Bild: Julia Bruderer - Portrait des Dichtes Felix Philipp Ingold
Felix Philipp Ingold
(*1942)
Felix Philipp Ingold
phwa.ch/ingold
Wir kommunizieren schneller und direkter.
Während die einen von »Fortschritt« reden,
sprechen die anderen von einer Krise des
Schreibens […] Als Kennzeichen dieser Krise gilt
unter Sprachpädagogen und Kulturkritikern die
angebliche Verluderung des schriftlichen
Sprachgebrauchs sowie allgemein das Schwinden
sprachlicher Kompetenzen.
»
Felix Philipp Ingold
phwa.ch/ingold
Grobe grammatikalische Schnitzer
gehen gemeinhin als blosse
Nachlässigkeiten durch, falls sie
denn überhaupt noch
wahrgenommen werden.
»
Felix Philipp Ingold
phwa.ch/ingold
Die mehrheitsfähige
Gegenwartsbelletristik ist bekanntlich
dominiert von realistisch dargebotenen
[G]eschichten, die zumeist […] als
Selbstzeugnisse ausgewiesen sind. Der
Vorrang solcher Selbsterlebensberichte
[…] trägt naturgemäss dazu bei, dass die
Literatursprache zunehmend der
Alltagssprache angenähert wird oder
dass, umgekehrt, die Alltagssprache als
Literatursprache praktiziert wird.
»
Konrad Paul Liessmann
nzz.ch/meinung/debatte/vw-1.18383545
Was sich hinter dieser hypertrophen und
vielzitierten Formulierung verbirgt: Es geht
nicht nur um die Vermittlung von
Fähigkeiten und Fertigkeiten – von
Wissen, Erkenntnis und Neugier ist
ohnehin nicht mehr die Rede –, sondern
auch um Bereitschaften, also Haltungen,
es geht um die Kontrolle und Steuerung
von inneren Beweggründen, Absichten
und sozialem Verhalten; dies mit dem Ziel,
Problemlösungen »nutzen« zu können –
was immer dies heissen mag.
»
Martin Doerry
»Schiller war Komponist«, phwa.ch/doerry
[Ein] Dialog […], der während einer
Veranstaltung für Studienanfänger der Uni
Düsseldorf von einem an die Wand
projizierten Bild Heinrich Heines ausgelöst
wurde:
Mädchen 1: Wer ist denn das da?
Mädchen 2: Keine Ahnung.
Mädchen 1: Bestimmt Schiller oder so.
Mädchen 2: Nee, Schiller war Komponist.
Mädchen 1: Echt? Dann ist das so Goethe.
Mädchen 2: Wer war das denn noch mal?
Mädchen 1: Keine Ahnung, irgendso'n Toter.
»
Hans-Albert Koch
phwa.ch/hakoch
Das Zeitalter des Lesens scheint vorbei:
Selbst ein grosser Teil der Studenten der
Germanistik liest aus eigenem Antrieb
überhaupt keine literarischen Texte – und
empfindet das nicht einmal als ein
Problem. Stattdessen sitzt man in der
Lehrveranstaltung mit uninteressiertem
Gesicht da oder versteckt sich hinter dem
Laptop. Man kann darüber die Achseln
zucken und sich zynisch gar noch in die Tasche
lügen, es ziehe da ja eine neue Art
von Literatur herauf statt eines neuen
Analphabetismus.
»
George Monibot
phwa.ch/monibot
In the future, if you want a
job, you must be as unlike a
machine as possible:
creative, critical and socially
skilled. So why are children
being taught to behave like
machines?
»
Konrad Paul Liessmann
nzz.ch/meinung/debatte/vw-1.18383545
Kein Mensch mit Sprachgefühl kann solche
Curricula lesen, ohne nicht in eine tiefe
Depression zu verfallen. Oder wie anders soll
man auf Formulierungen dieser und ähnlicher
Art reagieren: »Über Lesefähigkeiten verfügen
– Lebendige Vorstellungen beim Lesen von
Texten entwickeln – Schreibabsicht klären –
Inhalte (sic!) verstehend zuhören – zu Texten
Stellung nehmen – bei der Beschäftigung mit
Texten Sensibilität und Verständnis für
Gedanken und Gefühle und
zwischenmenschliche Beziehungen zeigen
[…]«
»
Interview mit Frank-Walter Steinmeier
ZDF, Bettina Schausten und Peter Frey
D, Februar 2017 - Quelle: www.heute.de/fws-46535124.html
Die Idee des »genauen Lesens« – also dass
man kontextualisierend liest oder dass die
Einheit eines Arguments nicht ein Satz ist,
sondern ein ganzes Kapitel oder das ganze
Buch – scheint für die Studenten von heute
vielfach Schnee von gestern. […]
Ich meine das gar nicht wertend […] jede
neue Fähigkeit ist auch ein Gewinn. Es
kommt mir so vor, dass diese jüngere
Generation heute quasi die Google-
Suchfunktion intuitiv verinnerlicht hat und
gewissermaßen granularer liest und denkt.
»
Lauraine Daston
derstandard.at/1392687126582/Wir-sollten-immer-offen-fuer-Zufaelle-sein
Zusammenfassung
Sprachkrise
Unterricht orientiert sich an
verwertbaren Problemlöseverfahren
(»Kompetenzorientierung«)
literarisches und kulturelles Wissen
verschwindet
fehlende Gesprächsbasis im Netz
mangelnde Lesefertigkeiten
Eine richtige Verarschung, aber es scheint
niemandem aufzufallen. In meiner ersten
Arbeitswoche hatte ich mich verlaufen und
trat aus Versehen in einen der Räume, wo
ein Schild mit »Betreten verboten« hängt.
Ich konnte ja nicht anders. Heutzutage wird
man in unseren Schulen nur für das spätere
Arbeitsleben vorbereitet. Lesen ist bloss ein
Freifach. Aber Gott sei Dank weiss ich, wie
ich von diesen Dummköpfen gesteuert und
kontrolliert werde, nur damit sie auf ihren
kleinen Computern Spass haben.
»
Als ich wieder bei vollem Bewusstsein
war, sass ich auf einer leuchtend
grünen Wiese, die von Blumen übersät
war. Die Sonne schien mir ins Gesicht
und er hielt mich schützend in seinen
Armen. Eine Erkenntnis traf mich
komplett unerwartet. Ich wusste
wieder, wer er war. Wie konnte ich das
nur vergessen? Er heißt Liam. »Wo sind
wir Liam?« fragte ich vorsichtig? »Du
erinnerst dich wieder«, sagte er mit
einem Grinsen im Gesicht.
»
Als ich ankomme, sehe ich eine weisse
Gestalt mit hohlen Augen und einer Blume
am Kopf, unter ihrem Mund glänzen zwei
weisse Zähne. Komisch, seit wann hat
Abigail solche Zähne? Aber sie ist endlich
da, ich will sie umarmen, mit ihr reden
und normale Sachen machen.
Aber ich renne weg. Also eigentlich will
er, dass ich wegrenne. Aber wieso will er
das? Innerlich will ich ihn anflehen und
wahrscheinlich auch töten, denn ich habe
sie nun schon ein ganzes Jahr nicht mehr
gesehen.
»
Steinig und Betzel
phwa.ch/steinig
Dieses Verhalten beruht, wie wir vermuten, auf
einer zunehmenden Individualisierung und
Differenzierung im Grundschulunterricht.
Das Schreiben in der von uns vorgegebenen […]
Situation wurde von vielen offenbar nicht als
schulisch-normatives Schreiben gewertet,
sondern als ein ‚freies‘, von der Institution
Schule unabhängiges Schreiben. Die Situation
Unterricht, in [die] unser Schreibexperiment
eingebettet war, garantiert offenbar nicht mehr
automatisch, dass in dieser Situation die
normativen Erwartungen an Textsorten,
die im Deutschunterricht üblich sind, erfüllt
werden.
»
Christa Dürscheid
phwa.ch/parlando
Die beiden Studenten schreiben, wie sie
miteinander sprechen würden. Der Grund
liegt auf der Hand: Ihr Schreiben ist
dialogisch, sie sind miteinander vertraut, der
Schreibanlass ist privater Natur. Ein
Gespräch ist es dennoch nicht, der eine kann
den anderen nicht unterbrechen,
die Kommunikation erfolgt schriftlich, nicht
(medial) mündlich, die Beiträge
werden aufgezeichnet und sind, solange der
Nachrichtenaustausch andauert,
jederzeit nachlesbar.
»
Christa Dürscheid
phwa.ch/parlando
Es gibt keine Evidenz dafür, dass das
private, dialogische Schreiben in den
neuen Medien einen Niederschlag in den
Schultexten findet. Zwar kann es vereinzelt
vorkommen, dass ein Smiley gesetzt wird,
doch die meisten Merkmale, die typisch
für das Schreiben in den neuen Medien
sind und weiter oben erwähnt wurden,
finden sich in den Schultexten nicht. Die
Schülerinnen und Schüler wissen die
beiden Schreibwelten, die private und die
schulische, zu trennen.
»
Die so genannte »Verdrängungs-
hypothese« scheint nicht haltbar,
vielmehr treten Buch und Medium in
ein Verhältnis der wechselseitigen
Beeinflussung. […] Das Lesen wird von
Jugendlichen gegenüber der
Mediennutzung als anstrengend
empfunden, […] daher wird das lineare
Lesen zunehmend von […] »switchen,
zappen, zoomen« ergänzt.
«
Christian Dawidowski
phwa.ch/dawidowski
Axel Krommer, Volker Frederking, Thomas Möbius
Die Mediensozialisation heutiger
Heranwachsender ist in einem Maße
durch die digitalen Medien geprägt […], dass
weder Deutschdidaktik noch Deutsch-
unterricht diesen Sachverhalt (länger)
ignorieren können bzw. dürfen. Hinzu kommt
der fundamentale Wandel, dem auch die
fachlichen Gegenstände des Faches Deutsch –
Sprache und Literatur – unterliegen. […]
Bewusstmachung, Reflexion und Verarbeitung
dieses medial bedingten sprachlichen und
literalen Wandels bilden zentrale Aufgaben
der Deutschdidaktik und des Deutsch-
unterrichts im Zeichen der Digitalisierung.
»
Unsere Schülerinnen und Schüler
schreiben so viel wie nie zuvor in
der Geschichte der Menschheit.
Unser Schreiben verändert sich massiv.
Die Herausforderung für die Schule
besteht darin, herauszufinden, was seine
Bedeutung ist, um für die nützlich zu
sein, die ihre Erfahrung in Kompetenzen
ummünzen möchten.
«
Jeff Grabill
phwa.ch/grabilletal
When I wake up, I have about 40 snaps from
friends. I just roll through and respond to
them. […]
No conversations…it’s mostly selfies.
Depending on the person, the selfie changes.
Like, if it’s your best friend, you make a gross
face, but if it’s someone you like or don’t
know very well, it’s more regular. […]
I don’t really see what they send. I tap
through so fast. It’s rapid fire.
(Rosen, 2016)
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?-
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?-
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.-
1) Ich han huere vel für die Prüefig glehrt.
(=Für diese Prüfung habe ich sehr viel gelernt.)
»huere« von Hure, volksetymologisch von »ungeheuer«,
hier verstärkend
2) *Huere han ich für die Prüefig glehrt.
(=Für diese Prüfung habe ich sicher nicht gelernt.)
»huere« hier Ironiemarker, gebunden an syntaktische
Position.
Zusammenfassung
sprachlichen Kontexte ändern sich
durch Digitalisierung
Sprachkrise ist versteckter Sprach-
und Kulturwandel
Jugendliche kommunizieren
zunehmend visuell, kreativ und mit
verändertem kulturellem Repertoire
Soziale Netzwerke haben die
Funktionsweise des Schreibens
revolutioniert - außer in der
Bildung.
In der Schule wird Schreiben
vernachlässigt. Wir nutzen
Methoden, die 100 Jahre alt sind.
«
Jeff Grabill
phwa.ch/grabilletal
1. der Sinn des Schreibens
2. das Publikum, das die Bedeutung des
Geschriebenen mitbestimmt
3. wie Schreiben das Denken der/des
Schreibenden beeinflusst
4. wie sich die Struktur des Textes aufgrund 1.
oder 2. verändert hat
5. welche Informationen und Ideen neu im Text zu
finden sind
1. Förderung basaler Lesekompetenz
2. Professionalisierung von Lehrkräften
3. Funktionale Lesekompetenz und
umfassende Medienkompetenz
4. Wegfall »normativer Orientierung am
klassischen Bildungskanon«
Lesen im Unterricht der Zukunft
Christian Dawidowski
phwa.ch/dawidowski
Ein Lernzugang, der
typischerweise nicht im
Schulzimmer stattfindet, relativ
unstruktriert ist und die Kontrolle
über den Lernprozess
(Bedürfnisse, Interessen etc.) dem
Lerner überlässt.
Informelles Lernen
Jeff Grabill
phwa.ch/grabilletal
Zusammenfassung
Lese- und Schreibdidaktik an
Digitalisierung anpassen
weiter Textbegriff statt Kanonbezug
Praktiken und Inhalte der Jugendkultur
im Unterricht aufgreifen, analysieren
und reflektieren
informelles Lernen zulassen und
anstoßen