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Schweizer Auswanderung nach Russland
von Rudolf Mumenthaler
Ăśberblick ĂĽber Forschung und Thema
Der junge Basler Mathematiker Niklaus Fuss staunte nicht schlecht, als er 1773 ĂĽber
seine ersten Tage in Petersburg nach Hause berichtete:
«bey H.Grim[m] [einem Basler Kaufmann] treffe ich immer Lands Leüte an, ich kenne schon
sehr viele, es mĂĽssen dem Ansehen nach eine Menge Schweitzer hier seyn. Wenn ich mir nicht
ausserordentliche MĂĽhe gebe, so verspreche ich mir keine grossen Progressen in der Russischen
Sprache, es wird gar zu sehr Deutsch u. Französisch gesprochen.»1
Diese Aussage mag vorneweg als Antwort auf die Frage gelten, die sich wohl auch
einige von Ihnen gestellt haben mögen: Ja hat es denn überhaupt Schweizer in Russland
gegeben? Geprägt durch den Kalten Krieg kann man es sich heute kaum mehr vorstellen,
dass im Russländischen Reich einst eine stattliche Schweizer Kolonie lebte.
Nicht in erster Linie die Grösse dieser Gruppe rechtfertigt es, dass ich hier und heute im
Rahmen dieser Vorlesung ĂĽber die Geschichte der Schweizer im Zarenreich referiere.
Isoliert betrachtet, mögen die vielleicht 50'000 Schweizer eine Fussnote der Geschichte
sein. Wir können die Schweizer aber als eine repräsentative Gruppe für die Ausländer in
Russland betrachten. Und die prägten die russische Geschichte in manchen Bereichen
nachhaltig. Dominant waren dabei vor allem die deutschen Auswanderer und ihre
Nachkommen. Doch gegenĂĽber dieser kaum fassbaren Masse hat die noch
einigermassen ĂĽberschaubare Schweizergruppe den grossen Vorteil, dass sie sich als
historisches Forschungsobjekt fassen lässt.
Für die Schweiz verkörpert die Auswanderung nach Russland den Typus der
kontinentalen Migration. Und das Zarenreich spielte keineswegs eine marginale Rolle: es
war sechst oder siebent wichtigstes Zielland der Schweizer Auswanderung im 18. und 19.
Jahrhundert!
Forschungsstand
Die Tatsache, dass ich hier und heute ĂĽber das Thema der Schweizer Auswanderung
ins zaristische Russland berichten kann, ist das Ergebnis eines erfolgreichen
1
Bernoulli-Edition, Basel (BEBS): Ordner Fuss S.29ff., Brief von N.Fuss an seinen
Vater u. Mutter, SPb 25.6.1773.
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Forschungsprojekts an der Universität Zürich unter Prof. Carsten Goehrke. Zusammen mit
interessierten fortgeschrittenen Studenten fĂĽhrte er 1979 bis 1982 ein Nationalfondsprojekt
durch. In dieser Zeit sammelten 5 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Quellenmaterial fĂĽr die
sog. Pilotstudie und parallel fĂĽr ihre Dissertationen. 1985 erschien die Studie "Schweizer
im Zarenreich" im ZĂĽrcher Verlag Hans Rohr. In den folgenden Jahren konnten drei der
MitarbeiterInnen der ersten Stunde ihre Dissertationen publizieren: Urs Rauber ĂĽber die
Schweizer Industrie im Zarenreich, Gisela Balmer-Tschudin über die Schweizer Käser und
Roman BĂĽhler ĂĽber die BĂĽndner Auswanderung nach Russland. Eine Arbeit ĂĽber die
RĂĽckkehr der Russlandschweizer blieb als Lizentiatsarbeit ungedruckt. In der
Zwischenzeit war es Carsten Goehrke gelungen, weitere Lizentiandinnen und
Lizentianden fĂĽr ein Thema im Bereich der Auswanderung zu gewinnen, zu denen auch
ich gehörte. Die zweite Generation kümmerte sich nun um die Erzieherinnen, die
Theologen, die Ă„rzte und Gelehrten sowie um die Architekten und KĂĽnstler. Schliesslich
beschäftigte sich im Rahmen eines Seminars eine dritte Generation mit diesem
Themenkreis. Aus dieser Lehrveranstaltung entstanden weitere Lizentiatsarbeiten ĂĽber die
Appenzeller Auswanderung und ĂĽber die RĂĽckwanderergeneration.
Dank der geschickten Motivation von Studierenden und der Koordination einzelner
Arbeiten gelang es Carsten Goehrke, mit minimalem finanziellem Aufwand ein
Grossunternehmen erfolgreich durchzuführen. Die Ergebnisse wurden noch ergänzt
durch unabhängig von diesem Projekt entstandene Arbeiten, z.B. über die Auswanderung
aus Genf oder Neuchâtel.
Fragestellungen
FĂĽr alle diese Forschungsarbeiten wurde eine relativ verbindliche Fragestellung
formuliert. UrsprĂĽnglich ging man von einem noch viel weiter gesteckten Feld aus. Die
Auswanderung nach Russland sollte nämlich im Kontext der gesamten Schweizer
Auswanderung der Neuzeit untersucht werden. Leider bewilligte der Nationalfonds nur ein
auf Russland und Lateinamerika reduziertes Projekt. Zudem konnten fĂĽr die Bearbeitung
der Geschichte der Auswanderung nach SĂĽdamerika nur einzelne Mitarbeiter gewonnen
werden. Dieser Teil blieb also StĂĽckwerk. Immerhin erlaubt heute die Dissertation von
Heiner Ritzmann ĂĽber die Ursachen der schweizerischen Ăśberseeauswanderung einen
Vergleich, den Carsten Goehrke in seiner vergleichenden Forschungsbilanz in der
Schweizerischen Zeitschrift fĂĽr Geschichte gezogen hat.
Im Zentrum der Fragestellung des gesamten Forschungsprojekts steht ein
sozialhistorischer Ansatz, der sich neben den Ursachen der Auswanderung besonders fĂĽr
das Alltagsleben der Schweizer im Zarenreich interessiert.
Von Anfang an war die Schaffung einer Datenbank der Auswanderer geplant.
Schliesslich konnten insgesamt 3'984 berufstätige Russlandschweizer mit den wichtigsten
Lebensdaten erfasst werden. Noch auf dem Grossrechner wurden diese statistisch
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ausgewertet. Später wurde sie auf eine PC-Version migriert und von Markus Lengen im
Rahmen seiner Lizentiatsarbeit um weitere 5732 Personen ergänzt.
Untersucht wurden nicht nur die Auswanderer im engeren Sinn, die selbst die
Schweizer Heimat verlassen hatten, sondern auch deren Nachkommen, die im Zarenreich
geborenen Russlandschweizer. In der Datenbank der Russlandschweizer machen die
Auswanderer etwas mehr als die Hälfte aus.
Quellen
Es stellt sich die Frage, wie man an die Daten der Auswanderer kam. Sehr viel Material
kam durch einen Aufruf an die Russlandschweizer in der Tagespresse zusammen.
Natürlich wurde auch die Sekundärliteratur ausgewertet, ebenso Lexika. Einzelne
kantonale Archive mit ihren Passregistern wurden durchforstet, allen voran das BĂĽndner
Staatsarchiv. Eine wichtige Quelle bildete das von Erik Amburger in einem grossen
Lebenswerk zusammengestellte Amburger-Archiv in MĂĽnchen. Er befasste sich zwar mit
der deutschen Auswanderung nach Russland, behielt dabei aber auch die Schweizer im
Auge. Ein Mitarbeiter sammelte in einem längeren Aufenthalt in der damaligen
Sowjetunion Quellenmaterial in den zugänglichen Archiven von Leningrad und Moskau.
Die Doktoranden werteten zudem je nach behandeltem Thema weitere Archivquellen aus:
Firmenarchive, Familiennachlässe etc.
Es gelang gerade noch, einzelne Vertreter der RĂĽckwanderergeneration in
Tonbandinterviews ĂĽber das Leben im zaristischen Russland zu befragen. Die Zeit dazu
drängte, da die noch lebenden Augenzeugen ihr 80. Lebensjahr meist schon erreicht
hatten. Ausgewählte Tonbandinterviews wurden transkribiert und in einem Quellenband
veröffentlicht. Übrigens werden die Zeugnisse der Auswanderung, auch die zur Verfügung
gestellten Dokumente, Fotos und Erinnerungen im Russlandschweizer-Archiv aufbewahrt,
das dem Schweizerischen Sozialarchiv ĂĽbergeben worden ist.
Den wichtigsten Bestand hatte die Vereinigung der Russlandschweizer
zusammengestellt, deren Archiv und RĂĽckwandererkartei dem Projekt zur VerfĂĽgung
gestellt wurde. Die in den 1920er Jahren gesammelten Daten bildeten nun die Basis fĂĽr
die historische Forschung.
Doch dies war gar nicht unproblematisch in den Zeiten des Kalten Krieges. Eine
einflussreiche Gruppe von Russlandschweizern wehrte sich vehement gegen diese
Einmischung in ihre Geschichte. Man befĂĽrchtete Schwierigkeiten fĂĽr noch in der UdSSR
lebenden Verwandte oder gar die Bespitzelung durch den KGB. Jedenfalls beehrte sogar
die Bundespolizei das ehrwürdige Universitätsinstitut mit einem Besuch, um sich zu
vergewissern, dass hier keine nachrichtendienstliche Tätigkeit für den sowjetischen
Geheimdienst betrieben wurde.
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Heute mögen Sie über solche Anekdoten lachen. Aber bis vor 10 Jahren bewegte sich
die Osteuropaforschung auf einem politischen Minenfeld. Nur schon wer zu
Forschungszwecken in die UdSSR reiste, machte sich verdächtig.
Das auf die geschilderte Weise zusammengetragene Quellenmaterial wies gewisse
Verzerrungen auf. Einzelne Bereiche sind in der Untersuchung stark überrepräsentiert,
andere krass untervertreten. Zur ersten Gruppe gehören die Bündner Auswanderer,
hauptsächlich Konditoren von Beruf. Ein Doktorand arbeitete hier besonders gründlich und
besuchte nebst dem Staatsarchiv auch noch die Gemeindearchive. Er geht davon aus,
über 90% der tatsächlichen Auswanderer erfasst zu haben. Zur zweiten Gruppe der
Unterrepräsentierten zählen die Unterschichten. Das hat mehrere Ursachen. Einerseits
hinterlassen einfache Leute weniger auffällige historische Spuren als ihre berühmten
Zeitgenossen wie Politiker, Professoren, Offiziere, Unternehmer oder auch Pfarrer.
Dokumente, die von ihrem Alltag zeugen, werden viel eher weggeworfen, als wenn es sich
um eine prominente Persönlichkeit gehandelt hätte. Darunter hatte die Bearbeiterin der
Erzieherinnen besonders zu leiden. Zwar eruierte sie sehr viele Namen, z.B. aus
Passregistern, aber sie fand kaum weiterfĂĽhrende Angaben zu den einzelnen
Frauenschicksalen. Bei der Ausrichtung der ganzen Fragestellung auf Berufstätige wurden
vor allem die im Haushalt arbeitenden Ehefrauen nicht berücksichtigt. Ich werde später auf
allfällige Korrekturen an den Ergebnissen der Pilotstudie zurückkommen.
Verlauf der Auswanderung, soziale Herkunft
Beim zeitlichen Verlauf der Auswanderung interessierte besonders ein möglicher
statistischer Zusammenhang mit dem Konjunkturverlauf in der Schweiz. Tatsächlich
konnte eine gewisse Korrelation festgestellt werden. Die Höhepunkte der
Auswandererkurve fallen zeitlich zusammen mit den Krisen in der Schweiz der 1820er und
der 1870er Jahre. Darin unterscheidet sich die Auswanderung nach Russland nicht von
derjenigen nach anderen Ländern. Das weist darauf hin, dass die Push-Faktoren auch bei
der Emigration nach Russland ein grosses Gewicht hatten. Damit ist ein besonderer
Aspekt der Migrationsgeschichte angesprochen: Sie befasst sich immer auch mit den
HintergrĂĽnden im Heimatland, nicht nur mit dem Zielland der Auswanderung. Ich denke,
das macht einen besonderen Reiz aus.
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Von zentraler Bedeutung war die Bestimmung der sozialen Zusammensetzung der
Auswanderer. Im Vordergrund stand dabei im gesamten Forschungsprojekt die
Berufsgruppe, auf die sich auch die meisten Dissertationen beziehen.
Abb. 1: Wichtigste Berufsgruppen unter den Russlandschweizern (Quelle: Datenbank
der Russlandschweizer)
Die berufliche Zusammensetzung der Auswanderer war ĂĽber die untersuchten 200
Jahre keineswegs konstant. Es kann zwischen frühen und späten Berufen unterschieden
werden. Typische frĂĽhe Berufe waren Ă„rzte, Offiziere, Akademiegelehrte, Architekten und
Konditoren. Zu den Berufsgruppen, die erst später ins Zarenreich kamen, gehörten Käser,
Ingenieure, kaufmännische Angestellte, Unternehmer. Daneben sind aber auch einige
Dauerbrenner zu verzeichnen, die einen konstant hohen Anteil aufwiesen: vor allem
Erzieherinnen und Lehrer.
Ich habe vorher angedeutet, dass es bei dieser Zusammensetzung eine gewisse
Verzerrung gibt. Wenn man die in der Pilotstudie erfassten Daten mit dem Profil der
Rückwanderer des 20.Jahrhunderts vergleicht, fällt auf, dass die kaufmännischen und
erzieherischen Berufe die Käser und Konditoren gegenüber der Pilotstudie massiv in den
Hintergrund gedrängt haben. Das hat einerseits damit zu tun, dass sich gegen Ende des
19.Jahrhunderts die Zusammensetzung der Russlandschweizer deutlich verändert hat.
Jetzt dominierten die kaufmännischen Berufe und die Facharbeiter, bzw. Ingenieure. Bei
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Landwirt
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Pfarrer
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Handwerker
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den Erzieherinnen kann man sagen, dass sie in der Pilotstudie eindeutig
unterrepräsentiert sind. Vermutlich stellten sie sogar absolut die grösste Berufsgruppe.
Während die Pilotstudie von 342 Erzieherinnen ausging, konnte Alain Maeder in
Neuchâtel allein 1440 Auswanderer mit Erzieherberufen feststellen, 90% davon Frauen.
Man kann sich vorstellen, dass der Gesamtanteil weit ĂĽber 2000 Personen umfasste.
Abb. 2: Vergleich der Anteile der wichtigen Berufsgruppen Pilotstudie-VRS-Kartei
(Quelle: Datenbank der Russlandschweizer, VRS-Kartei)
Zu den Ursachen der Auswanderung
Leo Schelbert hat in seiner Schweizer Auswanderungsgeschichte ein Modell entwickelt,
das über die herkömmliche Frage nach den Push- und Pull-Faktoren hinausgeht. Er
betrachtet die GrĂĽnde unter drei Aspekten.2
Zunächst erfährt der potentielle Auswanderer vom möglichen Zielland und versucht sich
zu informieren, möglicherweise über bestehende Kanäle in das Land. Dies nennt
Schelbert Vorbedingungen. Unter den Auswanderungsursachen versteht Schelbert die
Verhältnisse im Heimat- und Gastland, also praktisch die klassischen pull- und push-
Faktoren. Schliesslich unterscheidet er noch die Motive auf der individuellen Ebene.
Ich meinerseits habe sein Modell in meiner Dissertation (ĂĽber Schweizer Gelehrte im
Zarenreich) weiterentwickelt. Ich hatte bei meiner Elitegruppe die Möglichkeit, in
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Schelbert (1976).
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Gesamt VRS
Landwirt
Konditor
Kaufmann
Erzieher
Architekt
Ingenieur
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Briefwechseln das Hin und Her bei der Entscheidung zu verfolgen. NatĂĽrlich verfĂĽgte ein
einfacher bäuerlicher Auswanderer nicht über dieselben Informationen über das mögliche
Zielland wie z.B. ein gebildeter Wissenschaftler. In beiden Fällen waren aber bestehende
Kontakte zu bereits ins Zielland gereisten Bekannten oder Verwandten wichtige
Informationskanäle. Bei den Zuckerbäckern und Käsern spielten diese Familienbande eine
ausgeprägte Rolle. Zwei der wichtigsten Heimatgemeinden von Russlandschweizern
waren Davos und Diemtigen, ersteres für Konditoren, zweites für Berner Käser. Das
spricht für diese dorfspezifischen Kanäle nach Russland - oder andere Länder.
Ausgehend von der von mir untersuchten sehr gut dokumentierten Elitegruppe war es
mir möglich, auch der Frage nachzugehen, warum jemand nicht ausgewandert ist. Bei
Gelehrten werden z.B. abgelehnte Berufungen auch in den Lebensläufen erwähnt, und in
den Hochschularchiven findet sich mancher Beleg ĂĽber letztlich gescheiterte
Verhandlungen. Ich gehe aber davon aus, dass jeder Auswanderer und jede Auswanderin
in diesem Spannungsfeld gestanden hat. Wenige Auswanderer haben sich den Entscheid
leicht gemacht, auch nicht die ins Zarenreich berufenen Gelehrten.
Das Modell versteht sich dynamisch, da dieselben Kräfte nach ein paar Jahren unter
veränderten Bedingungen für die Rückwanderung sorgen können. Ich kann ein Beispiel
nennen: Der berĂĽhmte Mathematiker Leonhard Euler hatte in seiner Heimat keine
ernsthaften Aussichten auf einen Lehrstuhl. An der bis ins frĂĽhe 19. Jahrhundert einzigen
Universität der Schweiz, in Basel, sass der weltbekannte Johann Bernoulli fest im Sattel.
Euler bewarb sich noch in verwandten Fachgebieten, wurde aber nicht berĂĽcksichtigt. Da
folgte er einer Empfehlung der GebrĂĽder Daniel und Niklaus Bernoulli, die zu den ersten
Professoren an der 1725 eröffneten Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg
gehörten.
Euler wirkte sehr erfolgreich an der Akademie, stieg vom Adjunkt zum ordentlichen
Professor auf und erlangte internationalen Ruf. Gleichzeitig verschlechterten sich in den
1730er Jahren die Bedingungen für Ausländer und für die Wissenschaften in Russland.
Innenpolitische Wirren sorgten fĂĽr Verunsicherung. In dieser Situation nahm Euler einen
Ruf nach Berlin an, um sich dort beim Aufbau der Akademie zu beteiligen. Höheres
Sozialprestige, Sicherheit und bessere Perspektiven gaben den Ausschlag fĂĽr den
Entscheid, mit der ganzen Familie nach Berlin zu fahren. Das Pendel schlug zugunsten
einer RĂĽckwanderung aus, wenn auch nicht in die eigentliche Heimat. Noch einmal
veränderte sich das Kräfteverhältnis. Euler fühlte sich von Friedrich dem Grossen zuwenig
geschätzt, da dieser Franzosen bevorzugte. Zudem bot sich seinen drei Söhnen keine
sichere Laufbahn. Euler verhandelte wieder mit der Akademie und der Zarin Katharina II.
Nicht zuletzt, weil seinen Söhnen eine Karriere im Staatsdienst zugesichert wurde, verliess
er mit seinem ganzen Haushalt Berlin und begab sich 1766 zum zweiten Mal nach St.
Petersburg. Bei den damaligen Verkehrsverhältnissen können wir über diese Mobilität nur
staunen.
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8
Auswanderung nein Auswanderung ja
keep-Faktoren push-Faktoren
Familie fehlende Stellung
sichere Stellung persönliche Probleme
Verwurzelung mangelnde Perspektive
Gesundheit fehlendes Sozialprestige
Schweiz
Russland
Sprachprobleme Karriere
Unsicherheit Aufstiegsmöglichkeit
Reisestrapazen Abenteuer
Klima Neugier
Risiko Sozialprestige
retain-Faktoren pull-Faktoren
Abb. 3: Auswanderungsmotive im Modell
Die Ursachen der Auswanderung veränderten sich natürlich im Laufe der Zeit und
waren von Berufsgruppe zu Berufsgruppe, zum Teil von Individuum zu Individuum
verschieden. Im Falle der Auswanderung nach Russland war dies besonders ausgeprägt,
da wir es mit einer Einzel- oder Gruppenauswanderung und nicht mit einer
Massenmigration zu tun haben. Bäuerliche Kolonisten, die z.B. als Folge einer Hungersnot
in ihrer Heimat im Zarenreich eine neue Zukunft suchten, spielten eine vergleichsweise
unbedeutende Rolle. Sicher gehörten auch Schweizer zu den hauptsächlich deutschen
Kolonisten, die unter Katharina II. in den 1770er Jahren an der Wolga angesiedelt wurden.
Aber anders als die Geschichtsschreibung noch vor einiger Zeit angesichts der Siedlungen
mit Schweizer Kantonsnamen glaubten, machten die Schweizer nur etwa 0.2 bis 0.3
Prozent der Siedler aus.
1803 verliess eine grosse Gruppe ZĂĽrcher die von politischen Wirren und
wirtschaftlicher Rezession heimgesuchte Heimat und liess sich auf der Krim nieder, wo sie
u.a. die Kolonie ZĂĽrichthal grĂĽndete. Noch einmal in der Depression von 1816/17 sahen
massenhaft Schweizer ihre letzte Hoffnung in der Auswanderung in den SĂĽden des
Zarenreichs. Verstärkt wurde der Trend noch durch religiöse Motive, die von der Prophetin
Baronin Juliane von Krüdener angeheizt wurden. Die "Gläubigen der letzten Tage" zogen
ins Land der Hoffnung, nach Kaukasien. Bei all diesen Massenbewegungen ist es
unmöglich auch nur annähernd die Zahl der Beteiligten zu eruieren. Als letzter Ausläufer
der Gruppenwanderung gilt die GrĂĽndung der Winzerkolonie Schaba an der Dnjestr-
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9
Mündung (heute Moldawien). Ähnlich wie bei den Käsern kann man bei den Weinbauern
von landwirtschaftlichen Spezialisten sprechen, die sich von der Auswanderung bessere
Berufschancen ausrechneten.
Alles in allem bilden diese Beispiele von Gruppenauswanderung eindeutig die Aus-
nahme. Die Auswanderung nach Russland ist eine Einzel- und eine Spezialistenwande-
rung, wobei – wie schon erwähnt – die Erzieherinnen und Gouvernanten oder die
Facharbeiter zwar Spezialisten darstellten, aber keine Angehörige der Elite waren.
Insofern sind die von mir behandelten Gelehrten eine recht aussagekräftige Gruppe.
Typisch fĂĽr all die Spezialisten - seien es nun industrielle Facharbeiter, Ingenieure,
Architekten, Ă„rzte, Lehrer, Kaufleute, Unternehmer oder Offiziere - ist, dass sich das
Schweizer Angebot und die russische Nachfrage auf ideale Weise entsprachen. Peter der
Grosse gründete eine Akademie, noch bevor es höhere Schulen und eigene Gelehrte gab
in Russland. Folglich mussten ausländische Wissenschaftler berufen werden. Gleichzeitig
konnte die Schweiz ihren Universitätsabgängern keine wissenschaftliche Laufbahn bieten.
Wir werden sehen, dass dies vergleichbar auch in anderen Berufsgruppen der Fall war.
Kurzer Ăśberblick ĂĽber die wichtigsten Berufsgruppen
Beginnen möchte ich mit jener Gruppe, die bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht
worden ist, gerade fĂĽr Petersburg aber eine wichtige Rolle gespielt hat: mit den
Architekten, hauptsächlich aus dem Tessin. Sie verkörpern den Typus des temporären
Auswanderers aus einer armen Region, deren Söhne traditioneller Weise ihr Auskommen
im Ausland suchen mussten. Bekanntester Vertreter dieser mehrere Hundert Auswanderer
umfassenden Gruppe war Domenico Trezzini (ca.1670–1734), der Baumeister von
St.Petersburg. Er war 1703 bei Arbeiten in Kopenhagen vom russischen Gesandten
angeworben worden, um die Bauleitung ĂĽber die neue Stadt an der MĂĽndung der Neva zu
ĂĽbernehmen. Ihm ist vor allem der Plan fĂĽr die Anlage der Stadt zu verdanken.
Entsprechend den Absichten des Zaren entstand eine westeuropäisch geprägte Stadt.
Unter Trezzinis Bauten stechen die Peter-und-Pauls-Festung mit der Kathedrale als
Wahrzeichen, das Alexander-Newski-Kloster, die Admiralität sowie die zwölf Kollegien
(heute Universität) hervor. Daneben konzipierte Trezzini auch Normhäuser.3 Die Arbeit
am Alexander-Newski-Kloster fĂĽhrte nach seinem Tod sein Verwandter Pietro Antonio
3
Caduff, Claudia: Tessiner Baumeister in Russland im 18. und 19. Jahrhundert: Die
Trezzini und Gilardi. In: Schweiz-Russland. Beziehungen und Begegnungen. Hg. von
W.G. Zimmermann. Zürich 1989, S.20–28.
10. 10
10
(1692) weiter.4
Dieser avancierte zu einem bedeutenden Kirchenbauer, doch stand er
stets im Schatten des italienischen Oberarchitekten, Bartolomeo Rastrelli. Domenico
Gilardi (1788-1845) prägte mit seinen Monumentalbauten - wie etwa der Universität oder
der Kaiserlichen Technischen Schule und zahlreichen Adelsresidenzen - das Bild des
nach dem Brand von 1812 wieder aufgebauten Moskau. Die Architekten entsprachen
genau dem Anforderungsprofil, das Russland an die Immigranten stellte: Sie waren
Spezialisten in der Steinbauweise, ĂĽber die das Zarenreich selbst nicht verfĂĽgte. Sie
prägten mit ihrer Baukultur des Spätbarock und Klassizismus das Aussehen der neuen
Hauptstadt. Auch wenn später noch Architekten den Weg ins Zarenreich fanden, gehörten
sie eindeutig zu den frĂĽhen Auswanderergruppen. Eine Lizentiatsarbeit ĂĽber die
Architekten und KĂĽnstler ist nicht zustande gekommen. DafĂĽr liegen Monographien ĂĽber
einzelne berĂĽhmte Architekten vor. Vor einigen Jahren waren gleich mehrere
Ausstellungen im Tessin der Auswanderung von Tessiner Architekten nach Russland
gewidmet.
Ich komme nun zu meiner Berufsgruppe, die zwar nicht das Aussehen, jedoch den Ruf
Petersburgs begrĂĽndet hat: die Wissenschaftler. Im 18. Jahrhundert wirkten fast alle
Schweizer Gelehrten, die im Zarenreich tätig waren, an der Akademie der
Wissenschaften. Mit dieser Institution wollte Peter der Grosse den Grundstein fĂĽr eine
eigene russische Wissenschaft legen. Als sie 1725 kurz nach dem Tode ihres Stifters
eröffnet wurde, gehörten mehrere Schweizer zu den allesamt aus dem Ausland
verpflichteten Professoren. Jakob Hermann, Daniel Bernoulli und der zwei Jahre später
nachgereiste Leonhard Euler waren die Aushängeschilder der jungen Akademie. Die
Schweizer stellten im 18. Jahrhundert 8% der Akademiemitglieder. Ihr Einfluss ĂĽberstieg
diesen quantitativen Anteil jedoch bei weitem, besonders nach der RĂĽckkehr Leonhard
Eulers im Jahre 1766. Der damals berĂĽhmteste Mathematiker brachte seinen Sohn
Johann Albrecht als Physikprofessor mit. 1769 übernahm dieser das Amt des Sekretärs
der Akademie. Damit war er für den Austausch mit westeuropäischen gelehrten
Gesellschaften, das Protokoll der Sitzungen und den Druck der Publikationen
verantwortlich. In der Person des jungen Basler Mathematikers Niklaus Fuss (1755–1825)
holte sich der inzwischen erblindete Leonhard Euler einen fähigen Mitarbeiter nach
Petersburg. Mit UnterstĂĽtzung seines Lehrers stieg er vom Gehilfen zum faktischen Leiter
der Akademie und massgeblichen Gestalter der Schulreformen unter Zar Alexander II.
auf.5
Von Johann Albrecht Euler, dessen Tochter er geheiratet hatte, ĂĽbernahm er auch
4
Da sein Vater ebenfalls Domenico Trezzini hiess und da der berĂĽhmte Architekt einen
Sohn hatte, der ebenfalls Pietro (1710–1734) hiess, werden die beiden oft
verwechselt z.B. von Caduff, S.24. Vgl. Le maestranze artistiche, S.67.
5
Mehr zu Fuss und den anderen Schweizer Sekretären der Akademie findet sich in:
Mumenthaler, Rudolf: Schweizer als Sekretäre der Akademie der Wissenschaften. In:
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das Amt des Sekretärs. Mit seinem Sohn Paul Fuss folgte 1826 ein weiterer Schweizer auf
diesem einflussreichen Posten.
1868 kam ein letzter Schweizer an die Akademie der Wissenschaften: Heinrich Wild.
Der Physiker und Meteorologe ĂĽbernahm die Leitung des physikalischen
Zentralobservatoriums in Petersburg. In dieser Funktion gelang es ihm, das ganze
Zarenreich mit einem Netz meteorologischer Stationen zu ĂĽberziehen. Zudem wurde nach
seinen Plänen das magnetische Observatorium in Pavlovsk gebaut.
Neben der Akademie bot die Hauptstadt seit 1839 einen weiteren wichtigen
Anziehungspunkt: das astronomische Observatorium von Pulkovo, das zu den besten der
Welt gehörte. Hier wirkten mehrere Schweizer, u.a. Niklaus Fuss' Sohn Georg Fuss und
dessen Sohn Viktor. Dieser sorgte dafĂĽr, dass die Nachkommen Leonhard Eulers bis ins
20. Jahrhundert hinein im Nordwesten des Zarenreichs wissenschaftlich tätig blieben.
Für Gelehrte boten auch die Ostseeprovinzen im 19. Jh. ein fruchtbares Betäti-
gungsfeld. An der Universität Dorpat lehrten zwar nur wenige Schweizer. Aber dafür
prägten Zürcher Ingenieure die Anfangszeit des - wie Dorpat deutschsprachigen -
Polytechnikums Riga, das 1862 gegrĂĽndet worden war. Es gelang, die renommierte
ZĂĽrcher Ingenieurschule in der Person mehrerer Assistenten an die DĂĽna zu verpflanzen.
Die Schweizer Bessard, Ritter und Beck wurden von weiteren Absolventen des ZĂĽrcher
Polytechnikums begleitet. Mit der Russifizierung fand ihre Ă„ra 1896 ein Ende.6
Bei der
Gründung mehrerer Universitäten und Hochschulen zu Beginn des 19. Jahrhunderts war
man wieder auf den Zuzug ausländischer Professoren angewiesen. Diesmal verhallte der
Ruf bei den Schweizern ungehört. Im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen liess sich
kein Schweizer verpflichten. Moskau oder gar Kazan' und Char'kov, nicht einmal die
Universitäten Dorpat oder St. Petersburg waren genügend attraktiv. Erst im Laufe des 19.
Jahrhunderts wagten Schweizer Gelehrten den weiten Weg an innerrussische
Hochschulen. Als ihr wichtigster Repräsentant kann ich den Präventivmediziner - damals
sagte man Hygieniker - Friedrich Erismann nennen, der als Praktiker seiner russischen
Ehefrau in ihre Heimat folgte und sich sehr stark sozial engagierte. Als Vater der
russischen Hygiene wurde er verehrt. Schliesslich wurde ihm sein Einsatz fĂĽr
demonstrierende Studenten zum Verhängnis: 1896 wurde ihm die Wiedereinreise nach
einem Ferienaufenthalt in der Schweiz verweigert. Erismann liess sich in ZĂĽrich nieder und
schlug eine politische Laufbahn ein. Nach dem sozialdemokratischen Stadtrat ist eine
Arbeitersiedlung in ZĂĽrich benannt, der Erismann-Hof.
Mit Erismann sind wir bei den Ă„rzten angelangt, einer Berufsgruppe, fĂĽr die ebenfalls
bereits und vor allem im 18. Jh. ein grosser Bedarf an Ausländern bestand. Sie fanden ihr
Bild und Begegnung. Schweizerisch-osteuropäische kulturelle Wechselseitigkeit.
Basel 1996, S.419–446.
6
Vgl. Mumenthaler, Rudolf: Die Beziehungen zwischen den Polytechnika ZĂĽrich und
Riga vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bild und Begegnung, a.a.O., S.447–464.
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bestes Auskommen in den grossen Städten. In mehreren Briefen beneidete Johann
Albrecht Euler seinen Bruder Karl um seinen Beruf als HeilkĂĽnstler. Sein Einkommen war
sehr hoch, und er konnte stets mit Geschenken zufriedener Patienten rechnen. Niklaus
Fuss verglich die materiellen Aussichten eines Mathematikers mit denjenigen eines
Arztes: Ausser an ein paar wenigen Akademien gäbe es keine Verdienstmöglichkeiten für
MesskĂĽnstler.
«Dahingegen der geschickte Arzt allerorten Brod findet, und zwar hier vorzüglich
reichlich […]. Der Anfang ist freylich, wie allerorten und in allen Dingen, schwer. Ein
Ankömmling, der nicht mächtige Empfehlungen hat, kann höchstens eine
Gouvernements- oder Divisionsarztstelle erwarten, deren jene 300 R., diese 800 R.
Gehalt abwirft, und nun kommt es darauf an, ob in der Stadt und der umliegenden
Gegend, wo er seine Residenz aufschlagen muss, genereuser Adel oder reiche
Kaufmannschaft ansässig ist, die ihm dann, wenn er erst die Sprache etwas gelernt und
sich Zutrauen erworben hat, seine BemĂĽhungen reichlich vergĂĽten. Auch pflegen reiche
Edelleute, die sich auf ihren Gütern aufhalten, Hausärzte zu halten, und mit 600, 800,
auch wol 1000 R. und freyer Station zu besolden; solche Stellen bey Particuliers fĂĽhren
aber nicht weiter und dienen bloss zu Wartestellen, die man behält, bis man etwas
besseres findet, nachdem man sich Bekanntschaften erworben hat.»7
Diese Einschätzung teilte der Luzerner Arzt Heinrich Ludwig Attenhofer in seiner zwischen
1808 und 1815 entstandenen «Medizinischen Topographie der Haupt- und Residenzstadt
St. Petersburg»: Im Staatsdienst war immer eine Stelle frei, und man konnte sich für eine
Anstellung als Hausarzt bewerben. «Unter 300 Ärzten, die sich in St. Petersburg befinden
sollen, lebt Keiner in Armuth, wohl Einige im Überfluss.»8
Wegen wachsendem
Konkurrenzdruck wurde es jedoch immer schwieriger, wohlhabende Privatpatienten zu
finden. Beim russischen Medizinwesen kann man von einer gelungenen
"Entwicklungshilfe" sprechen: Mit Hilfe der ausländischen, hauptsächlich deutschen,
Ă„rzten gelang es, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein funktionierendes
Ausbildungssystem aufzubauen. Danach wurde man von den fremden Fachleuten
unabhängig. Der Arztberuf war unter russischen Intellektuellen sehr beliebt, da er sich mit
sozialem Engagement verbinden liess. Zählte man um 1800 236 ausländische und 38
russische Ärzte, waren es 100 Jahre später 18'000 russische Mediziner. Dazu gehörten
auch einige Nachkommen von Russlandschweizern.
Bei den Schweizer Ă„rzten im Zarenreich bilden die eigentlichen Auswanderer nur die
Minderheit. Zwei Drittel stellten die Nachkommen von ausgewanderten Schweizern. Die
meisten liessen sich an der Universität Dorpat ausbilden. Sie war die wichtigste
Hochschule für Russlandschweizer der zweiten und späterer Generationen. 34
7
BEBS, Ordner Fuss S.244f., N.Fuss an seine Eltern, SPb 18./29.11.1796.
8
Attenhofer, Heinrich Ludwig: Medizinische Topographie der Haupt- und Residenzstadt
St. Petersburg. ZĂĽrich 1817, S.277. Vgl. Mumenthaler, Armuth S.49 und S.131ff.
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Schweizer Firmen mit Schweizer Angestellten. Als einzige bedeutende Berufsgruppe ist
weder fĂĽr die Kaufleute noch fĂĽr die Arbeiterschaft eine Untersuchung geplant. Enthalten
sind sie strukturell schon in Urs Raubers Dissertation, jedoch nicht als Personen. Rauber
hat gezeigt, dass das Zarenreich den Schweizer Unternehmern fast unbegrenzte
Möglichkeiten bot. Neben Zentral- und Südrussland bildeten die Hafen- und Handelsstädte
Petersburg (66 Firmen) und Riga (25 Firmen im Baltikum) wichtige Zentren
schweizerischer Aktivitäten. Im Nordwesten siedelten sich vor allem Textilunternehmen
an, Uhrenateliers, Lebensmittel-, Chemie-, Maschinen- und Holzindustrie, in Riga
ebenfalls die ostseeorientierte Holz- und die Lebensmittel- sowie die Maschinenindustrie.23
Mit 300 Millionen investierten Schweizer Franken rangierte die Schweiz vor dem Ersten
Weltkrieg auf Rang sieben unter den ausländischen Kapitalgebern. Eng verflochten mit
den intensiven Wirtschaftsbeziehungen war die Auswanderung kaufmännisch-industrieller
Berufe.
Die Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär, die man gerne mit den USA verbindet,
war auch im Zarenreich möglich. Ein Beispiel dafür ist der Schneidergehilfe Heinrich
Vollenweider, der einem französischen Schneidermeister nach St. Petersburg folgte.
Henri, wie er sich jetzt nannte, konnte das Geschäft übernehmen und machte es zur
vornehmsten Adresse in der Hauptstadt. Schliesslich wurde er gar Hofschneider. Vom
aristokratischen Leben im Hause Vollenweider erzählte Henris Enkel Eduard in einem
Tonbandinterview, das zu den faszinierendsten Quellen zur Geschichte der
Russlandschweizer gehört. Nicht nur Unternehmer, auch Facharbeiter konnten sich in
Russland einen Lebensstandard leisten, der ĂĽber dem lag, was ihnen in der Heimat
möglich gewesen wäre. Obwohl für Staatsaufträge an Ingenieure, z.B. im Eisenbahnbau,
ein russisches Staatsexamen gefordert wurde, fanden Schweizer Ingenieure ein weites
Tätigkeitsfeld vor, vorwiegend in der Privatwirtschaft. Insgesamt habe ich die Namen von
198 Schweizer Ingenieuren ermittelt, von denen zwei Drittel in der letzten Phase der
Auswanderung im Zarenreich tätig waren.
Das Leben in der Schweizer Kolonie
Neben der beruflichenTätigkeit stand in den Untersuchungen das Alltagsleben der
Russlandschweizer im Zentrum des Interesses. Wie gestaltete sich das Leben der
Schweizer in der Fremde? Eigentliche Kolonien gab es in Petersburg, Moskau und Riga.
Wichtigster Treffpunkt war die reformierte Kirche, wobei gegenĂĽber den Lutheranern kaum
Berührungsängste herrschten. Der deutschreformierte Pfarrer Johannes von Muralt rief
1814 in Petersburg die Schweizer HĂĽlfsgesellschaft ins Leben, um notleidende Landsleute
zu unterstĂĽtzen.24
Das Beispiel machte Schule, nicht nur im Zarenreich – es folgten unter
23
Rauber, Industrie S.243ff.
24
Zu den näheren Umständen vgl. Schweizer im Zarenreich S.256ff.
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Eine andere Schweizerfamilie war diejenige des deutschreformierten Schuldirektors
(Gymnasialdirektor) Margot. Ihr schlossen wir uns besonders herzlich an und sind bis
heute freundschaftlich mit ihr verbunden geblieben. In ihrem gastlichen Hause
(Schulhaus an der Moika) versammelten sich allsonntäglich zum Mittagstisch 15–20
Personen, meistens stellenlose Gouvernanten und Hauslehrer […]. In Margots Haus
trafen sich die französischen Schweizer; dort lernten wir pasteur Crottet aus Yverdon
kennen, den wir so herzlich lieben und verehren lernten, dass wir uns in seine
Gemeinde aufnehmen liessen.[…]».26
Auch in Riga hatte sich die Schweizer Kolonie organisiert, wie der Professor am
Polytechnikum, Alexander Beck zu berichten weiss:
«Um die in Riga lebenden Schweizer zu sammeln, erliess der schweizerische Konsul
R. Caviezel (aus Chur) eine Einladung an dieselben zu einer Zusammenkunft, bei
welcher die GrĂĽndung eines Schweizer-Vereins beschlossen werden sollte. Diese
GrĂĽndung wurde wirklich beschlossen (1874) und es wurden dann weiterhin die
Statuten aufgestellt. Der Zweck des Vereins sollte sein: Gesellschaftlicher Verkehr der
in Riga lebenden Schweizer und ihrer Familien und UnterstĂĽtzung hĂĽlfsbedĂĽrftiger
Schweizer in den Ostseeprovinzen. Das Lokal des Vereins war im SchĂĽtzengarten, wo
man sich jede Woche einmal zusammenfand. Ich nahm oft an diesen
Zusammenkünften teil.»27
Im Jahre 1877 zählte der Verein 41 Mitglieder, die öfters Landsleuten in bedrängter
Lage Hilfe gewährten.28
Auch ausserhalb des Vereins pflegten die Schweizer engen
Kontakt untereinander, besonders mit den Berufskollegen. Zu Becks Freundeskreis
gehörten seine Landsleute und Kollegen mit Familie, aber auch Deutsche, Deutschbalten
und Russen, mit denen er zusammenarbeitete. Die Schweizer Kolonie pflegte ihren
Zusammenhalt nicht nur am Nationalfeiertag. Auch sonst traf man sich gerne beim
Konsul.29
Nicht wegzudenken aus dem Leben im Zarenreich war der Sommeraufenthalt in
26
Wild, Rosa von: Erinnerungen. Als Manuskript gedruckt. S.l., s.a. [ZĂĽrich ca.1913],
S.46f.
27
Russslandschweizer-Archiv: Alexander Beck: Autobiographie. ZĂĽrich 1911, S.27.
28
BA: E 2400: Bericht des schweizerischen Konsuls in Riga (Hrn. Rudolf Caviezel von
Chur) ĂĽber das Jahr 1877 (vom 1./29. November 1878), S.618.
29
Marie Beck-Usteri berichtete: «Letzten Sonntag Abend waren wir zu einem diner zu
Consul MĂĽllers eingeladen, um 5 Uhr gingen wir und kamen erst um 11 Uhr nach
Hause. Es wird hier immer sehr spät, auch wenn man zum diner geladen ist. Die
Gesellschaft bestand nur aus Schweizern, aus der deutschen und französischen
Schweiz und der Abend verlief recht gemĂĽthlich. Frau Consul MĂĽller versteht es mit
ihrer Liebenswürdigkeit und Natürlichkeit ihren Gästen angenehme Stunden zu
bereiten.» Staatsarchiv Zürich, W 59: Marie Beck an Jenny Usteri, Riga
29.Nov./11.Dez. 1886.
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der Datscha, eine Sitte die sich die Ausländer gerne aneigneten. Während die
Petersburger Gelehrten des 18. Jahrhunderts sich auf einer scherzhaft «akademische
Insel» oder «lateinische Kolonie» genannten Insel erholten,30
fuhren die Rigenser an den
malerischen Ostseestrand. Einzelne Fabrikanten schufen mit ihrem Vermögen prächtige
Landgüter nach dem Vorbild des russländischen Adels.
Der schon mehrmals erwähnte Pfarrer Johannes von Muralt schuf noch einen weiteren
Kristallisationspunkt für die Schweizer in Petersburg: Er eröffnete 1811 bei der Kirche eine
Privatschule, in der er nach den Grundsätzen Pestalozzis die Kinder erzog. Zu seinen
Schülern gehörten neben Schweizern und Deutschen auch Russen aus den höchsten
Kreisen. Von Muralt schloss 1837 seine hochangesehene Schule und ĂĽbergab seine
SchĂĽtzlinge der Reformierten Kirchenschule, in der sein Werk fortgefĂĽhrt wurde. Unter
dem Rektor David Margot wurde sie 1864 in den Rang eines Gymnasiums erhoben.
Daneben gab es noch weitere deutsche Schulen, die fĂĽr eine Integration der
Russlandschweizer ins Deutschtum sorgten. Denn die eigenen Schweizer Vereine und
Zirkel bildeten bloss kleinere Zellen in der grösseren Kolonie der Deutschen, in die sich
vor allem die Deutschschweizer integrierten. Viele Russlandschweizer wuchsen
dementsprechend mit hochdeutscher Muttersprache auf - und hatten später Mühe mit der
Integration in der Schweiz.
RĂĽckwanderung
Während der Kriegsjahre fanden praktisch keine Wanderungen mehr statt.
Der grosse RĂĽckwanderungsschub setzte erst nach der Oktoberrevolution ein. Der
politisch-ideologische Umbruch veränderte vor allem die ökonomische Situation der
Russlandschweizer: Er gefährdete ihren Wohlstand und ihre berufliche Karriere. Zum Ver-
hängnis wurde ihnen, dass sie als Wirtschaftswanderer unter den Zaren stark vom System
profitiert hatten. Sie waren entweder Bestandteil der nunmehr ausgeschalteten Elite oder
aber Abhängige derselben gewesen.
Deshalb entschlossen sich die meisten Angehörigen der auf rund 8'000 Seelen31
veranlagten Russlandschweizer-Gemeinde zur RĂĽckkehr in die Heimat. Nachdem das
Eidgenössische Politische Departement in Bern32
anfangs 1918 Sammeltransporte fĂĽr
Ausreisewillige in Aussicht gestellt und mit dem Russlandschweizer-BĂĽro (RSB) eine
amtliche Stelle zur Organisation derselben geschaffen hatte, formierten sich in Petrograd
30
BEBS, Ordner Fuss S.224, N.Fuss an seine Eltern, SPb 18.8.1792. Gemeint ist
Krestovskoj Ostrov.
31
Josef Voegeli, Die RĂĽckkehr der Russlandschweizer 1917-1945 (Liz.), ZĂĽrich 1979, S.
13-15.
32
Die Vorgänger-Institution des Eidgenössischen Departements für auswärtige
Angelegenheiten (EDA).
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diplomatischer Beziehungen zur UdSSR von der Anerkennung der Schadenersatzpflicht
durch die Sowjet-Regierung abhängig machten.38
Viele RĂĽckwanderer standen in der Schweiz vor dem materiellen Nichts und litten
zudem unter dem nicht gerade gastfreundlichen Empfang: Bei ihren Landsleuten galten
sie oft als Russen, die in einer akuten Krisenzeit als unliebsame Konkurrenten bei der
Arbeitsplatz- oder Wohnungssuche sowie beim Anspruch auf Sozialleistungen empfunden
wurden.
Die massenhafte, politisch motivierte ZwangsrĂĽckwanderung in den Jahren zwischen
der Oktoberrevolution und dem Ende des Zweiten Weltkrieges fĂĽhrte praktisch zur
vollständigen Auflösung der Schweizer Kolonie in Russland bis auf wenige hundert
Personen und somit auch zum Ende der Schweizer Russlandmigration. In sowjetischer
Zeit machten sich etwas ĂĽber 100 Personen auf, um landwirtschaftliche Musterkommunen
zu gründen. Das Unternehmen endete 1929 in einem Fiasko. Unabhängig von dieser
Gruppe zog es auch einige Schweizer Linksintellektuelle und Kommunisten in die
Sowjetunion.
Dass damit die Geschichte der Russlandschweizer noch nicht fertig erzählt ist, wurde
uns klar, als Mitt der 1990er Jahre ein gewisser Jevgenij Schmuckli an der Abteilung fĂĽr
Osteuropäische Geschichte der Uni Zürich auftauchte. Er stellte sich als Präsident des
Russlandschweizer-Vereins (Sojuz Rossijskich Shvejcarcev) in Moskau vor. Nach dem
Ende der kommunistischen Herrschaft konnte man es sich wieder erlauben, sich auf seine
schweizerische Herkunft zu besinnen. Im Verein sollen mehrere Hundert Personen
organisiert sein.
Stellenwert der Schweizer fĂĽr Russland
Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Berufsgruppen oder Zeitperioden ist
fĂĽr den Stellenwert der Schweizer eine Grundtendenz vorhanden: Das Zarenreich war seit
dem 18. Jahrhundert im Begriff, sich zu modernisieren. Auf fast allen Gebieten, von der
Medizin ĂĽber die Architektur, bis zu Erziehungswesen und Technik war es auf
westeuropäisches know-how angewiesen. Dieser Nachfrage entsprach auf
schweizerischer Seite ein Angebot von Spezialisten, deren beruflichen
Entfaltungsmöglichkeiten in der Heimat eingeschränkt waren.
In dieser Verbindung entstand das aus heutiger Sicht paradox wirkende Bild vom
Zarenreich als Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Während die Masse der russischen
Bevölkerung in Armut und politischer Unmündigkeit lebte, genoss die Elite - und mit ihnen
viele Ausländer - ein Leben in Freiheit und materiellem Wohlstand.
38
Brigitte Iten, Die Schweizerisch-Sowjetischen Handelsbeziehungen in der
Zwischenkriegszeit 1918-1941 (Liz.), ZĂĽrich 1992, S. 8f.