Identität vs. Bildung?
Vortrag auf der 1. Arbeitstagung des Promotionskollegs
"Gestalten und Erkennen"
Bildungszentrum Wildbad-Kreuth, 13. Juli 2011
Vortragsfolien unter http://www.slideshare.net/joerissen
Benjamin Jörissen, Univ. Erlangen-Nürnberg
Da es sich bei dem vorliegenden Text um ein rohes Vortragsskript handelt, ist die
Zitation dieses Textes in wissenschaftlichen Werken - trotz cc-Lizenz - nicht erwünscht.
Für zitierfähige Texte siehe:
http://joerissen.name/publikationen/
Einleitung
Leitfrage: Womit haben wir es zu tun beim Identitätsbegriff, und wie gestaltet sich das
Spannungsfeld zwischen Identität und Bildung?
Eher historisch-pädagogisch argumentiert zur selben Fragestellung Zirfas in Zirfas/
Jörissen: Phänomenologien der Identität, der diese Problematik im Ausgang von
bildungstheoretischen Klassikern - Rousseau vs. Humboldt - entfaltet und aufzeigt, wie
hier die Bruchlinie von Identitätslogik versus Differenzlogik eine tragende Rolle spielt.
1
Diese Bruchlinie motiviert auch meinen Vortrag, wobei ich jedoch in der Gegenwart,
und bei gegenwärtigen Bildungskonzeptionen, ansetzen möchte.
Im folgenden Vortrag wird eine eher metatheoretische stark gemacht Perspektive, also
eine Reflexion auf das, was wir (wissenschaftlich, oder auch: diskurspolitisch) tun,
wenn wir im Kontext von Bildung von "Identität", oder etwa sogar in einem ähnlichen
Sinne von "Identitätsbildung" sprechen.
2
"Problemwolke mit Nebelbildung"
Fragen und Rechtfertigungsprobleme
Was bedeutet die Annahme oder Behauptung, jemand habe eine Identität?
⁃ Dass jemand ein einheitliches "Ich" besitzt oder vielmehr: ist? (Ich -> . ,
oder ?, der Punkt unter dem Fragezeichen)
⁃ Dass ein solches formal bestimmtes Ich in der Zeit mit ich identisch bleibt?
( :.:.:.:.:.:.:.:.:.: )
⁃ Dass jemand diese Einheit von Eigenschaften, und nicht anderer, ist? (A=A)
⁃ Dass jemand in diesem Sinne immer derselbe ist? (A (t1) = A (t2) = A (t3) =
… = A)
⁃ Dass jemand in einer Entwicklungslinie oder -logik derselbe bleibt? ( A0' =
A1' = A2' = A3' … )
⁃ Dass jemand nicht entfremdet ist, sondern sich mit etwas oder jemandem
identifizieren kann? Dass jemand einen festen Platz in der Welt innehat und mit sich
"eins" ist? A (innen) = A (außen)
⁃ Dass derjenige weiß, wer er ist? (Und was bedeutet dieses "Wissen", wer ruft
es hervor, auf welche Frage genau ist es eine Antwort?) . -> A !!
⁃ Dass jemand eine identifizierbare Person ist? . <- B, C, D, E
⁃ Dass jemand eine von anderen anerkannte - also mit einem bestimmten
Status, dem eine soziale Rang- oder Wertordnung entspricht, anerkannte - Person ist?
A <- B, C, D, E
⁃ Dass jemand eine Meta-Position zu seinen sozialen Rollen einnehmen kann,
und in dieser Meta-Position sich immer gleich bleibt? (Wer bleibt gleich, worin besteht
diese Gleichheit, wenn nicht ein bloß formal gedachtes Ich?)
⁃ Dass es jemandem "gelungen" ist, eigene Vorstellungen (von sich) mit
gesellschaftlichen Vorstellung auszubalancieren? (Und wäre das nicht eher eine
prozessuale und auch prekäre Form von Integration, Äquilibration oder Systembildung
als eine, die als Selbstgleichheit, gelten kann?
⁃ Oder aber ist Identität das Ergebnis einer Krise, die uns erlaubte, uns im
Rahmen einer Geschichte des Sich-verlierens und Wieder-gewinnens zu "finden"? Was
3
aber wäre die Identität gewesen, die ich vor einer Krise hatte, in welchem Sinne genau
bin ich nach der Krise noch derselbe?
-- Und wie könnte man dies bzw. eines davon, empirisch feststellen? --
Oder wir nehmen an, Identität (in einem reichhaltigeren Sinn als der bloßen zeitlichen
Gleichheit eines Ichs oder der raumzeitlichen Selbigkeit eines Körpers, der von einem
fiktionalen Beobachter als Person beobachtet wird) sei gar keine empirisch-deskriptive
Kategorie, sondern ein eher oder sogar rein normativer Begriff, der einen
möglicherweise idealen, wenn auch wahrscheinlich unerreichbaren Zustand
beschreibt. Normative Bestimmungen bedürfen - als Grundlage sozialen, insbesondere
institutionellen Handelns - besonderer Rechtfertigung: man darf erwarten, dass die
involvierten Modelle und die an ihrer Durchsetzung beteiligten Institutionen genau
wissen, worauf sie abzielen. Ist Identität also etwas, das "gebildet" werden kann und
soll? Oder eher "konstruiert"? Oder "entwickelt"? Muss sie aus einem "Selbst", um einen
nicht minder schillernden Begriff einzuführen, - aus einem irgendwie eingefalteten,
eingekapselten Selbst irgendwie herausentwickelt oder ausgewickelt werden (und nach
welchen Maßstäben, und was hätte es mit "Identität" im Wortsinn zu tun, diese von
außen gesetzte Entwicklung zu Normen hin? Muss dieses merkwürdige Innere nach
Maßgabe der je spezifischen Deutungsmuster einer jeweiligen kulturell-historischen
Situation verstanden und geformt werden - und wenn ja, wieso ausgerechnet dieser
Kultur und nicht einer anderen?
Wäre "Identität" also eine normative Kategorie, so stellt sich die Frage: Was wollen wir
denn eigentlich genau von denen, die Identität herausbilden sollen, und wie können
wir dies rechtfertigen?
-- Wer über Identität spricht, scheint viele Entscheidungen treffen zu müssen.
Das Schema der Identitätsbegriffe
1. Dimension: subjektive vs. objektive Identität. Differenzieren zwischen subjektiver,
im individuellen Bewußtsein 'lokalisierter’ Identität und objektiver, gesellschaftlicher,
qua sozialer Position oder Lebenslage verorteter Identität. An zentraler Stelle (der
Individualisierungsdebatte) wurde diese Unterscheidung von U. Beck geltend gemacht.
Erstere erschließt sich allein aus dem Handeln des Individuums; letztere besteht im
4
wesentlichen in Form 'institutionalisierter' Informationen über ein Individuum, die man
zwar aus seinem Handeln abzuleiten bestrebt sein mag, jedoch damit nicht verifizieren
kann, weil es sich um objektive (oder intersubjektive) gesellschaftliche Tatsachen
handelt. Als subjektive Identitätsbegriffe in unserem Sinn können beispielweise
sozialpsychologische ('Selbstkonzept’) betrachtet werden. Historischer Bezug:
Bereits Locke hatte implizit zwischen inneren Aspekten (Selbstbewußtsein und Person
i.S.v. 'Individualität’) und äußeren Aspekten (Identität des Körpers) unterschieden; auch
Leibniz' Monadenlehre sah die Individualität der Monade (innere, subjektive Identität)
als Reflex ihrer Stellung im Kosmos (äußere, objektive Identität).
2. Dimension: numerische vs. qualitative Identität. Die Einheit des Selbstbewußtseins,
das sich im Ich ausspricht, weist keine Qualitäten auf, sondern ist eine rein formale. Sie
ist quantitativ-numerisch, insofern sie darauf abstellt, etwas als Eines (Descartes’ res
cogitans, Lockes Self, Leibniz’ Monade; bzw. im Falle des Ausbleibens der Einheit
eben als Diffuses, in die Vielheit zerstreutes wie Kants 'vielfärbiges Selbst’) zu
charakterisieren. Hingegen sind Eigenschaften, die Individuen zugesprochen werden
(die 'denominations intrensiques' bei Leibniz, die eigene individuelle 'Natur’ bei
Rousseau) oder die es sich selbst zusprechen kann, per se qualitativer Natur. Dieses
wie von Tugendhat verwendete Kriterium geht auf Strawsons Diskussion von
qualitativer vs. numerischer Identität zurück.
3. Dimension: synchrone vs. diachrone Identität. Identität wird sehr häufig als
synchron (also primär unzeitlich) gedachter Begriff angetroffen; am diachronen Pol
entspricht diese Dimension der oben vorgestellten 'Selbigkeit’ i.S. Angehrns (1985).
Elementarkategorien
Die acht Kombinationen (welche also elementare Identitätskategorien
definieren) lauten im einzelnen:
1) subjektive numerische synchrone Identität
2) subjektive numerische diachrone Identität
3) subjektive qualitative synchrone Identität
4) subjektive qualitative diachrone Identität
5) objektive numerische synchrone Identität
6) objektive numerische diachrone Identität
5
7) objektive qualitative synchrone Identität
8) objektive qualitative diachrone Identität
Kategorie 1) 'Subjektive numerische Identität'
'Subjektive numerische Identität' ist das (formale, inhaltslose) Selbstbewußtsein, wie
etwa das Ich bei Leibniz, Kant oder Fichte, welches sich durch zwei formende
Prinzipien, nämlich innere Einheit bzw. Synthesis und Abgrenzung nach außen,
auszeichnet, so daß eine numerisch einheitliche Struktur resultiert, die sich überdies
durch Selbstbezüglichkeit und Widerspruchsfreiheit auszeichnet. Dieser
Identitätsbegriff versteht sich als diametraler Gegensatz zu subjektiver Diffusion,
Grenzverwischung und Vielheit.
In den zeitgenössischen Identitätsbegriffen findet sich diese elementare
Identitätskategorie sehr häufig, zumindest als Moment. Dies gilt offensichtlich für die in
der Tradition der klassischen Bewußtseinsphilosophie stehenden Philosophen (etwa D.
Henrich 1970, U. Pothast 1971, M. Frank 1991) sowie in Teilaspekten für die
psychoanalytischen oder nachfolgenden Begriffe der 'Ich-Identität’ (beispielsweise E.H.
Erikson 1973 und Habermas 1976).
Kategorie 2): "Subjektive numerische diachrone Identität"
Als exemplarische historische Variante dieser Kategorie mag wiederum Kants
transzendentales Ich genannt werden, diesmal in seiner Eigenschaft als diachron
synthetisierendes, selber invariables Prinzip.
Könnte man bei der synchronen Variante vielleicht von subjektiver Kohärenz
sprechen, so ließe sich die diachrone Variante als subjektive Konstanz oder Kontinuität
umschreiben.
Hierunter kann demnach auch der zeitlich-biographische 'psychodynamische'
Kohärenzaspekt verstanden werden, so dass der Eriksonsche Begriff der persönlichen
bzw. Ich-Identität v.a. auch hier verortet werden sollte. Der Ausdruck 'personale
Identität’ wird auch von G. Böhme (1996) im Sinne der zeitlichen Kohärenz
verwendet, was in (kategorialer) Übereinstimmung stünde mit den gleichermaßen hier
einzuordnenden diversen psychopathologischen, psychophysiologischen und
6
biologischen Theorien über Selbstbewußtsein und 'Ich’ (Pöppel 1993, Kuhlmann 1996,
Hildt 1996).
Kategorie 3) 'Subjektive qualitative synchrone Identität'
'Subjektive qualitative synchrone Identität' bezeichnet die subjektiv erfahrbare
'Innenwelt'. Vergleichbar den dénominations intrensiques bei Leibniz, kann man hier
ein Eigenschaftsbündel im Sinne eines subjektiven Begriffs von Individualität ansetzen.
Sozialpsychologische Identitätstheorien werden, wo sie nicht formalen
Kohärenzaspekten den Vorzug geben, vorrangig diese Inhalte unter dem Titel 'Identität'
ansprechen, wie z.!B. G.H. Meads Konzept der verschiedenen 'me’s, die die Identität
('Self') einer Person inhaltlich ausmachen. Die Einheit des 'Self' besteht aus den vom
'Self' umfaßten Qualitäten ('mes’). Als Nachfolger des 'me' bzw. 'Self' ist hier auch der
Begriff der 'Rollenidentität’ zu nennen (z.!B. Habermas 1976). Von soziologischer Seite
wäre hier außerdem der Titel 'personale’ oder 'persönliche’ Identität’ zu verorten (z.!B.
Dreitzel 1968, Habermas 1973, Döbert/Nunner-Winkler 1975, Geulen 1989, zuerst
1977) – man achte auf die völlig andere Bedeutung des Begriffs bei G. Böhme
(Kategorie 2) – sowie die kategorial sehr ähnliche Verwendung des Wortes
'Individualität’ bei Habermas (1992) oder auch bei Schimank (1985). Eine ebenso
qualitative Dimension bieten schließlich der psychoanalytische Begriff des 'Selbst’ und
die psychologische Kategorie des 'Selbstkonzepts’ (vgl. Filipp (Hrsg.) 1979).
Kategorie 4): subjektive qualitative diachrone Identität
Die Thematisierung der qualitativen zeitlichen Dimension folgt häufig dem Motiv der
'Einheit in der Veränderung’, oftmals in Verbindung mit Identitätskonzepten der
Kategorie 2). Identitätsbildung hat also, wie Erikson bereits anmerkte, einen zeitlichen
subjektiv-synthetischen (insofern formalen) 'Ich’-Aspekt als auch einen zeitlichen
objektiv-inhaltlichen 'Selbst’-Aspekt.
Eine begrifflich klare Formulierung qualitativ konstituierter temporaler Identität findet
sich bei Geulen (1989):
"[...] ein Subjekt ist mit sich in der Zeit identisch, wenn es im Ziel [der intentionalen
Handlung, B.J.] einen zukünftigen und für es selbst relevanten Zustand als zukünftigen
und für es selbst relevanten intendiert bzw. wenn es in einem erreichten Zustand noch
das Ziel wiedererkennt, das es früher intendiert hatte."
7
In dieser Perspektive kann eine kognitive zeitliche Ich-Identität (Kategorie 2) allenfalls
als notwendige, aber nicht mehr als hinreichende Identitäts-Bedingung verstanden
werden. Man könnte diese Kategorie mit dem Leibnizschen Titel der 'moralischen
Identität’ kennzeichnen.
Kategorie 5) objektive numerische Identität
Die 'objektive numerische Identität' bezeichnet den Einheitsaspekt der topischen
(qualitativ verorteten) Identitäten, z.!B. die Einheit (räumlich) und den Fortbestand
(temporal) als derselbe Körper oder die (synthetisierte) Einheit der sozialen Position.
Wie beim Begriff der subjektiven numerischen Identität stellt sein objektives Pendant
Kohärenz nach innen und Abgrenzung nach außen sicher. Habermas (1992) grenzt
diese objektiv-numerische Kategorie unter dem Titel der 'Singularität’ gegen seinen
(qualitativen) Begriff der Individualität ab, um dem Mißverständnis der Verwechslung
mit dem – in der Tat in diese Kategorie 5) gehörenden – Individualitätsbegriffs der
analytischen Philosophie (Strawson 1972, Tugendhat 1979) abzuhelfen.
Ebenfalls fallen hierunter die Identitätsbegriffe mit deiktisch-identifikativer Funktion.
Bei Goffman ist beispielsweise ein numerisch verstandener Individualitätsbegriff zu
finden, der nicht mit den qualitativen verwechselt werden darf. Irritierenderweise
betitelt Goffman diesen als "persönliche Identität", was Assoziationen an
'Persönlichkeitsfindung’ i.S.v. Selbstverwirklichung auslösen mag. Jedoch zielt
Goffman mit diesem Begriff lediglich auf die feststellbare Einmaligkeit i.S. der exakten
(forensischen) Identifizierbarkeit, etwa durch Fingerabdrücke: "Persönliche Identität hat
folglich mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert
werden kann und daß rings um dies Mittel der Differenzierung eine einzige
kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann [...]" (ebd.).
Kategorie 6) objektive numerische diachrone Identität
Die diachrone Variante dieses Identitätsbegriffs spielt v.a. in der analytisch-
philosophischen Diskussion von Identität eine Rolle, nämlich dem von Strawson
entfalteten und Tugenhat aufgenommenen Gedanken, daß die (numerische) Identität
eines Individuums bzw. irgendeines Gegenstandes allein durch Sicherung der
raumzeitlichen Kontinuität desselben festzustellen sei – dieser Identitätsbegriff
8
entspricht der klassischen Fassung bei Locke.
Möglicherweise ist hierunter auch Habermas’ (1976) Verständnis von 'natürlicher
Identität’ einzuordnen.
Kategorie 7) 'Objektive qualitative synchrone Identität'
'Objektive qualitative synchrone Identität' bezeichnet die Position innerhalb eines
objektiven (üblicherweise sozialen, kulturellen oder ökonomischen) Bezugssystems,
weswegen man diese Kategorie als soziale Identität betiteln könnte. Hierunter fällt der
sich von Durkheim herleitende Gedanke einer objektiven Individualisierung qua
Teilname an verschiedenen Gesellschaftsbereichen, der ganz ähnlich auch bei Simmel
(1983) auftaucht. Der Begriff der 'sozialen Identität' findet sich zunächst bei Goffman
wieder und in der Folge bei Habermas (1973) und Geulen (1989, zuerst 1977).
Der Individualitätsbegriff, mit U. Beck als "historisch-soziologische, als
gesellschaftsgeschichtliche Kategorie verstanden, als Kategorie, die in der Tradition der
Lebenslagen- und Lebenslaufsforschung steht", ist in Abgrenzung zum subjektiven
Identitätsbegriff (ebd.) hier zu verorten.
Kategorie 8) 'Objektive qualitative diachrone Identität’
'Objektive qualitative diachrone Identität’ kann als objektive Variante der 'moralischen
Identität’ (Kategorie 4) verstanden werden. Hier konstituiert sich nicht ein Subjekt als
Kontinuierliches, indem es seine zukünftigen bzw. vergangenen Handlungsintentionen
als seine identifiziert, sondern es konstituiert sich die Identität einer Person des
öffentlichen Austauschs (z.!B. des Handels), die ihre geäußerten Willensbekundungen
und Vereinbarungen (Verträge) durch die Zeit hindurch aufrecht erhält. Dabei ist der
Aspekt bewußtseinsmäßiger, persönlicher oder moralisch-intentionaler Identität
unerheblich; es handelt sich somit um den zeitlichen Aspekt der Identität der Person
im juristischen (vertragsrechtlichen) Sinn.
Auf der Basis der hier vorgenommenen exemplarischen Zuordnungen (und nur im
Rahmen der hier getroffenen Auswahl) lassen sich die abstrakten Kategorien
gebräuchlicheren Topoi zuordnen (quasi 'rückübersetzen’). Diese könnten wie folgt
gekennzeichnet werden:
9
1) Ich-Identität i.S. der Einheit des Ichs
2) Ich-Identität i.S. der zeitlichen Selbigkeit des Ichs
3) personale Identität i.S.v. subjektiver Individualität
4) 'moralische’ Identität
5) 'forensische’ Identität (Produkt objektiver Identifizierung)
6) raumzeitliche Identität
7) soziale Identität
8) 'juristische’ Identität
10
Das Problem der verdeckten Normativität
Historizität
Diese enorme Vielfalt von Vorstellungen über das Individuum hat ist natürlich kein
"Unfall der Geistesgeschichte", sondern hat seine guten Gründe. Wissenschaftliche
Modelle über die "Form von" Individuen sind als Diskursphänomen nichts Beliebiges;
in ihnen kommt ein Doppeltes zum Ausdruck. Sie verweisen einerseits auf ihre
diskursiven Möglichkeitsbedingungen – also die anerkannten Erklärungsmuster über
das, was ein Individuum ist, derer sie sich bedienen und die sie wiederum weitergeben
und dabei auch transformieren. Die klassischen Konzepte zur Beschreibung von
Identitätsentwicklung sind aus – jeweils unterschiedlichen – historischen und sozialen
Kontexten hervorgegangen. Sie antworten, wie Hermann Veith in seiner historisch und
zugleich metatheoretisch angelegten Studie über das "Selbstverständnis des modernen
Menschen" des 20. Jahrhunderts im Detail dargelegt hat, in je spezifischer Weise auf
die Problemlagen, Bedürfnisse und Erkenntnisinteressen ihrer Zeit (Veith 2001).
Andererseits kondensieren sich in ihnen die individuellen und zeitgeschichtlich
typischen Entwicklungsgeschichten, in welchen sich Selbstverhältnisse jeweils
ausprägen, zu Modellen und Typiken.
Theorien der Persönlichkeit und der Identität unterliegen somit einer doppelten
Historizität, die sich einerseits der soziohistorischen Lage und andererseits den
jeweiligen kulturellen Entwürfen von Kindheit, Entwicklung etc. verdankt. Je
"adäquater" solche Modelle die sie interessierenden Phänomene beschreiben, desto
mehr können sie im Rückblick einen dokumentarischen Charakter gewinnen, der die
jeweiligen Geschichten im Kontext ihrer soziohistorischen Bedingungen
rekonstruierbar werden lässt. Freuds These der infantilen Sexualität lässt sich auf diese
Weise vor dem Hintergrund der viktorianischen Gesellschaft lesen; G.!H. Meads
universalistisches Identitätsmodell entstand im Kontext der sozialen Problemlagen der
multikulturellen Einwandererstadt Chicago im späten 19. Jahrhundert; E.!H. Eriksons
gestuftes Krisenmodell lässt sich in seiner Normativität vor dem Hintergrund eines
nachkriegsbedingten Stabilisierungs- und Konsolidierungsdrucks, der sich in einem
"Verlangen nach Normalität" (ebd., S. 207) niederschlug, betrachten.
11
Ich will mit dieser Feststellung nicht etwa auf eine rigide historisierende Relativierung
von Identitätskonzeptionen hinaus. Sicherlich sind Rückgriffe auf klassische
Theoriemodelle legitim, zumal sie die Chance der Neuinterpretation und Revision, also
gleichsam um die Bearbeitung der (historischen) Differenz zur Vorlage und mithin der
Selbstverortung, bieten. Jedoch bestand zumindest lange Zeit eine vorherrschende
Praxis, klassische Modelle jenseits ihres Zeitkerns als "gültige" Beschreibungsmodelle
von Identität bzw. Identitätskonstitutionsprozessen zu sehen. Wir würden
demgegenüber dafür plädieren, klassische Identitätstheorien zunächst einmal im Sinne
Veiths als Ausdruck gesellschaftlicher Praxen der Selbstbeobachtung und
Selbstthematisierung zu betrachten und sie in diesem Sinne "einzuklammern". Löst
man sie aus diesem Kontext, so läuft man Gefahr, ihre normativen Grundlagen als
Hypothek zu übernehmen.
Geht man noch einen Schritt weiter und verwendet solche Theorien lediglich aufgrund
ihrer Erklärungsmacht dazu, ein dekontextualisiertes positives Wissen, ein pädagogisch
oder politisch umsetzbares Handlungswissen über Individuen zu erzeugen, besteht
eine potenzierte Gefahr normativer oder sogar sozialtechnologisch orientierter
Theoriebildung – einer "großen (psychosozialen) Erzählung" mit normierenden Folgen.
Denn solche Erzählungen entfalten ihre gesellschaftliche Wirkung über das ihnen
implizite Versprechen der Erreichbarkeit von Identität: Entwicklungsgeschichten sind
Narrationen über das Gelingen oder Misslingen von Identität, und ihre impliziten
Anthropologien legen die Bedingungen, die Kriterien oder Regeln dafür fest, was als
Gelingen oder als Scheitern gelten kann. Auf diese Weise wird die Identitätstheorie
selbst – über den Weg gesellschaftlicher Diskurse und (pädagogischer und anderer)
Institutionen – ein wichtiger Faktor von Prozessen der Identitätskonstitution.
Fiktionalität
Bildungstheoretisch ergiebig sind unter den genannten nur solche
Identitätskonzeptionen, die ein Subjekt mit einbeziehen - weder ist die juristische
Personalität, noch die philosophische Frage der zeitlichen Gleichheit von Individuen,
noch etwa die Frage nach der Identität Verstorbener sonderlich anschlussfähig. Gerade
diese aus der Subjektperspektive argumentierenden Modelle sind jedoch empirisch
12
nicht beobachtbar (sondern allenfalls rekonstruktiv erfassbar, wobei sowohl
Vorstellungen einer Kohärenz und Kontinuität in einem strengen Sinne in qualitativ-
empirischer Forschung kaum "nachweisbar" sein dürften. Eher würde man
unterschiedliche Grade von Fragmentierung und Diskontinuitäten finden, die mit
verschiedenen, heterogenen Strategien in einen Zusammenhang gebracht werden -
oder auch nicht).
Wenn aber Identität in diesem Sinne empirisch nicht aufweisbar ist, so Klaus
Mollenhauer, so kann es sie nur als Fiktion geben (1983, S. 158). Allerdings handelt es
sich nicht um "bloße" Fiktion, sondern sozusagen um eine funktionale. Mollenhauer
schreibt ihr zwei bildungstheoretisch bedeutsame Eigenschaften zu:
Erstens sei die Fiktion der Identität eine notwendige Bedingung des Bildungsprozesses,
"denn nur durch sie bleibt er in Gang. Identität ist eine Fiktion, weil mein Verhältnis zu
meinem Selbstbild in die Zukunft hinein offen, weil das Selbstbild ein riskanter Entwurf
meiner Selbst ist" (ebd.). Aus der Sicht des Individuums bezeichne Identität das
Verhältnis zum eigenen Selbstbild und als solches etwas, an dem "Zweifel immer
angebracht" seien (ebd., S. 159). Solchermaßen ist Identität eine notwendige Fiktion,
weil sie in Form ihrer Infragestellung – in Form von Identitätsproblemen –
bildungswirksam ist.
Als zweiten fiktionalen Aspekt an der Identität hebt Mollenhauer die Konstrukthaftigkeit
von Identität als wissenschaftlichem Beobachtungsmodell hervor. Tatsächlich, so
Mollenhauer, lasse sich das Selbstverhältnis von Kindern ja nicht unmittelbar
beobachten; "es kann nur aus den Spuren, die es hinterläßt, erschlossen werden. Und
die Regeln, denen wir dabei folgen, können wir nirgend andersher gewinnen, als aus
uns selbst und den Analogien. Deshalb ist hier das Irrtumsrisiko außerordentlich
groß" (ebd., S. 160). Die Frage ist allerdings, ob sich tatsächlich "Irrtümer", also
wissenschaftliche Unfälle, in die Beobachtungen einschreiben, oder nicht vielmehr
blinde Flecke mit systematischem Stellenwert: kulturelle Imaginationen über
Entwicklung und Entfaltung, gesellschaftliche Diskurse, Ideologien und Weltsichten.
Annette Stroß (1991; 1992) hat dieser Argumentation noch einen wichtigen Aspekt
13
hinzugefügt, indem sie Identität ebenfalls als fiktionale Kategorie ansieht, deren
Relevanz allerdings nicht zuletzt aus ihrer Wirkungsmächtigkeit als (etwa
pädagogische) Leitkategorie resultiert: Identität ist mithin nicht eine dem Individuum
immanente, bildungswirksame Fiktion und nicht nur ein theoretisches Konstrukt
akademischer Diskurse. Sie ist ein Konstrukt, das (erst) durch gesellschaftliche und
pädagogische Praxen seine Relevanz für Individuen erhält. Identität wird aus solcher
Perspektive als Zumutung erkennbar (Böhme 1996), als etwas an uns Herangetragenes,
zu dem wir uns so oder so verhalten müssen (Treuhänder-Identität, Marquard 1979).
Identitätsdiskurs und Identitätspolitik erweisen sich als untrennbar miteinander
verflochten. Der (nunmehr erkannte) real wirkungsmächtige, jedoch fiktive Status der
Identität und weiterer pädagogischer Begriffe müsste auf seine Konsequenzen hin
untersucht werden (Analyse der Diskurse und pädagogischen Praxen um Identität).
Bsp: Balance-Identität
Wie man sieht, stellt das Konzept der Identität nicht nur ein Erklärungsschema dar, also
eine "neutrale" Reflexionsgrundlage zur Analyse von Entwicklungsprozessen. Als
kulturelle in Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozessen wirksame Leitidee
erfährt das Individuum insofern Identität nicht (oder zumindest nicht nur) als eine
irgendwie "innere" Entwicklungsnotwendigkeit, sondern nicht zuletzt als Entwicklungs-
oder Bildungsaufgabe. Die Ausblendung dieses konstruktiven Charakters bewirkt, dass
Identitätsbegrifflichkeiten der theoretischen Ebene implizit normativ, und auf der
praktischen bzw. identitätspolitischen Ebene normierend und normalisierend wirkt.
Dies lässt sich am Beispiel des Konzepts ausbalancierter Identität, das in den 1970
Jahren zu den avanciertesten Modellen gehörte, nachzeichnen. Den Kern des Balance-
Modells bildet der Gedanke, dass das Individuum im Idealfall seine eigene (kognitive,
emotionale etc.) Perspektive im sozialen Raum kommunikativ geltend macht. Die
damit gegebenen Geltungsansprüche müssen argumentativ validiert werden, und dazu
müssen sie universalen Charakter aufweisen (der "zwanglose Zwang des besseres
Arguments"). Anders gesprochen: sie müssen sich "allgemein machen". Dieses
Allgemein-machen geschieht in einem doppelten Prozess: Erstens wird die subjektive
Perspektive auf intersubjektive Begriffe gebracht und dabei entsprechend zu etwas
anderem, als sie vorher war. Zweitens wird das somit auf einen universalen Nenner
14
gebrachte Eigene sozial anschlussfähig und somit potenzieller Gegenstand sozialer
Anerkennung, also der externenen Validierung und Regulation, die das Individuum
wiederum aus seiner Perspektive interpretiert und zu dem es sich wiederum im
Interaktionsprozess verhält.
Man könnte Theorien der Balance-Identität als Kompositmodelle bezeichnen, weil ihr
hervorstechendes Charakteristikum die Integration von Theorien unterschiedlichster
Provenienz und Ausrichtung in ein, wie man sagen könnte, sozial-anthropologisches
Hybridmodell darstellt – das zugleich insgesamt als anthropologisches "Normalmodell"
fungiert. Das Individuum wird darin als 1. sozial-kommunikatives, 2. rational-
kognitives und 3. emotional-voluntatives Gebilde verstanden. Die auf diese Weise
analytisch sauber voneinander getrennten Bereiche lassen sich dann auf der Basis von
Theorien getrennt behandeln, die in ihrem eigenen Bereich (allerdings nur dort)
ausgesprochen mächtig sind. Für die soziale Komponente der Identität etwa rekurriert
man auf George Herbert Mead und Erving Goffman; für den voluntativen Teil auf
(Sigmund oder Anna) Freud und für den kognitiven Part auf die kognitive
Entwicklungstheorie Jean Piagets und die moralkognitive Theorie Lawrence Kohlbergs.
Diese Bezugstheorien wurden nun primär unter dem Blickwinkel ihrer
emanzipatorischen Potentiale rezipiert und dabei, so der Bildungsphilosoph Alfred
Schäfer, zu "moralisch aufgeladene[n] und daher anstrebenswerten[n] Prinzipien des
Sich-Verhaltens" umgeformt (Schäfer 1999, S. 109): "Aus der Rollendistanz, die
Goffman als eine praktische Notwendigkeit jenseits einer Prinzipienreflexion einführte
[…], wurde sehr schnell die gesellschaftskritische Distanz des souveränen Individuums.
Aus dem analytischen Modell der Rollenübernahme Meads wurde so die normativ
gewendete Empathie des sozialen Subjekts romantischer Provenienz. Und aus der
Differenz zwischen Erwartung und Interpretation, die als solche nicht aufhebbar
scheint, wurde die Notwendigkeit der Ambiguitätstoleranz […]." Entsprechend wurde
aus dem zwischen den Triebansprüchen des ES und den Gesetzen der ÜBER-ICH
eingekeilten, stets prekären ICH der Freudschen Psychoanalyse das prinzipiell zur
Kompetenz entwickelbare starke, quasi emanzipationstaugliche ICH der Ich-
Psychologie Anna Freuds.
15
Die analytische Aufteilung der Bezugstheorien im Modell gestatten somit eine
Regulation nicht nur innerhalb der nun als getrennt konzipierten Sphären, sondern
auch der Bereiche untereinander. Diese lassen sich durch Gewichtung einer
Komponente bestimmten Theorieinteressen anpassen (Habermas vs. Geulen).
16
Identitätslogik vs. Differenzlogik
Identitätslogik als Gemeinsamkeit von Bildungs- und Identitätsbegriffe
Klassische Identitätsmodelle, von denen das Balance-Identität eines der
Fortgeschrittensten und Differenziertesten darstellt, folgen, wie man sagen könnte,
einer Identitätslogik. Sie zielen auf ein Feld familienähnlicher Vorstellungen wie
Konstanz, Kontinuität, Kohärenz, Substrathaftigkeit (das allen Veränderungen
Zugrundeliegende), Selbigkeit und Unverwechselbarkeit.
In der Geschichte der Erziehungswissenschaft sind Bildung und Identität lange Zeit
konkurrente Begrifflichkeiten gewesen: im Rahmen der "realistischen Wende" (Roth)
löste der Identitätsbegriff den als elitär und demokratietheoretisch nicht unbelastet
empfundenen Bildungsbegriff faktisch ab; die Wiederentdeckung des BIldungsbegriffs
Ende der 1980er Jahre wies den Identitätsbegriff in sozialisationstheoretische
Schranken.
Dabei bestanden durchaus Strukturähnlichkeiten. Vielleicht konnte der Identitätsbegriff
gerade deswegen beanspruchen, die als überkommen wahrgenommenen
Bildungsbegriffe der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu ersetzen (oder zu
beerben), weil er beanspruchen konnte, einige ihrer zentralen Versprechen in eine
zeitgemäße Form zu bringen:
Bildung -> Identität:
Menschwerdung -> Mündigkeit, Kommunikationskompetenz, Sozialkompetenz,
Partizipationsfähigkeit
Verschränkung von Individualität + Teilhabe am Allgemeinen -> Gesellschaftliche
Integration durch Balance von Ich und Gesellschaft im Individuum
gelingende Kultivierung -> gelingende Sozialisation (eines aktiv gedachten Subjekts in
"Auseinandersetzung mit seiner sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt")
Was beide damals konkurrenten Modelle damit - bei aller Verschiedenheit - in formaler
Hinsicht gemeinsam hatten, ist
a) Ein weltorientierter Entwicklungsgedanke (der als Grundlage dient)
b) Ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Einzelnem und Welt, an deren
Herstellung das Individuum wesentlich beteiligt ist,
17
c) Stabilität und zugleich Fortschritt der subjektiven und objektiven Verhältnisse
(Kontinuitätsmodell).
Das bürgerliche Programm der Aufklärung scheint, sei es in den frühen, noch nicht
zum kanonisierten Distinktionsinstrument heruntergekommenen Bildungskonzepten
oder in der antielitären Form der emanzipativen Identitätsmodelle, die Möglichkeit von
Identität voraussetzen zu müssen (oder dies jedenfalls zu glauben). Kaum ein Zufall,
dass die unterschiedlichen Identitätskritiken sämtlich zugleich Aufklärungskritiken sind.
Ich betone vor diesem Hintergrund deshalb das Gemeinsame, nämlich die dominante
Identitätslogik sowohl des aufklärischen Bildungsgedankens als auch des
emanzipativen Identitätsgedankens, weil m.E. beide Begriffe in seit den 1990er Jahren
eine bis heute anhaltende differenztheoretische Wende durchlaufen haben, die sie
zugleich in ein erheblich dynamischeres und fruchtbares Verhältnis zueinander setzt.
Differenztheoretische Identitätskritik
Wie sehr die Identitätskonzeptionen der 70er und der 80er Jahre - mit Auswirkungen
bis heute - eigentlich bereits entwickelte differenztheoretische Gedanken ausblendeten,
wird am Modell der Balance-Identität gut sichtbar.
Zunächst muss man sehen, dass auch identitätslogische Modelle vom Individuum - wie
das Modell der Balanceidentität - Aspekte der Differenz nicht ignorieren (können). Im
Gegenteil fungiert in ihnen Differenz als Movens einer Bewegung hin zur Identität; der
Differenzgedanke wird jedoch letztlich unter den Einheitsgedanken subsumiert (in
empirisch fragwürdiger Weise, wie Mollenhauer aufzeigte): Identität wird quasi als
Identität von Differenzen verstanden.
Das Balance-Identitätsmodell fokussiert beispielsweise - als kritisch-
gesellschaftsorientiertes Theorieprojekt - primär auf (kommunikative, soziale,
partizipative …) Kompetenzen: die Zielbestimmung ist dabei ein in gewisser Hinsicht
"fertiges", mit allem Notwendigen ausgestattetes, reflexives, kritisches,
ambiguitätstolerantes und insofern stabiles Individuum.
18
Differenzaspekte werden in dieser Subsumption unter Kohärenzaspekte erheblich
geglättet:
Was etwa bei Freud noch als unstillbarer Triebanspruch, im Instenzenmodell als das Es
einen wesentlichen Aspekt des Persönlichkeitsmodells ausmachte, wird nun zum
bloßen Gegenstand kommunikativer, genauer: expressiver Sprechakte im Rahmen einer
universalistischen Verständigungstheorie abgeflacht (vgl. Habermas 1983). Das
Freudsche ICH, eingekeilt zwischen den ungezügelten Impulsen des ES, den rigiden
Gesetzen der ÜBER-ICH und den Anforderungen der Außenwelt, weicht dem starken,
entwickelbaren, kompetenten Ich der Ich-Psychologie Anna Freuds.
Wo bei Mead die Einheit des self unmittelbar von der Einheit des gesellschaflichen
Ganzen abhängig war - mit der Folge, dass gesellschaftliche Widersprüche und
Antagonismen aus Meadscher Sicht ein einheitliches self unmöglich machten, wurde
diese bei Mead explizit de facto differente Figur als Norm gelesen, die sich jenseits
aller Widersprüche über die Einheit des intersubjektiven sprachlichen Symbols und die
synthetisierende Kraft eines entwickelten Ichs herstellen lasse.
Die ausgreifende Kritik der älteren Frankfurter Schule an der Kategorie der Identität -
von Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung auf das moderne Individuum
bezogen, in Adornos Negativer Dialektik zu einer fundamentalen Erkenntniskritik
ausgeweitet - spielt in den emanzipatorischen Modelle der neueren Frankfurter Schule
praktisch keine Rolle.
Gleichfalls findet zunächst keine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen
differenztheoretischen Ansätzen der französischen Postmoderne, insbesondere Foucault
und Derrida, statt; die spätere Diskussion zwischen Habermas und Foucault hinterlässt
identitätstheoretisch keine Spuren in der Theorie des kommunikativen Handelns.
Somit ergibt sich hierzulande die Situation, dass der Identitätsbegriff zumindest im
wissenschaftlichen Mainstream bis in die 1980er Jahre keine tiefergehende
differenztheoretische Weiterentwicklung erfuhr, so wie dies in der französischen
Postmoderne und im angelsächsischen Raum in den Gender- und später den
19
Postcolonial-Studies der Fall war.
Erst im Zuge der modernisierungstheoretischen Zeitdiagnosen der 80er und 90er Jahre
(Beck; Giddens) wurde Identität zunehmend als paradoxales lebensweltliches Problem
erkannt. Die Überlastung der Einzelnen in den enttraditionalisierten und
unübersichtlichen Verhältnissen hochkomplexer Gesellschaften, so deren Diagnose,
führe zu Fragmentierungen, als deren Gegenmittel narrative und andere Strategien der
Wiederherstellung von Kohärenz und Kontinuität in den Mittelpunkt gestellt wurden.
Identität wurde zu einer reaktiven Kategorie, die deutliche Spuren ihrer Bruchlinien
aufweist: Bastelexistenzen (Hitzler/Honer) und Patchwork-Identitäten (Keupp).
Die verloren gegangene Einheit der Identität wird dabei nicht unbedingt begrifflich-
theoretisch ratifiziert, sondern eher empirisch festgestellt. Die Feststellung, dass
Identität unter Bedingungen der Moderne nicht mehr konsistent herstellbar sei, ist
jedenfalls etwas anderes als eine grundlagentheoretische Dekonstruktion von Identität
selbst, wie sie "off-mainstream" (avant la lettre) von Nietzsche und Freud, explizit von
Heidegger, Adorno, Derrida, Foucault, Butler und vielen anderen AutorInnen betrieben
wurde.
20
Bildung und Identität
Identitäts- vs. differenzlogische Bildungsforschung am Beispiel der
Biographieforschung
Dieses paradigmatische Spannungsverhältnis zwischen identitäts- und
differenzorientiertem Denken lässt sich nun auch in der neueren Bildungstheorie
verfolgen; so etwa anhand des Themas der biographisch-narrativen Identität; der
Identität also als reflexives Projekt unter Bedingungen in Modernisierungsdynamiken.
Der moderne, formale Bildungsbegriff der Hamburger Biographieforschung um Rainer
Kokemohr (zu dessen Schülern Winfried Marotzki und Hans-Christoph Koller zählen),
beobachtet Bildung gerade in solchen Transformationsprozessen, in denen es
Individuen gelingt, den überkomplexen objektiven Lebensverhältnissen komplexere
(flexiblere, angemessenere, viablere) Wahrnehmungsmuster entgegenzusetzen. In
biographischen Narrationen spielen Identitätsvorstellungen zwar immer noch eine
Rolle - so etwa als Kohärenz der biographischen Erzählung -, jedoch werden diese
immerhin stark verzeitlicht, prozessorientiert und vor allem als hochgradig individuell
gedacht. Dennoch bleibt eine normative Identitätslogik bestehen, insofern Bildung im
Gelingen der Transformationen der Welt- und Selbstwahrnehmung erkannt wird, also
wiederum in einem, wenn auch individualisierten und risikotheoretisch gewendeten,
Balance-Modell.
Erst Ende der 1990er Jahre legt Koller eine (ebenfalls vor dem Hintergrund der
empirischen Biographieforschung begründete) Bildungstheorie vor, die im Anschluss an
J-F Lyotard nicht mehr auf Kohärenz und Konsistenz, sondern auf subversive
Differenzstrategien in der biographischen Erzählung schaut. Koller kritisiert einen -
wenn nicht den - zentralen methodischen Grundsatz der "alten" Biographieforschung
der 1980er Jahre, namentlich die Annahme eines repräsentativen Verhältnisses von
(objektivem) Lebenlauf und (narrativ konstruierter) Biographie, die Fritz Schütze als
"Erzählzwänge" bezeichnet hatte. Koller hingegen geht es nicht um den authentischen,
wahren, unverschleierten Lebenslauf, sondern um ein zugleich wahrhaftiges und
transformatives Verhältnis - um Strategien eines "anderen Erzählens", in dessen Zentrum
21
die komplexen Differenzen stehen, die in der biographischen Narration durch
rhetorische Figuren wie Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie etc. werden. Damit
liegt in der hier beobachteten (und theoretisierten) Erzählhaltung eine grundsätzliche
Offenheit, die sich nicht auf die Fest-Stellung einer authentischen, "wahren" und am
Lebenslauf "objektiv überprüfbaren" Identität verpflichten lässt, und die im Übrigen
auch nicht der Identitäts-Zumutung einer vom Individuum herzustellenden Balance
folgt. Dem subjektivierenden Machtaspekt des biographischen Sprechens in seinem
Bekenntnischarakter (Hahn/Kapp 1987) wird damit eine narrative Öffnungsstrategie
entgegengehalten, die entsprechend mit einer Form von Identität einhergeht, die
ebenso unabgeschlossen ist.
Das biographische Selbstverhältnis wird mithin auf der Basis offenerer Formen von
Identität konzipiert, auf Formen der "Repräsentation im Zeichen des Analogen" (wie
Koller im Anschluss an Ricoeur formuliert). Es geht dabei eher um Selbst-Analogien als
um Verpflichtungen zur Selbst-Gleichheit; mithin um Formen von Identität, die im
Zeichen des Tentativen, Subversiven, Experimentellen und Ästhetischen stehen.
Phänomenologien der Identität: Ein differenztheoretischer Blick auf Identität
Kollers biographietheoretischer Ansatz steht exemplarisch für die Art und Weise, in der
differenztheoretische Modelle von Bildung und Identität fruchtbar aufeinander bezogen
werden können.
Die identitätstheoretischen Beiträge der letzten 10, 20 Jahre haben eine enorme, und
durchaus heterogene Vielfalt an Phänomenen aufgezeigt und diskutiert, die durchweg
aus bildungstheoretischer Sicht hochgradig relevant sind. Identität wird zur multiplen
Chiffre der Thematisierung lebensweltlicher Differenzerfahrungen, die begrifflich zwar
nicht auf einheitliche Prinzipien reduziert werden können, die jedoch untereinander
Familienähnlichkeiten aufweisen.
----
Ich - Körper - Geschlecht - Sexualität - Entwicklung - Anerkennung - Bildung - Mimesis
- Bild - Performanz - Selbstfremdheit - Unsagbarkeit - Existenzialität - Negativität -
Fragmentarität - Hybridität - Transkulturalität - Biographie - Medialität - Virtualität -
Gehirn - …
----
22
Damit ist Identität de facto zu einem Begriff geworden, der es erlaubt, die
Heterogenität lebendiger Erfahrung im Bezug auf die sie vollziehenden Individuen
unter Bedingungen der globalisierten Moderne zu bündeln. Identität selbst ist dabei
nicht mehr (fruchtbar) als begrifflich identisch, zu fassen, sondern auch begrifflich zu
einem selbstähnlichen Phänomen geworden, so wie sie das Selbstverhältnis von
Menschen eher als Kontagion mit sich denn als Kohärenz und Kontinuität fasst. Und
vielleicht liegt gerade hierin ein Bildungsprogramm, das mein Kollege Jörg Zirfas wie
folgt zum Ausdruck bringt:
"Identität als Ähnlichkeit zu verstehen, heißt das Selbst als Metapher zu begreifen:
Identität ist mehr ein Bild, denn ein Begriff. Im: 'Das sieht mir ähnlich' klingt auch das
Ähnlichwerden, das Anähneln an. Traditionell verstanden als göttliche Anähnlichung,
als imago dei, sollte der Mensch zu dem werden, was er immer schon war: Ebenbild
Gottes. Modern ist man ein imago sui, ein individuelles Bild, dem man versucht, mehr
oder weniger gerecht zu werden. Während Gleichheit streng über Ein- und Ausschlüsse
geregelt wird, ist die Ähnlichkeit stärker an Anschlüssen und Zusammenhängen
interessiert." (Zirfas/Jörissen: Phänomenologien der Identität, Wiesbaden 2007, S. 250)
23