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DIE FERIEN SIND VORBEI
ICH SORTIERE AUS, WERFE WEG, GEBE FORT
Es ist Mitte-August, und die Temperaturen sind
endlich sommerlich. Ich drehe die Jalousien herunter
und räume auf. Gedanken zu Vergangenheit
und zu Gegenwart steigen an die Oberfläche.
ES IST ZEIT
AUFZURÄUMEN
Es ist heiss. Nichtganz soheiss wie im Mittelmeerraum, wo Hunderttausende
vonHektar in Rauch aufgegangensind. Es wird eine oderzwei Generationen
dauern, bis die Vegetation nachgewachsen ist. Hier motiviert die Hitze
trotzdemnicht wirklich zum Arbeiten… Also fange ich an aufzuräumen.
Meine Ferien sindvorüber. Arbeit wartet. Aber an die Arbeit magich nicht
wirklich denken, die Hitze, Sie wissen schon… Also lasse ich die Jalousien
herunter undbleibe in der Kühle. Es ist eine Art Ausgangssperre. Immerhin
eine freiwillige. Ich stöberein den Papierbergen, die sich in meinem Büro
stapeln, in den vollen SchränkenundSchubladen, dieErinnerungen auslösen.
©
123RF.com
ICH FINDE VON NEUEM,
WERFE WEG, VERSCHENKE
Manches, was mir gestern noch aufbewahrenswert schien, ist heute
unwichtig. Vieles werfe ich weg. Meine Regale leeren sich, undmein
Abfallkübel quillt über. Genausowie die Taschen für das «Bröckli Huus». Drin
sindDutzende vonPlastik- undKartonmäppchen, Bleistifteund
Kugelschreiber, Kleidung undalle möglichenGegenstände.
Ich werfe kein Plastik weg, ich recycle es. Eine Frage des Prinzips. Dochwas
geschieht mit den UnmengenvonPlastik, derin den Supermärkten anfällt?
Das frage ich mich schon lange... Die Chinesenwollen unsere Plastikabfälle
schonlänger nicht mehr. Wird er hier verbrannt? Steckendie giftigen
Chemikalien jetzt in der Luft, die wir atmen?
In eine Schublade, finde ich PapiermappenmitZellophanfenster ausden
1990er-Jahren. Sieerinnernmich an meinen ersten Jobin Zürich. Ichwar sehr
jung, frisch ausParis in dieses Land gekommen, das ich damals «hübsch»
nannte(heute finde ich: Die Schweiz ist schön), in demaber ein Dialekt
gesprochenwird, den ich nichtverstand.
WAS BEHALTEN?
WAS WEITERGEBEN?
Je länger ich aufräume, destomehr Erinnerungen steigen an die Oberfläche.
Erinnerungenkommenmit den FenstermappenausKarton(die damalsein
seltenes ökologischesBewusstseinzeigten), mit Bleistiften aus
unbehandeltemHolzaus Schweizer Wäldern, versehen mit demLogo der
Kommunikationsagentur, fürdie ich damals arbeitete.
Ich sortiere, mussmich entscheiden, werfe weg. Und gebe weiter. «Mankann
nie genug geben», sagte meine GrossmutterJeanneimmer. «Unddenen, die
nichts haben, mussmandasBeste geben.»
Was soll ich für meine Tochter aufbewahren? Ihrenersten Schlafanzug, ihre
ersten Schuhe, winzige orangefarbene Schühlein mit grünenundweissen
Blumen, ein paarZeichnungen, den Stoffhund Palou?Eines Tages wird sie ihre
eigenen Erinnerungen sortieren undloslassen.
Sortieren, wegräumen, verschenken, wegwerfen – um das Neuewillkommen
zu heissen. Ich will wenige Gegenständeaus meiner Vergangenheit behalten.
Ich will mich auf die Nachferienzeit vorbereiten, auf die Arbeit, die auf mich
zukommt.
Gerade jetzt aber will ich nurder Hitze hinter den heruntergelassenen
Jalousien entkommen.
Sylvie Castagné
Zürich, 15. August2021

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  • 2. ICH FINDE VON NEUEM, WERFE WEG, VERSCHENKE Manches, was mir gestern noch aufbewahrenswert schien, ist heute unwichtig. Vieles werfe ich weg. Meine Regale leeren sich, undmein Abfallkübel quillt über. Genausowie die Taschen für das «Bröckli Huus». Drin sindDutzende vonPlastik- undKartonmäppchen, Bleistifteund Kugelschreiber, Kleidung undalle möglichenGegenstände. Ich werfe kein Plastik weg, ich recycle es. Eine Frage des Prinzips. Dochwas geschieht mit den UnmengenvonPlastik, derin den Supermärkten anfällt? Das frage ich mich schon lange... Die Chinesenwollen unsere Plastikabfälle schonlänger nicht mehr. Wird er hier verbrannt? Steckendie giftigen Chemikalien jetzt in der Luft, die wir atmen? In eine Schublade, finde ich PapiermappenmitZellophanfenster ausden 1990er-Jahren. Sieerinnernmich an meinen ersten Jobin Zürich. Ichwar sehr jung, frisch ausParis in dieses Land gekommen, das ich damals «hübsch» nannte(heute finde ich: Die Schweiz ist schön), in demaber ein Dialekt gesprochenwird, den ich nichtverstand. WAS BEHALTEN? WAS WEITERGEBEN? Je länger ich aufräume, destomehr Erinnerungen steigen an die Oberfläche. Erinnerungenkommenmit den FenstermappenausKarton(die damalsein seltenes ökologischesBewusstseinzeigten), mit Bleistiften aus unbehandeltemHolzaus Schweizer Wäldern, versehen mit demLogo der Kommunikationsagentur, fürdie ich damals arbeitete. Ich sortiere, mussmich entscheiden, werfe weg. Und gebe weiter. «Mankann nie genug geben», sagte meine GrossmutterJeanneimmer. «Unddenen, die nichts haben, mussmandasBeste geben.» Was soll ich für meine Tochter aufbewahren? Ihrenersten Schlafanzug, ihre ersten Schuhe, winzige orangefarbene Schühlein mit grünenundweissen Blumen, ein paarZeichnungen, den Stoffhund Palou?Eines Tages wird sie ihre eigenen Erinnerungen sortieren undloslassen. Sortieren, wegräumen, verschenken, wegwerfen – um das Neuewillkommen zu heissen. Ich will wenige Gegenständeaus meiner Vergangenheit behalten. Ich will mich auf die Nachferienzeit vorbereiten, auf die Arbeit, die auf mich zukommt. Gerade jetzt aber will ich nurder Hitze hinter den heruntergelassenen Jalousien entkommen. Sylvie Castagné Zürich, 15. August2021