes vorgesehene Bedin-
gung, 2000 Mitglieder vorzuwei-
sen, um an der Wahl teilzuneh-
men, dürfte für viele zur Klippe
werden und könnte zugleich in
den nächsten Wochen zu neuen
Bündnissen führen.
Südafrika und seine namibi-
sche Gefolgschaft konzentrieren
ihr Feuer auf die SWAPO, wobei
sie die Unübersichtlichkeit der
Lage, vorhandene Ressentiments
und Stammesgegensätze nutzen.
Ungeachtet der Tatsache, daß
Südafrika ein Hauptakteur bei
der Verwirklichung des Namibia-
planes der UNO ist und sich be-
reit zeigt, die Unabhängigkeit
Namibias zu akzeptieren, ist Pre-
toria bestrebt, den Einfluß der
SWAPO so gering wie möglich
zu halten. Dabei setzt Südafrika
vor allem auf die weiße Minder-
heit. Es ist in Windhoek kein Ge-
heimnis, daß nur wenige Weiße
die SWAPO wählen werden -
trotz des von ihr vorgelegten rea-
listischen Wahlprogrammes, das
auf Zusammenarbeit und Ver-
ständigung zielt.
Seine Wirkung verfehlt es
dennoch nicht, der von man-
chen herbeigeredete Exodus
der weißen Unternehmer und
Spezialisten wird wohl nicht
stattfinden. „Das Land verlassen
werde ich erst, wenn mir das
Leben unerträglich gemacht wür-
de, und das erwarte ich nicht,
auch nicht unter der SWAPO",
sagte mir Carl-Ludwig List. Seine
Familie besitzt in Windhoek die
Brauerei, die Schlachterei, die
Hotelkette Namib-Sun und zwei
Fischfabriken. List ist derzeit
dabei, ein neues Einkaufszentrum
zu errichten, und hält auch posi-
tive wirtschaftliche Aspekte der
Unabhängigkeit, wie größere Ex-
port- und Importmöglichkeiten
nach Wegfall der Sanktionen für
möglieh. Auch der Farmer Ulf-
Dieter Voigts von der „Interes-
sengemeinschaft deutschsprachi-
ger Südwester", die schon seit
langem mit der SWAPO im Ge-
spräch ist, denkt nicht ans Kof-
ferpacken.
„Wer von den weißen Nami-
biern aufmerksam unser Wahl-
programm gelesen hat, sieht, daß
kein Grund zur Angst besteht.
Wir haben für die Befreiung Na-
mibias gekämpft, einschließlich
der Befreiung der Weißen in die-
sem Land", sagte ZK-Mitglied
Tulinane Emvula in unserem Ge-
spräch. Dies ist ein Angebot für
die gemeinsame Zukunft.
Gewarnt waren wir. „Schnee-
fall über Hoher Tatra" meldeten
die Zeitungen Ende Juli. — der-
gleichen hatte es seit 40 Jahren
um diese Zeit nicht gegeben. Kein
gutes Omen für den 33. Interna-
tionalen Aufstieg der Jugend auf
den 2499-Meter-Gipfel Rysy, zu
dem sich Anfang August über 5000
junge Leute aus allen Bezirken
der CSSR sowie aus acht weiteren
Ländern in der Hohen Tatra tra-
fen.
So stand ich denn mitten im
Schnee. Am Bergsee Zabie Pleso
in 1919 Meter Höhe. Die Gipfel
zeigten ihre kalte Schulter oder
verbargen sie in dunklen Wolken,
aus denen ein wenig Schnee rie-
selte. Den steilen, steinigen Weg am
Hang unterhalb des Sees schlän-
gelte sich an diesem Vormittag
unverdrossen die Schar der „Gip-
festspiele von Phjöngjang ebenso
wie im Zeltlager in Tatranska
Lomnica am Fuße der Hohen
Tatra.
„Es ist nicht nur das Symbol.
Es ist die Stimmung, die ich auch
in Phjöngjang erlebt habe",
meinte Anibal Morgado aus Mo-
cambique. Er wünschte sich ein
ähnliches „Gipfeltreffen" in Mo-
cambique, wo es auch wunder-
bare Gebirgslandschaften gebe.
„Doch gegenwärtig haben wir an-
dere Sorgen. Um so wichtiger ist
es, daß wir die Sympathie und
Solidarität spüren."
Für die junge Studentin an
einer Moskauer medizinischen
Fachschule, Swetlana Charla-
mowa, bietet das Treffen in der
Hohen Tatra eine gute Gelegen-
heft, Nachbarn näher kennenzu-
lernen. „Zum erstenmal im Aus-
land, da interessiert einen alles
Eis und Schnee erzwangen hier, etwas oberhalb des Zabie Pleso, das Ende
des Aufstieges - Foto: ND/Baufeld
felstürmer" hinauf. So mancher
kam ins Schwitzen.
Dabei waren „nur" 600 Meter
Höhenunterschied zu bewältigen,
denn der Zabie Pleso war in die-
sem Jahr bereits Endstation auf
dem Weg zum Rysy. Der Organi-
sationsstab hatte noch am Morgen
vor dem Start mit Meteorologen
und Mitarbeitern des Bergret-
tungsdienstes beraten, erklärte mir
Jan Kovär, Chef des Stabes.
„Durch Schnee und Eis ist der wei-
tere Aufstieg für Ungeübte eine
gefährliche Sache. Sicherheit ist
oberstes Gebot." Entlang des
Weges begegneten wir immer
wieder den Männern des Bergret-
tungsdienstes.
Trotz der Widrigkeiten — der
Rysy wurde dennoch „bezwun-
gen". Nicht von Hunderten in die-
sem Jahr, sondern nur von zwei
Bergsteigern, die dort einen Kranz
zu Ehren Lenins niederlegten.
Lenin hatte im Sommer 1913 den
Rysy erklommen. Das inspirierte,
in den Sommertagen des Jahres
1957, als sich junge Leute von
allen Kontinenten in Moskau zu
den VI. Weltfestspielen trafen,
40 junge Slowaken, den Aufstieg
nachzuvollziehen. Damit wurde
eines der größten Treffen des So-
zialistischen Jugendverbandes der
CSSR aus der Taufe gehoben, des-
sen Kürzel „MVMR" rasch lan-
desweit Popularität gewann. Von
der Premiere bis heute spielen
die Weltfestspiele eine zentrale
Rolle. Auf den Plakaten des
33. Jahrgangs des Rysy-Aufstiegs
fand sich das Symbol der Welt-
— von den Wegen zur Lösung ge-
sellschaftlicher Probleme bis zur
Rockmusik." Osman Maltreco aus
Guantanamo in Kuba war aus
dem böhmischen Chomutov ange-
reist, wo er sich mit weiteren Ku-
banern zum Facharbeiter qualifi-
ziert. Unter den jungen Bergstei-
gern fühle er sich wie in einer
Familie, bekannte er.
Das Treffen in der Hohen
Tatra ist mehr als nur der Auf-
stieg. Dazu gehörten auch in die-
sem Jahr freiwillige Arbeitsein-
sätze. Mit ihnen unterstützt der
Jugendverband die großen An-
strengungen zur Erhaltung der
einzigartigen Landschaft des
Tatra-Nationalparkes. Jährlich
besuchen rund fünf Millionen
Menschen das kleinste Hochgebir-
ge der Welt. Und nicht jeder be-
gegnet der Natur mit Achtung.
Nach getaner Arbeit, nach an-
strengendem Aufstieg oder Frie-
densmeilen-Lauf mangelte es
nicht an Möglichkeiten zur Ent-
spannung. Alle Programm-Fäden
in der Hand hatte Lagerleiter
Ladislav FapSo, der selbst nicht
mehr weiß, wie oft er auf dem
Rysy war („Bei 100 habe ich mit
dem Zählen aufgehört"). Von
Folklore bis Rock, von Diskus-
sionsrunden bis zum Schubkar-
ren-Grand-Prix reichte die Ver-
anstaltungspalette.
Fazit von Henriette Cierna und
Andrea Outratova, Schülerinnen
aus dem slowakischen Kreis Mar-
tin: Das Treffen war ein Erlebnis.
Wer einmal dabei war, kommt
wieder...
Willi Mumenberg
(14. August U M bis Juni 1940)
Dem 100. Geburtstag Willi Mün-
zenbergs am vergangenen
Montag war ein mehrteili-
ger Report gewidmet, der neue
biographische Informationen be-
sonders aus den noch wenig er-
forschten frühen Jahren des le-
gendären deutschen Kommuni-
sten in Thüringen vermittelte und
dessen abschließender Teil hier
erscheint. Die drei ersten Teile
„Am Hügel und im Tivoli einer
der besten Redner", „Eine Kind-
heit zwischen Dorfschule und
Schenke" sowie „In Sonneborns
,Zur Rose' keimte schon Solidari-
tät" veröffentliche NEUES
DEUTSCHLAND in den Aus-
gaben vom 29./30. Juli (Seite 11),
5./6. August (Seite 9) und 12./13.
August 1989 (Seite 11).
Die für gute Bücher wie für
Millionen von Menschen bedroh-
lichsten Jahre deutscher Ge-
schichte muß es in Erfurt über-
standen haben: das stark zer-
lesene, etwas vergilbte und mit
mancherlei Unterstreichungen
versehene Exemplar von „Die
Dritte Front —. Aufzeichnungen
aus 15 Jahren proletarischer Ju-
gendbewegung", auf dessen In-
nentitel jemand ein sympathi-
sches Foto des Autors Willi Mün-
zenberg geklebt und mit blauer
Titelblatt des Münzenberg-Budies von 1929/30 mit eingekleb-
tem Foto und Eintragungen der Nichte Else Merkel geb. Blon-
kenburg (links). Die Tafel an 'der „Münz" in Friemar bei Gotha
(oben), enthüllt am 14. August 1989
Abb.: Gerhard Leo (1); ND/Schmidtke (1); Privatbesitz (2);
ND-Repro (1); Karl-Heinz Hecker, Erfurt (1)
Tinte geschrieben hat: „Onkel
Willi/Mutters Bruder" sowie „In
Frankreich von der Gestapo 1934
umgebracht" (siehe unsere Abbil-
dung).
„Mutters Bruder" — das ver-
weist auf Willi Münzenbergs
Lieblingsschwester Emmy Blan-
kenburg, später Suckert, geb.
Münzenberg (30. April 1876 bis
1944), die in Erfurt, Schmidt-
stedter Straße 6 oder 61, einen
Gemüseladen betrieb und unter
deren vielen Kindern eine Toch-
ter gewesen sein muß, die ihren
„Onkel Willi" politisch verstand
und sehr verehrte: Else Merkel
geb. Blankenburg. Wie kam diese
Nichte dazu, zwischen 1934 und
1936 ins Buch zu schreiben, Onkel
Willi sei in Frankreich von der
Gestapo umgebracht worden?
Die Legende kann sich im Fe-
bruar 1934 in Erfurt verbreitet
haben, nachdem die Gestapo
John Schehr, den beliebten Ar-
beiterführer, sowie drei weitere
KPD-Funktionäre (Eugen Schön-
haar, Rudolf Schwarz und Erich
Steinfurth) am 1. Februar in der
Prinz-Albrecht-Straße bestialisch
ermordet hatte. Die Legende
könnte auch nach dem 30. Juni
1934 entstanden sein, als Hitler
den sogenannten Röhm-Putsch
erfand, um über 1000 Personen
von der SS aus dqp Betten holen
und auf der Stelle erschießen zu
lassen, darunter bürgerliche
Oppositionelle, aber auch zahl-
lose SA-Führer wie Altnazi Ernst
Röhm. Wer solchen ungeheuer-
lichen Mordterror praktizierte,
dem war auch die Ermordung
Münzenbergs im Ausland zuzu-
trauen.
Doch in der „Nacht der langen
Messer" des „Röhm-Putsches"
befand Münzenberg sich auf dem
Atlantik. Er reiste in die USA,
um dort rechtzeitig einen Gegen-
prozeß gegen den von den Nazis
angekündigten, aber nie durch-
geführten Prozeß gegen den
KPD-Vorsitzenden Ernst Thäl-
mann zu organisieren. Vom
Röhm-Massaker schockiert, ge-
statteten die US-Behörden Mün-
zenberg sogar eine Versamm-
lungstour durch die Staaten.
Zehntausende Nordamerikaner
und selbst bürgerliche Blätter
wurden von Münzenberg zum
Kampf um die Befreiung Ernst
Thälmanns mobilisiert.
Der Nazibotschafter in Wa-
shington rannte Tag für Tag zur
USA-Regierung, um gegen Mün-
zenbergs Aktivität zu intervenie-
ren. Von den Hitlerfaschisten
ausgehaltene deutschsprachige
Zeitungen in den USA hetzten
gegen Münzenberg, den sie einen
„bolschewistischen Juden" nann-
ten, in der obskuren Annahme,
damit eine doppelte Herabsetzung
zu bewirken. Auch in dieser Hetz-
kampagne log die Goebbels-Presse
so schamlos wie gewohnt. Goeb-
bels mußte wissen, daß Münzen-
bergs Vater aller Wahrscheinlich-
keit nach der Sohn eines Ritter-
gut-Besitzers aus altem preußi-
schem Adel war. Und wenn man
heute das Gutshaus Zingst bei
Nebra an der Unstrut, in dem ein
Kinderheim untergebracht ist,
näher betrachtet, dann fällt am
Giebel neben der Jahreszahl der
Errichtung (1665) die anmaßende
Jahreszahl einer Teilrenovierung
auf: 1934!
Das Haus, in dem Willi Mün-
zenbergs mutmaßlicher, aber un-
ehelicher Großvater väterlicher-
seits, der Freiherr Wilhelm Adolf
von Seckendorff (1801 bis 1866)
residierte, bis er sich im Preu-
ßisch-Österreichischen Krieg von
1866 den Tod holte, gehörte 1934
zum Feudalbesitz der Grafen von
Helldorf (früher: Helldorff).
Einer von ihnen, Wolf Heinrich
von Helldorf (1896 bis 1944),
hatte sich besonders intensiv an
der Hitlerbewegung beteiligt
und war 1933 in den Reichstags-
brand verstrickt. Als Polizeiprä-
sident von Berlin tat er sich bei
der Verfolgung von Kommuni-
sten, Sozialdemokraten und links-
intellektuellen Antifaschisten
hervor. 1944 versuchte von Hell-
dorf, Anschluß an die Wider-
standsbewegung des 20. Juli zu
gewinnen. Weil die Berliner Po-
lizei am 20. Juli 1944 nicht gegen
Stauffenberg vorging, wurde
Helldorf am 15. August 1944 in
Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Willi Münzenberg hat das
nicht mehr erlebt. Obschon
1934 fälschlich totgesagt, war
ihm kein langes Leben beschie-
den. Im Mai 1940, nach Beginn
des „Westfeldzuges" der Nazl-
wehrmacht interniert, dann in
das Lager Chambaran bei Lyon
übergeführt, wagte Münzenberg
am 20. Juni 1940 die Flucht in
Richtung Schweiz. Am 17. oder
18. Oktober 1940 wurde seine Lei-
che im Wald bei Montagne im
Departement Isere gefunden. Die
Gendarmerie von Saint-Marcellin
untersuchte den Fall, identifi-
zierte den Leichnam und konsta-
tierte Selbstmord1
, Via sich ein
Stück Strick noch am Hals des
Toten befand.
Willi Münzenbergs Schwester
Emmy sowie deren Kinder in Er-
furt erfuhren zwar 1936, daß die
Todesnachricht von 1934 falsch
war; denn etwa 1936 gelang es
einer anderen Nichte Münzen-
bergs, einer Tochter seines Bru-
ders Karl Münzenberg, den
Onkel in Paris zu besuchen.
Doch was in den folgenden
vier Jahren geschah, hat Schwe-
ster Emmy nie verläßlich erfah-
ren können. Wußte sie, daß ihr
Bruder sich der kommunistischen
Bewegung entfremdet und sich
im März 1939 von ihr gelöst
hatte? Erfuhr sie, daß es we-
gen unterschiedlicher Meinun-
gen über die Dimensionen der
Volksfront und wegen der Mos-
kauer Prozesse zum Bruch ge-
kommen war? Und ahnte sie, daß
er, der vom ersten sozialistischen
Land der Welt immer so begei-
stert gesprochen hatte, sich ab
etwa 1937 weigerte, in die So-
wjetunion zu reisen? Ab Som-
mer 1941, nach Hitlers Überfall
auf die Sowjetunion, wird Emmy
Suckert oft an den Bruder ge-
dacht haben. Sie starb -1944 in
Erfurt.
In Friemar, wo der alkoholi-
sierte Vater einst seinem Sohn
einen Strick in die Hand gab mit
den Worten: „Du bist zu nichts
zu gebrauchen, häng' Dich auf!",
erinnert jedenfalls seit Montag
eine schöne Messingtafel an Willi
Münzenbergs wichtigste und
bleibende Leistungen für die
revolutionäre Arbeiterbewegung.
Und auf seinem Grab im fernen
Montagne liegt seit Montag ein
Kranz der Sozialistischen Ein-
heitspartei Deutschlands.
Aufzeichnungen aus 15 Jahren
proletarischer Jugendbewegung
N E U E R D E U T S C H E R V E R L A G
B E R L I N WS
ItmuMii um einen
sachlichen Dialog
Namibia — eine Zeit
des Wagens und Wagens
Angebot für die
gemeinsame Zukunft
Der Rysy ließ nur von
oben herab grüßen
Legenden und Wahrheiten
mit der Jahreszahl 1934
• 1 1 1 • •
Peter Koep Tulinane Emvula
Von Michael B a u f e l d
Grabstein in Montagne 1914
von
WILLI MÜNZENBERG
M IM
m
Neues Deutschland / 19./20. August 1989 / Seit« 9
Reportage
Gipfeltreffen vereinte Jugendliche aus acht Ländern
Augenzeugenbericht aus Windhoek:
Impressionen und Gespräche vor den Novemberwahlen
Von Bernd G r ä ß I e r
Zum 100. Geburtstag ein illustrativer biographischer Streifzug / Von Dr. Harald Wcsscl
DIE DRITTE FRONT
«? 3Orm7nJm»kTttf im äer ffesfaft
OnfaL ÜXUIHüters ßrucfcr Emmy Suckert geb. Münzenberg, 1926 „Herrenhaus" Zingst heute
Willi Münzenberg — seine frühen Jahre in Thüringen (4/Schluß)

More Related Content

More from MuenzenbergFORUM

More from MuenzenbergFORUM (20)

AIZ_XIV_Nr. 1_1935.pdf
AIZ_XIV_Nr. 1_1935.pdfAIZ_XIV_Nr. 1_1935.pdf
AIZ_XIV_Nr. 1_1935.pdf
 
AIZ Jg 1928 Nr. 39
AIZ Jg 1928 Nr. 39AIZ Jg 1928 Nr. 39
AIZ Jg 1928 Nr. 39
 
AIZ 1928 Nr. 38
AIZ 1928 Nr. 38AIZ 1928 Nr. 38
AIZ 1928 Nr. 38
 
Aiz 1928 Nr. 37
Aiz 1928 Nr. 37Aiz 1928 Nr. 37
Aiz 1928 Nr. 37
 
AIZ 1928 Nr. 36
AIZ 1928 Nr. 36AIZ 1928 Nr. 36
AIZ 1928 Nr. 36
 
AIZ 1929 Nr. 07
AIZ 1929 Nr. 07AIZ 1929 Nr. 07
AIZ 1929 Nr. 07
 
AIZ 1929 Nr. 06
AIZ 1929 Nr. 06AIZ 1929 Nr. 06
AIZ 1929 Nr. 06
 
AIZ 1929 Nr. 05
AIZ 1929 Nr. 05AIZ 1929 Nr. 05
AIZ 1929 Nr. 05
 
Aiz 1928 vii_35
Aiz 1928 vii_35Aiz 1928 vii_35
Aiz 1928 vii_35
 
AIZ 1929 Nr. 04
AIZ 1929 Nr. 04AIZ 1929 Nr. 04
AIZ 1929 Nr. 04
 
AIZ 1929 Nr. 03
AIZ 1929 Nr. 03AIZ 1929 Nr. 03
AIZ 1929 Nr. 03
 
AIZ 1929 Nr. 02
AIZ 1929 Nr. 02AIZ 1929 Nr. 02
AIZ 1929 Nr. 02
 
AIZ 1919 Nr. 01
AIZ 1919 Nr. 01AIZ 1919 Nr. 01
AIZ 1919 Nr. 01
 
Für unsere und eure Freiheit. Der Kongress der Ostvölker in Baku nach 100 Jahren
Für unsere und eure Freiheit. Der Kongress der Ostvölker in Baku nach 100 JahrenFür unsere und eure Freiheit. Der Kongress der Ostvölker in Baku nach 100 Jahren
Für unsere und eure Freiheit. Der Kongress der Ostvölker in Baku nach 100 Jahren
 
Spione und Verschwörer in Spanien
Spione und Verschwörer in SpanienSpione und Verschwörer in Spanien
Spione und Verschwörer in Spanien
 
Das Genossenschaftswesen in der Union der S.S.R.
Das Genossenschaftswesen in der Union der S.S.R.Das Genossenschaftswesen in der Union der S.S.R.
Das Genossenschaftswesen in der Union der S.S.R.
 
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 12
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 12Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 12
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 12
 
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10
 
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 10
 
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 9
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 9Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 9
Jugend-Internationale 3. Jg Nr. 9
 

Legenden und Wahrheiten mit der Jahreszahl 1934

  • 1. Beim Besuch von UNO-Generalsekretär Perex de Cuellar in Oshakati, Ovomboland, forderten Frauen die Beseitigung der berüchtigten Terrorgruppe „Koevoet* aus d*r Polizei Fotos: ND/Gräßler; ZB/Pressfoto Nahe der Stadt Rundu im Norden des Landes sind diese finnischen Sol- daten, die der UNO-Unterstützungsgruppe angehören, stationiert „Noch niemals zuvor haben wir Namibier uns einander so nahe gestanden. Gemeinsam entschei- den wir über die Zukunft unse- res Landes." So beschwört der Sprecher des Südwestafrikani- schen Rundfunks täglich mehr- mals die Hörer, sich für die No- vemberwahlen zur Unabhängig- keit registrieren zu lassen. Har- monie suggeriert auch der all- abendliche Fernsehwerbespot, der lachende Namibier aller Rassen in einer glücklichen Familie ver- eint zeigt. Doch in der kommerziellen Ver- packung steckt ein Stück namibi- scher Realität. Wer das Land in diesen Tagen besucht, kann die aufbrechenden Anfänge der For- mierung einer neuen, unabhän- gigen Nation beobachten, in der alle ihren Platz suchen und fin- den müssen — Ovambos und Weiße, Hereros, Mischlinge und Buschmänner. Die 1,3 Millionen Namibier gehören elf größeren und einer Vielzahl kleinerer Be- völkerungsgruppen an. Ein Jahr- hundert deutscher und südafrika- nischer Kolonialherrschaft haben Namibia zudem politisch zer- stückelt, die ethnische Zersplitte- rung zementiert. Die 1987er Aus- gabe des „Political who's who of Namibia*4 führt allein 49 politi- sche Parteien und Gruppierungen auf; inzwischen sind es noch mehr. Derzeit konzentriert sich die UNO-Hilfsgruppe UNTAG auf die Kontrolle eines freien und fairen Wahlprozesses, besonders die korrekte Wahlkampagne und Wählerregistrierung, die seit An- fang Juli laufen. Indes ist den meisten Namibiern klar, daß die UNTAG ihnen nicht die Verant- wortung für. ihre eigene Zukunft abnehmen kann. Peter Koep, 38jähriger Anwalt, hat deshalb schon vor drei Jahren eine poli- tische Gruppe-;gegründet, deren Name „Namibia Peace Plan 435" an die entsprechende Resolution des UNO-Sicherheitsrates erin- nert. Sie bemüht sich, einen Dia- log der unterschiedlichen politi- schen und ethnischen Kräfte her- beizuführen. „Ich bin nicht weißer Namibier, sondern Nami- bier", sagt Koep, das Programm der Gruppe auf die knappste For- mel bringend. Ende Juli hatte die Gruppe in einer Messehalle Windhoeks Ver- treter der SWAPO, der Demokra- tischen Turnhallen-Allianz (DTA), des progressiven Wahlbündnisses NNT und der konservativen wei- ßen Nationalen Partei zur öffent- lichen Debatte zusammenge- bracht. Wie die Sympathien ver- teilt sind, bekommt Jannie de Wet, ehemaliger Minister der von Pretoria eingesetzten und erst im Februar aufgelösten „Übergangs- regierung" Namibias, zu spüren. Hinter seiner Nationalen Partei steht ein guter Teil der weißen Geschäftswelt Namibias und nicht zuletzt die im Nachbarland Süd- afrika regierende Nationale, Par- tei.' Unangenehmen Fragen 'muß sich.auch Moses Katjiuongua.von der DTÄ erwehren, ebenfalls früherer Minister. Wie man Ver- trauen zu jemandem haben solle, der in den Diensten des Feindes gestanden habe, will ein junger Mann wissen. Es ist der einzige Moment, in dem Emotionen die Diskussion außer Kontrolle ge- raten zu lassen drohen. „Wir soll- ten uns davor hüten, andere zu beschimpfen, wenn wir eine neue Nation aufbauen wollen", appel- liert Veranstalter Koep an die Zuhörer. Sehr unterschiedlich sind die Voraussetzungen, unter denen die verschiedenen politischen Gruppen Namibias ihren Weg in den neuen Staat antreten. Die SWAPO tut es mit der Autorität und dem Selbstbewußtsein der einzigen politischen Kraft, die jahrzehntelang konsequent die Okkupanten bekämpft hat. „Gegen uns werden derzeit vie- le Mittel eingesetzt, um unseren Wahlkampf zu behindern. Aber wir glauben, daß wir dem stand- halten können", sagte mir im SWAPO-Hauptquartier in der WJndhoeker.. - Goethestraße das ZK-Mitglied Tulinane Emvula, langjährige*! OS Vertreter» ctier SWAPO in der DDR. „Unser Volk hat lange genug unter dem südafrikanischen Kolonialismus gelitten, die Menschen wissen, was sie wollen. Und wir, die SWAPO, haben eine Botschaft für sie. Wir haben Vertrauen in das Volk." „Über den Ausgang der Wah- len spekulieren zu wollen ist müßig. Sollten sie frei und fair verlaufen, werden der SWAPO von nahezu allen Beobachtern große Chancen eingeräumt, stärkste Partei in der 72köpfigen Verfassungsgebenden Versamm- lung zu werden. Die SWAPO hat zunächst alle Koalitionen vor der Wahl abgelehnt, schließt diese für die Zeit danach aber nicht aus. Das Hauptquartier des vermut- lich einzigen ernsthaften Rivalen der SWAPO, der „Demokratischen Turnhallen-Allianz", liegt schräg gegenüber dem SWAPO-Sitz. Den weißen Führer der DTA, Dirk Mudge, konnte ich nicht sprechen, er weilte gerade auf Einladung der britischen Regierung in Lon- don. Dafür stand Tanuel Kozon- guizi, ebenfalls Exminister, zur Verfügung. Nur die DTA sei in der Lage, das dringend benötigte Geld für die Entwicklung Nami- bias zu beschaffen, erklärte er mir. Sie werde Investoren anlok- ken und verfolge keine Politik, die die Weißen aus dem Land treibe. Außerdem verfüge sie über die Erfahrung einer zehn- jährigen Regierungszeit. (1978, als die SWAPO nicht an den Wahlen teilnahm, bekam die von Südafrika protegierte DTA 80 Prozent der Stimmen.) „Ob das in den Augen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit ein Plus ist?" zweifle ich. „Na- türlich, wenn Sie heute fragen, welcher Partei die Interessen der Schwarzen am "HerzeiTT'liegen, werden Sie gewöhnlich zur Ant- wort bekommen: ,der SWAPO1 . Aber es ist das eine, im Busch zu kämpfen, etwas anderes, das Land zu regieren ..." Neben der SWAPO, der DTA mit ihren 11 Koalitionsparteien und der Nationalen Partei, haben sich nur noch wenige politische Kräfte landesweit profiliert. Das übrige Parteienspektrum widerspiegelt die ethnische Zer- splitterung. Viele Parteien haben nur regionale oder gar nur lokale Bedeutung. Die im Entwurf des Wahlgesetzes vorgesehene Bedin- gung, 2000 Mitglieder vorzuwei- sen, um an der Wahl teilzuneh- men, dürfte für viele zur Klippe werden und könnte zugleich in den nächsten Wochen zu neuen Bündnissen führen. Südafrika und seine namibi- sche Gefolgschaft konzentrieren ihr Feuer auf die SWAPO, wobei sie die Unübersichtlichkeit der Lage, vorhandene Ressentiments und Stammesgegensätze nutzen. Ungeachtet der Tatsache, daß Südafrika ein Hauptakteur bei der Verwirklichung des Namibia- planes der UNO ist und sich be- reit zeigt, die Unabhängigkeit Namibias zu akzeptieren, ist Pre- toria bestrebt, den Einfluß der SWAPO so gering wie möglich zu halten. Dabei setzt Südafrika vor allem auf die weiße Minder- heit. Es ist in Windhoek kein Ge- heimnis, daß nur wenige Weiße die SWAPO wählen werden - trotz des von ihr vorgelegten rea- listischen Wahlprogrammes, das auf Zusammenarbeit und Ver- ständigung zielt. Seine Wirkung verfehlt es dennoch nicht, der von man- chen herbeigeredete Exodus der weißen Unternehmer und Spezialisten wird wohl nicht stattfinden. „Das Land verlassen werde ich erst, wenn mir das Leben unerträglich gemacht wür- de, und das erwarte ich nicht, auch nicht unter der SWAPO", sagte mir Carl-Ludwig List. Seine Familie besitzt in Windhoek die Brauerei, die Schlachterei, die Hotelkette Namib-Sun und zwei Fischfabriken. List ist derzeit dabei, ein neues Einkaufszentrum zu errichten, und hält auch posi- tive wirtschaftliche Aspekte der Unabhängigkeit, wie größere Ex- port- und Importmöglichkeiten nach Wegfall der Sanktionen für möglieh. Auch der Farmer Ulf- Dieter Voigts von der „Interes- sengemeinschaft deutschsprachi- ger Südwester", die schon seit langem mit der SWAPO im Ge- spräch ist, denkt nicht ans Kof- ferpacken. „Wer von den weißen Nami- biern aufmerksam unser Wahl- programm gelesen hat, sieht, daß kein Grund zur Angst besteht. Wir haben für die Befreiung Na- mibias gekämpft, einschließlich der Befreiung der Weißen in die- sem Land", sagte ZK-Mitglied Tulinane Emvula in unserem Ge- spräch. Dies ist ein Angebot für die gemeinsame Zukunft. Gewarnt waren wir. „Schnee- fall über Hoher Tatra" meldeten die Zeitungen Ende Juli. — der- gleichen hatte es seit 40 Jahren um diese Zeit nicht gegeben. Kein gutes Omen für den 33. Interna- tionalen Aufstieg der Jugend auf den 2499-Meter-Gipfel Rysy, zu dem sich Anfang August über 5000 junge Leute aus allen Bezirken der CSSR sowie aus acht weiteren Ländern in der Hohen Tatra tra- fen. So stand ich denn mitten im Schnee. Am Bergsee Zabie Pleso in 1919 Meter Höhe. Die Gipfel zeigten ihre kalte Schulter oder verbargen sie in dunklen Wolken, aus denen ein wenig Schnee rie- selte. Den steilen, steinigen Weg am Hang unterhalb des Sees schlän- gelte sich an diesem Vormittag unverdrossen die Schar der „Gip- festspiele von Phjöngjang ebenso wie im Zeltlager in Tatranska Lomnica am Fuße der Hohen Tatra. „Es ist nicht nur das Symbol. Es ist die Stimmung, die ich auch in Phjöngjang erlebt habe", meinte Anibal Morgado aus Mo- cambique. Er wünschte sich ein ähnliches „Gipfeltreffen" in Mo- cambique, wo es auch wunder- bare Gebirgslandschaften gebe. „Doch gegenwärtig haben wir an- dere Sorgen. Um so wichtiger ist es, daß wir die Sympathie und Solidarität spüren." Für die junge Studentin an einer Moskauer medizinischen Fachschule, Swetlana Charla- mowa, bietet das Treffen in der Hohen Tatra eine gute Gelegen- heft, Nachbarn näher kennenzu- lernen. „Zum erstenmal im Aus- land, da interessiert einen alles Eis und Schnee erzwangen hier, etwas oberhalb des Zabie Pleso, das Ende des Aufstieges - Foto: ND/Baufeld felstürmer" hinauf. So mancher kam ins Schwitzen. Dabei waren „nur" 600 Meter Höhenunterschied zu bewältigen, denn der Zabie Pleso war in die- sem Jahr bereits Endstation auf dem Weg zum Rysy. Der Organi- sationsstab hatte noch am Morgen vor dem Start mit Meteorologen und Mitarbeitern des Bergret- tungsdienstes beraten, erklärte mir Jan Kovär, Chef des Stabes. „Durch Schnee und Eis ist der wei- tere Aufstieg für Ungeübte eine gefährliche Sache. Sicherheit ist oberstes Gebot." Entlang des Weges begegneten wir immer wieder den Männern des Bergret- tungsdienstes. Trotz der Widrigkeiten — der Rysy wurde dennoch „bezwun- gen". Nicht von Hunderten in die- sem Jahr, sondern nur von zwei Bergsteigern, die dort einen Kranz zu Ehren Lenins niederlegten. Lenin hatte im Sommer 1913 den Rysy erklommen. Das inspirierte, in den Sommertagen des Jahres 1957, als sich junge Leute von allen Kontinenten in Moskau zu den VI. Weltfestspielen trafen, 40 junge Slowaken, den Aufstieg nachzuvollziehen. Damit wurde eines der größten Treffen des So- zialistischen Jugendverbandes der CSSR aus der Taufe gehoben, des- sen Kürzel „MVMR" rasch lan- desweit Popularität gewann. Von der Premiere bis heute spielen die Weltfestspiele eine zentrale Rolle. Auf den Plakaten des 33. Jahrgangs des Rysy-Aufstiegs fand sich das Symbol der Welt- — von den Wegen zur Lösung ge- sellschaftlicher Probleme bis zur Rockmusik." Osman Maltreco aus Guantanamo in Kuba war aus dem böhmischen Chomutov ange- reist, wo er sich mit weiteren Ku- banern zum Facharbeiter qualifi- ziert. Unter den jungen Bergstei- gern fühle er sich wie in einer Familie, bekannte er. Das Treffen in der Hohen Tatra ist mehr als nur der Auf- stieg. Dazu gehörten auch in die- sem Jahr freiwillige Arbeitsein- sätze. Mit ihnen unterstützt der Jugendverband die großen An- strengungen zur Erhaltung der einzigartigen Landschaft des Tatra-Nationalparkes. Jährlich besuchen rund fünf Millionen Menschen das kleinste Hochgebir- ge der Welt. Und nicht jeder be- gegnet der Natur mit Achtung. Nach getaner Arbeit, nach an- strengendem Aufstieg oder Frie- densmeilen-Lauf mangelte es nicht an Möglichkeiten zur Ent- spannung. Alle Programm-Fäden in der Hand hatte Lagerleiter Ladislav FapSo, der selbst nicht mehr weiß, wie oft er auf dem Rysy war („Bei 100 habe ich mit dem Zählen aufgehört"). Von Folklore bis Rock, von Diskus- sionsrunden bis zum Schubkar- ren-Grand-Prix reichte die Ver- anstaltungspalette. Fazit von Henriette Cierna und Andrea Outratova, Schülerinnen aus dem slowakischen Kreis Mar- tin: Das Treffen war ein Erlebnis. Wer einmal dabei war, kommt wieder... Willi Mumenberg (14. August U M bis Juni 1940) Dem 100. Geburtstag Willi Mün- zenbergs am vergangenen Montag war ein mehrteili- ger Report gewidmet, der neue biographische Informationen be- sonders aus den noch wenig er- forschten frühen Jahren des le- gendären deutschen Kommuni- sten in Thüringen vermittelte und dessen abschließender Teil hier erscheint. Die drei ersten Teile „Am Hügel und im Tivoli einer der besten Redner", „Eine Kind- heit zwischen Dorfschule und Schenke" sowie „In Sonneborns ,Zur Rose' keimte schon Solidari- tät" veröffentliche NEUES DEUTSCHLAND in den Aus- gaben vom 29./30. Juli (Seite 11), 5./6. August (Seite 9) und 12./13. August 1989 (Seite 11). Die für gute Bücher wie für Millionen von Menschen bedroh- lichsten Jahre deutscher Ge- schichte muß es in Erfurt über- standen haben: das stark zer- lesene, etwas vergilbte und mit mancherlei Unterstreichungen versehene Exemplar von „Die Dritte Front —. Aufzeichnungen aus 15 Jahren proletarischer Ju- gendbewegung", auf dessen In- nentitel jemand ein sympathi- sches Foto des Autors Willi Mün- zenberg geklebt und mit blauer Titelblatt des Münzenberg-Budies von 1929/30 mit eingekleb- tem Foto und Eintragungen der Nichte Else Merkel geb. Blon- kenburg (links). Die Tafel an 'der „Münz" in Friemar bei Gotha (oben), enthüllt am 14. August 1989 Abb.: Gerhard Leo (1); ND/Schmidtke (1); Privatbesitz (2); ND-Repro (1); Karl-Heinz Hecker, Erfurt (1) Tinte geschrieben hat: „Onkel Willi/Mutters Bruder" sowie „In Frankreich von der Gestapo 1934 umgebracht" (siehe unsere Abbil- dung). „Mutters Bruder" — das ver- weist auf Willi Münzenbergs Lieblingsschwester Emmy Blan- kenburg, später Suckert, geb. Münzenberg (30. April 1876 bis 1944), die in Erfurt, Schmidt- stedter Straße 6 oder 61, einen Gemüseladen betrieb und unter deren vielen Kindern eine Toch- ter gewesen sein muß, die ihren „Onkel Willi" politisch verstand und sehr verehrte: Else Merkel geb. Blankenburg. Wie kam diese Nichte dazu, zwischen 1934 und 1936 ins Buch zu schreiben, Onkel Willi sei in Frankreich von der Gestapo umgebracht worden? Die Legende kann sich im Fe- bruar 1934 in Erfurt verbreitet haben, nachdem die Gestapo John Schehr, den beliebten Ar- beiterführer, sowie drei weitere KPD-Funktionäre (Eugen Schön- haar, Rudolf Schwarz und Erich Steinfurth) am 1. Februar in der Prinz-Albrecht-Straße bestialisch ermordet hatte. Die Legende könnte auch nach dem 30. Juni 1934 entstanden sein, als Hitler den sogenannten Röhm-Putsch erfand, um über 1000 Personen von der SS aus dqp Betten holen und auf der Stelle erschießen zu lassen, darunter bürgerliche Oppositionelle, aber auch zahl- lose SA-Führer wie Altnazi Ernst Röhm. Wer solchen ungeheuer- lichen Mordterror praktizierte, dem war auch die Ermordung Münzenbergs im Ausland zuzu- trauen. Doch in der „Nacht der langen Messer" des „Röhm-Putsches" befand Münzenberg sich auf dem Atlantik. Er reiste in die USA, um dort rechtzeitig einen Gegen- prozeß gegen den von den Nazis angekündigten, aber nie durch- geführten Prozeß gegen den KPD-Vorsitzenden Ernst Thäl- mann zu organisieren. Vom Röhm-Massaker schockiert, ge- statteten die US-Behörden Mün- zenberg sogar eine Versamm- lungstour durch die Staaten. Zehntausende Nordamerikaner und selbst bürgerliche Blätter wurden von Münzenberg zum Kampf um die Befreiung Ernst Thälmanns mobilisiert. Der Nazibotschafter in Wa- shington rannte Tag für Tag zur USA-Regierung, um gegen Mün- zenbergs Aktivität zu intervenie- ren. Von den Hitlerfaschisten ausgehaltene deutschsprachige Zeitungen in den USA hetzten gegen Münzenberg, den sie einen „bolschewistischen Juden" nann- ten, in der obskuren Annahme, damit eine doppelte Herabsetzung zu bewirken. Auch in dieser Hetz- kampagne log die Goebbels-Presse so schamlos wie gewohnt. Goeb- bels mußte wissen, daß Münzen- bergs Vater aller Wahrscheinlich- keit nach der Sohn eines Ritter- gut-Besitzers aus altem preußi- schem Adel war. Und wenn man heute das Gutshaus Zingst bei Nebra an der Unstrut, in dem ein Kinderheim untergebracht ist, näher betrachtet, dann fällt am Giebel neben der Jahreszahl der Errichtung (1665) die anmaßende Jahreszahl einer Teilrenovierung auf: 1934! Das Haus, in dem Willi Mün- zenbergs mutmaßlicher, aber un- ehelicher Großvater väterlicher- seits, der Freiherr Wilhelm Adolf von Seckendorff (1801 bis 1866) residierte, bis er sich im Preu- ßisch-Österreichischen Krieg von 1866 den Tod holte, gehörte 1934 zum Feudalbesitz der Grafen von Helldorf (früher: Helldorff). Einer von ihnen, Wolf Heinrich von Helldorf (1896 bis 1944), hatte sich besonders intensiv an der Hitlerbewegung beteiligt und war 1933 in den Reichstags- brand verstrickt. Als Polizeiprä- sident von Berlin tat er sich bei der Verfolgung von Kommuni- sten, Sozialdemokraten und links- intellektuellen Antifaschisten hervor. 1944 versuchte von Hell- dorf, Anschluß an die Wider- standsbewegung des 20. Juli zu gewinnen. Weil die Berliner Po- lizei am 20. Juli 1944 nicht gegen Stauffenberg vorging, wurde Helldorf am 15. August 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Willi Münzenberg hat das nicht mehr erlebt. Obschon 1934 fälschlich totgesagt, war ihm kein langes Leben beschie- den. Im Mai 1940, nach Beginn des „Westfeldzuges" der Nazl- wehrmacht interniert, dann in das Lager Chambaran bei Lyon übergeführt, wagte Münzenberg am 20. Juni 1940 die Flucht in Richtung Schweiz. Am 17. oder 18. Oktober 1940 wurde seine Lei- che im Wald bei Montagne im Departement Isere gefunden. Die Gendarmerie von Saint-Marcellin untersuchte den Fall, identifi- zierte den Leichnam und konsta- tierte Selbstmord1 , Via sich ein Stück Strick noch am Hals des Toten befand. Willi Münzenbergs Schwester Emmy sowie deren Kinder in Er- furt erfuhren zwar 1936, daß die Todesnachricht von 1934 falsch war; denn etwa 1936 gelang es einer anderen Nichte Münzen- bergs, einer Tochter seines Bru- ders Karl Münzenberg, den Onkel in Paris zu besuchen. Doch was in den folgenden vier Jahren geschah, hat Schwe- ster Emmy nie verläßlich erfah- ren können. Wußte sie, daß ihr Bruder sich der kommunistischen Bewegung entfremdet und sich im März 1939 von ihr gelöst hatte? Erfuhr sie, daß es we- gen unterschiedlicher Meinun- gen über die Dimensionen der Volksfront und wegen der Mos- kauer Prozesse zum Bruch ge- kommen war? Und ahnte sie, daß er, der vom ersten sozialistischen Land der Welt immer so begei- stert gesprochen hatte, sich ab etwa 1937 weigerte, in die So- wjetunion zu reisen? Ab Som- mer 1941, nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, wird Emmy Suckert oft an den Bruder ge- dacht haben. Sie starb -1944 in Erfurt. In Friemar, wo der alkoholi- sierte Vater einst seinem Sohn einen Strick in die Hand gab mit den Worten: „Du bist zu nichts zu gebrauchen, häng' Dich auf!", erinnert jedenfalls seit Montag eine schöne Messingtafel an Willi Münzenbergs wichtigste und bleibende Leistungen für die revolutionäre Arbeiterbewegung. Und auf seinem Grab im fernen Montagne liegt seit Montag ein Kranz der Sozialistischen Ein- heitspartei Deutschlands. Aufzeichnungen aus 15 Jahren proletarischer Jugendbewegung N E U E R D E U T S C H E R V E R L A G B E R L I N WS ItmuMii um einen sachlichen Dialog Namibia — eine Zeit des Wagens und Wagens Angebot für die gemeinsame Zukunft Der Rysy ließ nur von oben herab grüßen Legenden und Wahrheiten mit der Jahreszahl 1934 • 1 1 1 • • Peter Koep Tulinane Emvula Von Michael B a u f e l d Grabstein in Montagne 1914 von WILLI MÜNZENBERG M IM m Neues Deutschland / 19./20. August 1989 / Seit« 9 Reportage Gipfeltreffen vereinte Jugendliche aus acht Ländern Augenzeugenbericht aus Windhoek: Impressionen und Gespräche vor den Novemberwahlen Von Bernd G r ä ß I e r Zum 100. Geburtstag ein illustrativer biographischer Streifzug / Von Dr. Harald Wcsscl DIE DRITTE FRONT «? 3Orm7nJm»kTttf im äer ffesfaft OnfaL ÜXUIHüters ßrucfcr Emmy Suckert geb. Münzenberg, 1926 „Herrenhaus" Zingst heute Willi Münzenberg — seine frühen Jahre in Thüringen (4/Schluß)