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Erfahren Interview Sam Keller
Viele Menschen trauen sich nicht in eine Galerie
oder ein Museum. Ist Kunst halt doch elitär?
Eigentlich ist Kunst für alle da. Wie die Höhlenmale-
rei beweist, existiert die Kunst seit es Menschen gibt,
weil sie unseren Bedürfnissen entspricht, einen Aus-
druck zu finden für das, was wir denken und fühlen,
aber wofür wir keine Worte haben. Kunst wird als eli-
tär empfunden, wenn sie als Machtinstrument einge-
setzt wird, wie dies während Jahrhunderten von der
Religion, den Königshäusern und Staaten gemacht
wurde. Kunst wurde präsentiert nach
dem Vorbild antiker Tempel: prachtvoll
und Ehrfurcht gebietend.
Und das ist heute nicht mehr so?
Eigentlich nicht. Hier hat mit der mo-
dernen Kunst ein radikaler Wandel
stattgefunden: Museen bieten Work-
shops, Führungen und Künstlergesprä-
che an. Apps und Audioguides erklären
die Kunstwerke. Die Fondation Beyeler
beispielsweisebetreutjährlichHunder-
te von Schulklassen sowie mehr als
Tausend Gruppen und Vereine. Unsere
Aufgabe ist es, das breite Publikum für
ModerneKunstzuinteressieren.Kunst-
vermittlung ist demokratischer denn je.
Trotzdem: Gerade zeitgenössische
Kunst, so scheint es, will immer
irritieren. Kann sie nicht einfach
schön sein wie Mona Lisa?
Vieles, was wir heute als «schön» be-
zeichnen oder als grosse Kunst, war in
der Zeit der Entstehung umstritten
oder wurde gar abgelehnt. Das gilt für
Künstler aus der Renaissance wie
Leonardo Da Vinci, später auch für
Monet, van Gogh oder Picasso. Das
Werk bedeutender Künstler hat zu
Lebzeiten das ästhetische Empfinden
der Zeitgenossen meistens herausge-
fordert. Kunstwerke erzählen immer
etwas über die Zeit und die Umstän-
de, in der sie entstanden sind: Das
können schöne Dinge sein, aber auch
hässliche und geheimnisvolle.
Der Betrachter muss also Zeit ha-
ben, um sich mit einem Werk
vertraut zu machen. Wie geht das?
Bekanntlich führen viele Wege nach
Rom. Oder zur Kunst. Aber: Nicht jedes Kunstwerk
sprichtjedermannanundschongarnichtaufdieglei-
che Weise. Die spannendsten Kunstwerke sind oft
jene, die sich uns nicht auf den ersten Blick
erschliessen. Das ist doch bei uns Menschen ganz
ähnlich: Die, die uns gleich beim ersten Treffen
begeistern, entpuppen sich vielleicht schon bald als
oberflächlich. Und die stillen, eigenartigen offenba-
ren ihren ganzen Reichtum vielleicht erst, nachdem
wir uns mit ihnen auseinandergesetzt, sie besser
kennengelernt haben. Tja, und manchmal macht es
einfach «peng!». Das ist dann Liebe auf den ersten
Blick, die fürs ganze Leben hält.
Also gibt es die richtige Interpretation eines
Kunstwerkes gar nicht?
Nein, die gibt es nicht. Selbst die Interpretation des
Künstlers selbst ist nicht die allein gültige. Wir dürfen
dasUrteildesBetrachtersnichtausserAchtlassen,da
liegt die eigentliche Erfahrung von Kunst. Manches
Die Fondation Beyeler zeigt als erstes Schweizer Museum
eine grosse Ausstellung mit Werken des US-Künstlers
Jeff Koons. Direktor Sam Keller über Kunst und Karriere,
komische Van Goghs und Kunst auf dem Kompost.
Text:Gaston Haas; Fotos: Andri Pol
«Manchmal macht es
einfach ‹peng!› »
Zur Person
SamKeller,*1966,
brachseinStudiumder
Kunstgeschichteundder
Philosophieab,umbei
derArtBaselzujobben.
Schonbaldwarer
Kommunikationschefder
wichtigstenKunstmesse
derWelt,dannihr
Direktor.Seit2008leitet
SamKellerdieFondation
Beyeler.
Fondation Beyeler
– Ernst Beyeler (1921 – 2010)
war Galerist, Kunstsamm-
ler und Kunstmäzen aus Ba-
sel. 1984 gründete er zusam-
men mit seiner Frau Hildy die
Beyeler-Stiftung, und 1997
wurde die Fondation Beye-
ler eröffnet, mit welcher das
Paar seine weltberühmte
Kunstsammlung permanent
der Öffentlichkeit zugänglich
macht. Das Museum in Rie-
hen BS ist eines der wich-
tigsten Häuser für moderne
und zeitgenössische Kunst
der Schweiz und wurde seit
der Eröffnung von mehr als 4
Millionen Menschen besucht.
– Die Ausstellung «Jeff Koons»
ist noch bis zum 2. Septem-
ber zu sehen.
fondationbeyeler.ch
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Interview Sam Keller Erfahren
«Kunstgeschichte habe ich nur studiert, weil mir nichts Gescheiteres eingefallen ist.»:
Sam Keller hinter der Porzellanskulptur «Michael Jackson and Bubbles» von 1988.
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Erfahren Interview Sam Keller
gefällt: schön. Manches gefällt nicht: Und ist viel-
leicht auch nicht gut. Und manches ist komplizierter,
erfordert Interesse und Auseinandersetzung, fällt ei-
nem nicht einfach in den Schoss. Wer in einer länge-
renBeziehunglebt,kenntdas(lacht).Esistdochähn-
lichwiewennwirimGarteneinneuesGemüseziehen
oder ein Rezept zum ersten Mal kochen: Wir können
ein Buch lesen, Fernsehsendungen anschauen, uns
von Profis beraten lassen – oder wir pflanzen oder
kochen einfach mal drauflos und schauen, was dabei
rauskommt. Etwa so ist es mit dem Sehen von Kunst.
Weretwasoderjemandenverstehenwill,mussetwas
Zeit mitbringen.
Kunst war in Ihrer Kindheit und Jugend kein
Thema. Trotzdem waren Sie schon in jungen
Jahren Direktor der weltweit wichtigsten
Kunstmesse. Heute leiten Sie eines der bedeu-
tendsten und beliebtesten Museen der Schweiz.
Eine Karriere aus dem Märchenbuch?
Es stimmt, bei uns zu Hause gab es keine Kunst, noch
nicht mal Kunstposter hingen an der Wand. Mein
Grossvaterhat«buuret»,meinVaterwarMechaniker,
meine Mutter Krankenschwester. Deshalb war mein
Zugang zur Kunst ein ganz persönlicher. Als Schüler
habe ich bei Nachbarn zum ersten Mal Van-Gogh-
Reproduktionen gesehen und fand diese «komi-
schen» Bilder wahnsinnig spannend. Dann kamen
die Schulausflüge in die Museen, später die Skulptu-
renausstellungen, die Ernst Beyeler in öffentlichen
Parks organisiert hatte. Als Märchen erscheint mein
Weg nur im Rückblick; in der Realität war es eine Ab-
folgevonzufälligenEreignissen,dieaucheinganzan-
deres Resultat hätten zeigen können.
Immerhin haben Sie Kunstgeschichte
studiert.
Kunstgeschichte habe ich nur studiert,
weil mir nichts Gescheiteres eingefallen
ist. Und abgeschlossen habe ich ja auch
nicht. Eine Idee, was ich mit dem Studium
anfangen könnte, hatte ich nie. Ich war
einfach neugierig. Aber schon bald fehlte
mir an der Uni der Zugang zu den Künst-
lern meiner Zeit. Und so schaute ich mich
um, hatte auch Glück, dass sich immer
wieder Möglichkeiten eröffneten. Das
einzigKonstanteaufmeinemWegistwohl
tatsächlich, dass es nie einen Karrieren-
plan gegeben hat. Ausserdem hatte ich
viel Glück sowohl mit meiner Arbeit wie
mit meiner Familie.
Sie gelten als begnadeter Netzwerker.
Haben Sie nie Herzklopfen, wenn Sie vor
einer grossen Persönlichkeit stehen?
Doch doch, das war früher schon so. Und hat auch mit
meiner Herkunft zu tun: Als ich schon Direktor der
Art Basel war, schickte ich meinen Eltern Vernissage-
karten. Tags darauf rief mich meine Mutter an und
meinte: «Du, i glaub, das isch nüüt für Lüüt wie uns.»
Klar, ich habe mich als Junger jahrelang nicht getraut,
in die Galerie von Ernst Beye-
ler zu gehen. Was passiert,
wenn er mich etwas fragt und
ich weiss die Antwort nicht?
Ausserdem hab ich ja gar kein
Geld, um mir etwas zu kaufen.
So sahen meine Ängste aus
damals.Heuteistdasnatürlich
anders, mit der Zeit wurde die
Freude grösser als die Angst. Und ich hoffe, dass mein
Herz auch künftig noch «poppert», wenn ich etwas
aufregendes Neues kennenlerne.
Wie lange dauert es von der Idee einer Ausstel-
lung bis zur Vernissage?
Durchschnittlich zwischen einem und drei Jahren.
Manchmal dauerteslänger.Meisterwerkesindschwer
zu bekommen. Es braucht viel Beharrlichkeit, um
Kunstsammler zu überzeugen, sich temporär von ihren
Schätzenzutrennen.DieaktuelleSchauwarnichtganz
so kompliziert, weil ich Jeff Koons schon länger kenne.
Der Vorschlag zur Ausstellung liegt vielleicht zwei Jah-
re zurück; richtig intensiv an der Ausstellung gearbei-
tet haben wir etwa ein Jahr lang.
Jeff Koons lässt kaum jemanden kalt:
Die Bandbreite der Kritik reicht von Hass bis
Verehrung. Warum eigentlich?
Ach, das ging und geht wohl allen grossen Künstlern
so. Wie lange haben die Leute Picasso oder Warhol als
Schmierfinken und Scharlatane bezeichnet? Was neu
und anders ist, provoziert. Heute ist er einer der ein-
flussreichsten Künstler unserer Zeit und der Liebling
der Jungen. Bei Koons kommt ein biografisches Ele-
ment hinzu. Seine Ehe mit dem politisierenden Porno-
star Ilona «Cicciolina» Staller war ein Fest für die
Medien und hat die Irritationen verstärkt. Bis heute,
mehr als zwanzig Jahre danach, werden die alten Ge-
schichten immer wieder aufgewärmt, als habe sich
seither nichts getan.
Was hat sich denn getan?
Kaum jemand weiss doch, dass Koons wichtige
Kunstschulen besuchte und erst vollkommen unver-
käufliche Kunst machte. Heute ist Koons einer der
grössten Verfechter der Idee, dass Kunst für alle da
sein, den Menschen Freude und Hoffnung geben soll.
Seine Inspiration holt er aus der Populärkultur: Ge-
burtstagskuchen, Blumensträusse, Grusskarten und
GeschenkesindDinge,diedenMenschenFreudema-
Dies oder das
Picasso oder Dalí?
Picasso
Meer oder Berge?
Berge
Fisch oder Vogel?
Vogel
Stones oder Beatles?
Stones
Louvre oder Tate Modern?
Tate Modern
Auto oder öV?
Zu Fuss
«Ichhoffe,dassmeinHerzauch
künftignoch‹poppert›,
wennichetwasaufregendes
Neueskennenlerne.»
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Interview Sam Keller Erfahren
chen. Und daraus macht er dann seine handwerklich
unglaublich perfekt verarbeiteten Skulpturen und Ge-
mälde. Sie thematisieren die grossen Fragen unserer
Existenz: Kindheit und Erwachsenwerden, Vertrauen
undSelbstvertrauen,LiebeundErotik,Sehnsuchtund
Erinnerung, endliches und ewiges Leben. Koons
macht Kunstwerke, die mit dem Betrachter kommu-
nizieren. Dass das nicht immer ohne Missverständ-
nisse funktioniert, liegt auf der Hand. Schauen Sie
sich an, wie wir Menschen bisweilen miteinander
kommunizieren (lacht laut).
Der «Split-Rocker», die riesige Skulptur aus
Zehntausenden von Pflanzen im Park der Fonda-
tion Beyeler bezaubert durch ihre Blütenpracht.
Lassen sich Natur und Kunst wirklich versöhnen?
Ja, Koons zelebriert mit dieser lebenden Skulptur das
pralle Leben, den verschwenderischen Reichtum der
Natur. Elf Meter hoch ist sie, 70 000 Blumen in allen
Farbenblühendarin.EinFestdesLebens–undgleich-
zeitigeinSpielmitderEndlichkeitdieserPracht.Kunst
orientiertsichoftanderNaturundversuchthieretwas
Menschliches,Künstlicheshinzuzufügen.DieSkulptur
soll ihr Eigenleben führen dürfen. Bis zum Verblühen.
Bis zum Ende im Herbst auf dem Kompost.
Angenommen, Sie hätten den Eingang zur Kunst-
welt nicht gefunden. Was hätten Sie sein wollen?
Ich bin viel unterwegs. Und im Ausland fallen mir im-
mer wieder die Schulbusse auf, die die Kinder einsam-
melnundindenSchulhäu-
sern abliefern. Die Fahrer,
die Verantwortung tragen
für die Kinder. Und sie auf-
wachsen sehen über all die
Jahre. Das gefällt mir sehr.
Vielleicht wäre ich Schul-
busfahrer geworden. Oder
Gärtner. Gärtner sind ähn-
lich wie Museumsdirektoren. Sie wollen, dass ihre Ar-
beit – der Garten oder das Museum – schön anzuse-
henist.Beidesäen,imkonkretenundimübertragenen
Sinn. Und beide sehen das Resultat ihrer Bemühungen
womöglich erst Jahre später. Vielleicht geht die Saat
auch erst nach einer Generation auf. Dieser Gedanke
gefällt mir sehr. n
«GärtnersindähnlichwieMuseums-
direktoren.Siewollen,dassihre
Arbeit–derGartenoderdasMuseum
–schönanzusehenist.»
Inspiration aus der Populärkultur mit dem Ziel, Freude zu bereiten: Koons’ Red Balloon Dog.