Der Vortrag "Gibt es ein Recht auf Sexualität?" von Theo Kienzle (Recht in der Pflege und Betreuung, Mosbach) wurde auf der Tagung "Sexualität einen Raum geben" abgehalten, die am 24. Februar 2016 an der Universität Witten/Herdecke stattgefunden hat.
2. Beispiele aus der Praxis:
Franz T. (62 Jahre) leidet an Frontotemporaler Demenz. Sein
Sexualtrieb ist massiv ausgeprägt. Die Ehefrau kann sich seiner
sexuellen Übergriffe nicht mehr erwehren und sucht Hilfe beim
behandelnden Arzt.
Anni R. (82 Jahre) besucht täglich ihren an Demenz erkrankten
Ehemann, der seit einem Jahr in einem Pflegeheim lebt. Körperliche
Nähe war dem Ehepaar immer sehr wichtig gewesen. Jetzt teilt Herr
R. das Zimmer mit einem anderen Bewohner und Intimität und
körperliche Nähe sind nicht mehr möglich. Anni R. macht das
sehr traurig.
3. Noch Beispiele aus der Praxis:
Gerda F. (77 Jahre) ist mit ihrer Kraft am Ende. (…). Sie wird
zunehmend ängstlicher und depressiv. Was ist geschehen?
Gerda pflegt seit fünf Jahren ihren Mann, der an einer Demenz vom
Alzheimer Typ erkrankt ist. Ein ambulanter Pflegedienst unterstützt
die pflegende Ehefrau, am Wochenende kommen die Kinder zu
Besuch – eigentlich ist alles gut organisiert und vordergründig in
Ordnung. Wenn nicht das wäre, worüber Gerda bislang geschwiegen
hat, was sie nicht verstehen kann. Fast täglich „ertappt“ sie ihren
Mann. Er liegt dann im Bett, die Hände unter der Decke, und
befriedigt sich selbst. Scham kennt er keine mehr – selbst wenn
sie ins Zimmer kommt, unterbricht er sein Tun nicht. Bislang konnte
Gerda sein Verhalten geheim halten, aber als er vor kurzem einmal
die junge Krankenschwester von der Sozialstation belästigte, war
es ihr doch zu peinlich.
Quelle: Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e. V.
4. Um derartige Probleme in den Griff zu bekommen, werden
Verhaltens- und milieutherapeutische Maßnahmen empfohlen,
z.B.:
Pflege durch eine Person, die auf den Patienten möglichst
nicht sexuell anziehend wirkt,
Feedback über Unangemessenheit des Verhalten.
Entschlossenes Auftreten,
Ablenken z.B. durch Beschäftigung,
Kleidung, die sich schwer ausziehen lässt,
Milieuwechsel (z.B. Wechsel der Station),
Einheitliche Haltung aller Pflegenden,
Erwünschtes Verhalten verstärken, unerwünschtes ignorieren,
Medikamentöse Maßnahmen.
7. Einzelprobleme Sexualität
• Sexuelle Kontakte
– unter Bewohnern/Patienten mit Folgen,
insbesondere Übertragung GKrankheiten
– außerhalb mit (strafrechtlichen) Folgen
• Sexualstraftaten eines Bewohners/Patienten
gegenüber anderen
9. Artikel 1 GG
Menschenwürde:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens
und der Gerechtigkeit in der Welt.
10. Artikel 2 GG
Persönlichkeitsrecht – Leben und körperliche Unversehrtheit
- Freiheitsrecht:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt
und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In
diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen
werden.
11. Art. 2 GG
Selbstbestimmungsrecht
(Art. 2 Abs. 1 GG)
Sexuelle
Selbstbestimmung
Partnerwahl etc.
FBM
Unverletzlichkeit Körper
Recht auf Leben
(Art. 2 Abs. 2 GG)
Medikamente
12. Schutz Mitarbeiter vor Übergriffen / „Nachsorge“ - Prävention
Recht „Klient“ auf Sexualität
Persönliche Einstellung PK zu Sexualität
„Selbstverschulden“ Pflegekraft
Grenzen
Sex-Dienste im Pflegeheim
15. “Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders
abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre,
Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat
begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen
abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei
Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich
der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen
drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das
beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch
nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die
Gefahr abzuwenden.“
Anwendung § 34 StGB - Notstand
16. Prüfungsschritte Notstand
• akute Gefahr
• schützendes Rechtsgut höherwertig als
vernichtetes = Interessenabwägung
• angemessenes Mittel zum Schutz
18. Zwangsbehandlung
Zwangsbehandlungen
sind Handlungen gegen den erklärten Willen
Wertekonflikt: Gutes tun vs. Autonomie
Befürworter: Fürsorgepflicht wiegt schwerer als
Autonomie
Aber: ist Krankheitseinsicht Maßstab für
Autonomie?
20. Psychopharmaka:
Urteil BGH vom 11.10.2000: Einweisung in die Psychiatrie
nur zum Zweck der medikamentösen Behandlung gegen
den Willen des Patienten wird abgelehnt
Eine psychiatrische Unterbringung, die lediglich der
Zuführung des Patienten zur medikamentösen Therapie
diene, sei unverhältnismäßig und eine entsprechende
Rechtsgrundlage nicht gegeben. (vgl. Beschl. v.
11.10.2000 – Az.: XII ZB 69/00)
22. Novellierung in § 1906 Abs. 3 BGB
(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1
Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche
Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen,
wenn
1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder
einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit
der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser
Einsicht handeln kann,
2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit
der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,
23. Noch neuer § 1906 Abs. 3 BGB
….
3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung
nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen
drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem
Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und
5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die
zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
§ 1846 ist nur anwendbar, wenn der Betreuer an der Erfüllung
seiner Pflichten verhindert ist.
24. § 1901 Pflichten des Betreuers
(1) Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten
so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Zum
Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im
Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen
eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
(2) Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu
entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft
und dem Betreuer zuzumuten ist. …. Ehe der Betreuer
wichtige Angelegenheiten erledigt, bespricht er sie mit
dem Betreuten, sofern dies dessen Wohl nicht
zuwiderläuft.
25. dazu noch im Gesetz betreuungsrechtliche Einwilligung in
ärztliche Zwangsmaßnahme
Verfahrensrecht - § 312 FamFG): Bestellung immer
Verfahrenspfleger erforderlich
Der im Rahmen der Genehmigung Einwilligung in ärztliche
Zwangsmaßnahme tätige Sachverständige soll nicht der
zwangsbehandelnde Arzt sein,
Überschreitet Maßnahme Dauer von zwölf Wochen: Soll der
Sachverständige den Betreuten bislang weder behandelt oder
begutachtet haben, noch in der Einrichtung tätig sein, in welcher
der Betroffene untergebracht ist.
Eilverfahren möglich (§ 1846 BGB, §§ 331f. FamFG)
26. • Strafrechtliche Problematik:
• Übergriffe gg. andere Bewohner/Patienten
• Straftat durch
• Unterlassen (§ 13 StGB)
• vs. Selbstbestimmungsrecht
27. § 13 StGB Begehen durch Unterlassen
(1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der
zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach
diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich
dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt,
und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des
gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.
(2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.