Am 8. Dezember 2010 starten Elias Parra, Daniel Kotsch und ich zu einem Trip ostwärts in die Kordilleren, um das Trapa-Trapa-Tal zu erkunden. Bei dem Gebiet handelt es sich um eine Hochebene auf ca. 1 600 m Höhe – ungefähr 200 km von der Küste entfernt. Elias und Daniel sind zwei Freunde von mir. Elias ist Chileno und hat für Expeditionen in Chile so manchen Geheimtip parat – Daniel kommt aus dem Schwabenland und ist seit einem halben Jahr an der Schule.
Reisebericht ins Tal der Pehuenches - Traps Traps - Butalelbum
1. Bericht einer Reise ins Tal der Pehuenches
(in Erinnerung von meinem Freund Ronald Petersen, wer netterweise und sehr ausdrücklich diesen Bericht
geschrieben hat)
Am 8. Dezember 2010 starten Elias Parra, Daniel Kotsch und ich zu einem Trip ostwärts in
die Kordilleren, um das Trapa-Trapa-Tal zu erkunden. Bei dem Gebiet handelt es sich um
eine Hochebene auf ca. 1 600 m Höhe – ungefähr 200 km von der Küste entfernt. Elias
und Daniel sind zwei Freunde von mir. Elias ist Chileno und hat für Expeditionen in Chile
so manchen Geheimtip parat – Daniel kommt aus dem Schwabenland und ist seit einem
halben Jahr an der Schule.
Das Trapa-Trapa-Tal gehört zu einem Gebiet, das die Pehuenche-Indianer – die
Ureinwohner dieser Region – der chilenischen Regierung schon vor längerer Zeit
„abgetrotzt“ haben. Zur Zeit der Eroberung durch die Spanier hatten sich die Mapuche in
dieser Region heftig gegen eine Eroberung ihres Lebensraumes gewehrt. Immer wieder
gab es blutige Überfälle der Pehuenche auf die „neuen Besatzer“ – willens eine Annektion
ihres Gebietes durch die Fremden nicht hinzunehmen. Die Spanier konnten die
indianischen Nomaden nicht in die Knie zwingen und akzeptierten schliesslich nolens
volens den Bio-Bio-Fluss als Grenze, und so erheben die Indianer bis heute einen
Autonomie-Anspruch, der ihnen von der Regierung mittlerweile offiziell gewährt wurde.
Somit ist also das Trapa-Trapa-Tal neben vielen anderen Gebieten in den Anden im
Süden Chiles kein Indianerreservat, sondern ein autonomes Gebiet, in das über eine
reguläre Grenzkontrolle eingereist werden muss. Wir passieren am Nachmittag diesen
Grenzposten, aber niemand scheint an uns interessiert zu sein und so fahren wir
unbehelligt weiter bis wir die Hochebene erreichen.
Auf dieser Hochebene leben ca. 300 Pehuenche-Familien – insgesamt ungefähr 5000
2. Menschen. Natürlich leben sie sehr „westlich“ beeinflusst mit Fernsehen, Radio und
Telefon. Hier und da passieren wir „Supermärkte“, die allerdings wie „Tante Emma-Läden“
im Bruchbudenformat aussehen. In den Regalen liegen wenig Waren. Es gibt einige
Früchte und ein bisschen Gemüse. Kartoffeln finden wir nicht. Dafür 2 Liter Coca-Cola
Plastikflaschen in Hülle und Fülle. Da wir keinen eigenen Proviant mitgenommen haben
und uns ein bisschen der Hunger plagt, beschliessen wir, unsere restlichen Früchte zu
vertilgen. Kein Fleisch heute.
Wir fragen im ersten „Supermarkt“, ob wir unseren Jeep unten am Fluss parken und dort
auch unser Nachtlager aufschlagen dürfen. Kein Problem. Die Einheimischen scheinen
zwar nicht sehr begeistert über unsere Anwesenheit zu sein, aber immerhin werden wir
geduldet.
Wir finden schliesslich eine Wiese neben dem Fluss und beschliessen hier die Nacht zu
verbringen. Es ist nicht sehr kalt und Elias und Daniel meinen, sie könnten auf das kleine
Zelt verzichten und einfach unter dem Sternenhimmel nächtigen. Die Nacht kommt schnell
und ehe wir es richtig begreifen ist es dunkel. Elias holt den kleinen Gaskocher aus dem
Gepäck, um doch noch ein kleines Abendessen zu bereiten. Der Kocher gibt nach ein
paar Sekunden den Geist auf – kein Gas mehr und eine neue Gaspatrone findet sich
nicht im Gepäck. Folglich wird eine Flasche Wein geöffnet. Unsere leeren Mägen knurren
jetzt jedenfalls nicht mehr so laut und wir bestaunen den Sternenhimmel, der sich bis zum
Horizont hinunterzieht.
Wir haben keine Vorstellung von dem, was die Nacht bringen wird und sind dank des
Weines aber auch nicht sonderlich besorgt. Elias und Daniel kriechen schliesslich links
und rechts vom Jeep in ihre Schlafsäcke während ich es mir hinten im Wagen bequem
einrichte. Ich habe sicherheitshalber mein Federbett mitgebracht und schlafe wie im
siebten Himmel.
Erst am Morgen sehen wir richtig, wo wir eigentlich gelandet sind. Unser Schlafplatz liegt
mitten im Hochtal – umgeben von den Anden die unsere Hochebene zu einem Talkessel
machen. Über den Bergkämmen im Norden liegt eine Wolke, die wie ein Fallschirm
aussieht – oben etwas abgerundet und wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten.
Keiner von uns weiss so richtig wie das gedeutet werden muss.
Aber das Wetter ist schön, die Sonne scheint und die Temperaturen sind angenehm. Um
uns herum kaum Aktivitäten. Es scheinen hier wenig Leute zu wohnen.
Dank unseres fehlenden Proviants gibt es kein Frühstück. Elias meint, wir könnten
irgendwo anklopfen und um ein Frühstück bitten – selbstverständlich gegen angemessene
Bezahlung. „Vielleicht schlachten die ja auch ein Schaf oder eine Ziege für uns!“ meint er.
Ich habe meine Zweifel aber Elias sollte Recht behalten ...
Weiter geht´s zunächst mit dem Jeep über unwegsames Gelände. Links und rechts von
uns türmen sich die Anden hoch auf und einige Spitzen sind schneebedeckt. Wir
durchfahren einige Wasserläufe und der Weg – noch nicht mal ein Jeep-Track – wird
immer schlechter und unwegsamer. Wir fahren nur noch im Schrittempo. Hier oben sind
3. uns nur zwei oder drei andere Jeeps begegnet – es dominieren die Vierbeiner, von denen
hin und wieder einer zu sehen ist. Die „ Vasos“ sitzen in stolzer Haltung auf ihren Pferden,
meist behängt mit Poncho und einem Hut mit breiter Krempe auf dem Kopf.
Wir wollen in einem „Supermarkt“ etwas einkaufen. Vielleicht gibt´s ja ein paar Kekse oder
ähnliches. Wir halten also neben einer dieser wenigen Bretterbuden – ich möchte auf
keinen Fall abwertend sein, aber anders kann man diese „shacks“ wirklich kaum
bezeichnen – und werden erst einmal von wütendem Hundegebell begrüsst. Elias schiebt
eine rostige Pforte zur Seite und ruft laut „Hola“. Einen Augenblick später kommt eine
junge Frau aus dem Haus und begrüsst uns freundlich. Sie schliesst ihren „Laden“ auf und
– ja , hier gibt es offensichtlich auch keine grosse Auswahl. Hinter einem Holztresen aus
Balken finden sich zwei Holzregale mit jeweils drei breiten Brettern, auf denen einige
Sachen liegen. Kekse bekommen wir nicht, aber ein paar Chips und etwas zu trinken.
Auch hier fragen wir umsonst nach Kartoffeln.
Bisher haben wir uns immer sehr gut auf Spanisch mit den Pehuenche verständigen
können. Auch mit dieser jungen Frau klappt es ganz gut und wir fragen, ob wir irgendwo
eine Familie finden, die uns ein „asado“ (Grill) zubereiten würde. Kein Problem, sagt sie –
immer nur fragen, es wird sich schon eine Familie finden.
Ein paar Kilometer weiter findet sich tatsächlich jemand, aber als wir eine Stunde später
zum vereinbarten Treffpunkt kommen werden wir wieder weggeschickt. Hier will oder kann
man uns nicht helfen.
Wir passieren schliesslich eine Art Bauernhof, vor dem das Familienoberhaupt mit seinem
Sohn steht und uns höflich bedeutet anzuhalten. Ich habe das Gefühl, hier begrüsst uns
ein echter Indianer. Er scheint um die vierzig Jahre alt, hat ein sonnengegerbtes Gesicht
mit faltiger Lederhaut und trägt traditionelle Kleidung – Felljacke und Hosen unter denen
seine Füsse in einer Art Mokassin stecken – irgendwie typisch indianische Kleidung. Er
schaut weder freundlich noch unfreundlich drein – sein Gesichtsausdruck ist ernst. Sein
Sohn – ich schätze ihn auf Anfang zwanzig – trägt keine traditionelle Kleidung. Er bemüht
sich um uns und wir verstehen, dass die beiden uns einen „deal“ anbieten wollen.
Offensichtlich hat sich im Tal die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, dass ein Chileno
und zwei „Gringos“ eine Familie suchen, die ihnen ein „asado“ anbieten kann. Vater und
Sohn bieten uns folglich an, eine Ziege für uns zu schlachten und uns vorher auf einen
Trip auf ihre Sommerweidegründe in den Bergen mitzunehmen. Haben wir richtig
verstanden?
4. Erst viel später erfahren wir, dass auf einer der letzten Versammlungen aller dieser
autonomen Familien der Beschluss gefasst wurde, dass einige wenige Familien in ihr
Gebiet in den Bergen Fremde mitnehmen düfen. Eine Entscheidung, sich eine zusätzliche
Einnahmequelle durch „sanften Mini-Ecotourismus“ zu verschaffen, würde ich sagen. Und
wir dürften unter den ersten Leuten sein, denen man so etwas hier erlaubt.
Bevor es jedoch losgeht, wird der Preis ausgehandelt. Für eine Bergtour auf drei Pferden
ca . 4 – 5 Stunden und ein sich anschliessendes Essen – man will tatsächlich eine junge
Ziege für uns schlachten – einigen wir uns auf einen Preis von 30 000 Pesos – ca. 45
Euro. Wir schlagen ein auf diesen „deal“. Die beiden Pehuenche gehen voran und
bedeuten mir, hinter ihnen herzufahren, um auf ihre Hofstätte zu gelangen. Hierbei muss
ich den Wagen über ein zwei Meter breites und ein Meter tiefes Rinnsal lenken, wobei es
nur über einige Balken geht, die nicht sehr vertrauenswürdig aussehen. Auf dem „Hof“
parke ich den Wagen und hier kommt neugierig die ganze Familie zusammen, die aus –
so schätze ich – vielleicht zehn oder zwölf Leuten und einigen kleineren und grösseren
Kindern besteht. Offensichtlich sind auch Nachbarn dabei. Neben einem kleinen Haus aus
Brettern – ich spare mir die Bemerkung über das mehr als baufällige Aussehen – steht ein
grosser Ziegenpferch, der vielleicht zehn mal zehn Meter misst. Hier tummeln sich unter
grossem Lärm und aufgeregtem Ziegengemeckere – schliesslich sind Gäste gekommen
uns es tut sich was – ungefähr fünfzig Tiere. Aber die Aufregung gilt nicht uns, sondern
der Tatsache, dass der Sohn des Hauses im Ziegenpferch nach einer passenden Mahlzeit
5. für uns Ausschau hält und auch fündig wird. Das „Opfer“ wird unter lautem Ziegenprotest
aus dem Pferch bugsiert. Plötzlich ertönen hinter mir schrille Pfiffe.
Ich drehe mich um und sehe, dass per Pfiff die weiter weg wohnenden Nachbarn
„informiert“ werden, dass sie der Familie zwei Pferde leihen sollen, denn im Augenblick
stehen hier nur zwei und wir brauchen insgesamt vier. Der Sohn des Hauses wird uns in
die Berge führen.
Nachdem sich zwei zusätzliche Pferde gefunden haben, weist uns der Mapuche die
Pferde zu. Ich bin schon jahrelang nicht mehr geritten und weiss, dass ein harter Sattel
ohne Training einen schmerzhaften „Wolf“ nach sich zieht. Aber hier besteht der Sattel aus
dicken Decken. Die Steigbügel sind typische Pehuenche-Steigbügel – ein schuhähnliches
Gebilde.
Ich kann mein Grinsen kaum verstecken, als es ans Aufsitzen geht. Wer wird als erster in
den Dreck fliegen? Aber Elias und Daniel stecken schon den linken Fuss in den
Steigbügel und hieven sich mit einem kräftigen Schwung nach oben. Ich gebe mir alle
Mühe, dass man später nicht lachend mit dem Finger auf mich zeigen muss. Elias haut
seinem Pferd die Hacken in die Lenden und dreht kunstvoll und beeindruckend eine
Ehrenrunde. Na, denke ich, das geht ja gut los hier. Hoffentlich müssen wir nicht auch
noch über irgendwelche Zäune springen.
Aber Zäune sind es dann doch nicht sondern ein 30 m breiter Fluss, der ziemlich schnell
dahinfliesst und durchquert werden muss. Unser Führer lenkt sein Pferd als erster in den
Fluss und unsere Gesichter werden ernster, denn das Wasser reicht seinem Pferd bis an
den Bauch und er muss seine Beine stark anwinkeln um keine nassen Füsse zu
bekommen. Dazu kommt, das mein Pferd keine grosse Lust verspürt, den offensichtlich
ziemlich kalten Fluss zu durchqueren und Führer Manuel bedeutet mir, dem Gaul mit
einem Schlag des Zügels aufs Hinterteil Beine zu machen.
Das funktioniert zwar aber nun ist das Pferd ein bisschen zu schnell und es stellt sich
heraus, dass der Boden des Flussbettes mit grossen runden Steinen übersät zu sein
scheint und die Pferde keinen richtigen Halt finden. Trotz grosser Vorsicht und langsamen
Gehens – eigentlich mehr ein Vortasten – rutschen sie immer wieder mit ihren Hufen von
den Steinen ab und schlingern hin und her. Vor mir schaukeln Elias und Daniel auf den
Pferderücken von links nach rechts und durch ihre angewinkelten Beine haben sie ihren
sicheren Halt aufgegeben. Das Wasser rauscht so laut, dass man sich kaum verständigen
kann.
Mitten im Fluss bleibt mein Vierbeiner stehen und will offensichtlich wieder zurück aber
mein Körper scheint etwas Adrenalin in meinen Blutkreislauf zu schütten und ein kräftiger
Schlag mit dem Lederriemen lässt ihn weiter vorwärts gehen. Endlich erreichen wir das
andere Ufer – aber jetzt wird es steil. Die Beine können zwar wieder lang gemacht werden
aber nun laufen alle Reiter Gefahr durch den steilen Winkel nach hinten über die Kruppe
abzurutschen. Die Pferde wissen genau, dass sie einigen Schwung benötigen, um das
steile Ufer erklimmen zu können und springen in langen Sätzen nach oben. Ich mache es
wie die anderen und halte mich am Pferdehals krampfhaft fest. Wenn das so weiter geht,
denke ich, gehe ich zu Fuss zurück – aber da sind wir auch schon oben angekommen und
Manuel bedeutet uns abzuspringen, um die Lederriemen für die Sättel nachziehen zu
können. Wir geniessen die wunderschöne Aussicht aber ich frage mich, wie es hier wieder
auf dem Rückweg runtergeht. Bergab ist es so steil, dass der Reiter dem Pferd auf den
Hals rutschen würde. Um das zu sehen, muss man wirklich kein Reitexperte sein.
6. Aber nun geht es erstmal weiter bergauf. Was allerdings jetzt kommt, lässt die
Flussdurchquerung wie ein Kinderspiel erscheinen und wenn wir uns vorher noch
zugerufen haben und einer über den anderen gelacht hat, wird es auf einmal still.
Die Pferde gehen auf einem schmalen Pfad nach oben. Links von uns stehen Bäume und
Sträucher – rechts aber fällt das Kliff steil nach unten ab ins Tal. Ich schätze ca. 200 bis
300 Meter werden es sein und der schmale Pfad bewegt sich genau an der Kante –
vielleicht nicht mal einen Meter von dieser Kante weg! Wer schon mal von einem
schaukelnden Pferderücken an einem Steilkliff seitlich in ein Tal geschaut hat, weiss was
ich meine! Ein Gleitschirmflieger könnte von hier aus locker ohne Bäume oder
Felsvorsprünge als Hindernisse befürchten zu müssen in die Tiefe springen und ins Tal
gleiten, in dem jetzt der Fluss nur ein kleiner reissender Bach zu sein scheint ...
Ich bemerke eine Veränderung der Umgebung. Wir sind auf schätzungsweise 2000 m
Höhe und die Vegetation verändert sich. Die Sträucher und die kleineren Bäume lichten
sich und machen Platz für riesige Araukarien, die jetzt überall zu sehen sind – von den
Indianern Pehuén genannt. Es fällt sofort auf, dass es uralte Bäume sind, die hier schon
seit Jahrhunderten stehen und nicht berührt worden sind. Die Natur wirkt hier oben
jungfräulich unberührt und wild – niemand hat hier Holz geschlagen, Bäume gefällt oder
sonstwie Hand an die Natur gelegt.
7. Welch ein Unterschied zu der Region in Concepción, in der ich wohne. Zugegeben – die
VIII. Region ist Gebiet der Holz- und Zellulose-Industrie. Hier werden Wälder mit schnell
wachsendem Holz angepflanzt, um nach einigen Jahren Wachstums wieder geschlagen
zu werden. Eine Fahrt durch ein Gebiet von zwei oder drei Quadratkilometern mit
abgeholzten Bäumen kann für einen Naturliebhaber eine ziemlich traumatische Erfahrung
sein.
Schlimmer noch als ein Gebiet, das durch „strip-mining“ verunstaltet wurde – kahl und
wüst wie eine Mondlandschaft präsentiert sich solch ein Stück Land. Häufig wird nicht
sofort wieder nachgepflanzt, damit der Boden durch neue Baumwurzeln festgehalten wird.
Wenn solch ein Stück Land längere Zeit unbearbeitet liegen bleibt, sterben die alten
Baumwurzeln rasch ab, geben ihren Griff auf das Erdreich frei und wenn der heftige
Winterregen im Mai und Juni einsetzt, kommt es häufig zu einer Erosion, die ganze
Schlammlawinen in die Täler stürzen lässt und das Land – jetzt fürchterlich verwüstet –
sich dem Betrachter mit einem Aufschrei über seine Verunstaltung präsentiert.
Nichts von alledem hier oben. Manuel erzählt, dass die Araukarien – auch Andentannen
genannt – nicht selten ein Alter von 800 oder 900 Jahren oder auch mehr erreichen
können. Einzelne Exemplare dieses sehr exotisch erscheinenden Baumes können sogar
bis zu 2000 Jahre alt werden. Dementsprechend sehen diese Bäume auch aus. Die
Araukarie (Araucaria araucana) ist eine Art Nadelbaum mit einem Stamm vom
Durchmesser einer mittelgrossen Tanne – allerdings mit einer rauhen und
schuppenartigen, dicken Borke – geschaffen von der Natur für das rauhe und kalte Klima
im Winter. Diese dicke Borke bietet der Chilenischen Araukarie auch Schutz vor Lava aus
Vulkanausbrüchen. Das gesamte Gebiet, in dem wir uns bewegen, ist aktive
Erdbebenzone.
Die Andentanne hat meist eine Höhe von 10 bis 30 Metern mit einem nackten Stamm, der
oben an seiner Spitze einen weit ausladenden Schirm hat, der fast wie ein ausgefranster
Pinsel aussieht. Der „Pinsel“ besteht aus harten, spitzen Nadelblättern, die so dick sind
wie mein Zeigefinger. Die Araukarie ist schon deshalb etwas Besonderes, weil es
männliche und weibliche Bäume gibt.
8. Einige Exemplare unter diesen einzigartigen Gebilden werden wie gesagt besonders alt
und Manuel erzählt uns von einer Araukarie, die für seinen Stamm eine wichtige
Bedeutung haben soll und zu der er uns jetzt hinführen will. Wir passieren auf unserem
Weg dorthin eine Art „Wigwam“ – eine Unterkunft für den Sommer, die aus der Länge
nach aufgesägten Baumstämmen besteht. Diese Baumstammbretter scheinen uralt zu
sein, denn die Sonne hat sie dermassen ausgebleicht, dass sie weissgrau erscheinen.
Manuel berichtet, dass seine Familie sich hier oben in den Bergen vom Januar bis zum
April aufhält und dann in diesen Unterkünften wohnt, die sehr schnell wieder funktionsfähig
gemacht werden können. Die jetzt schräg stehenden Bretter werden einfach auf eine Art
Holzgerüst gelegt, mit Blättern und Reisig abgedeckt und fertig ist das Sommerhaus. Ein
paar hundert Meer weiter erreichen wir einen Pferch, in dem die Familie offensichtlich ihre
Tiere hält. Auch hier finden wir einen runden „Grundpferch“ vor, an den andere Bretter
derselben Art wie beim „Wigwam“ angelehnt sind. Auch diese erscheinen uralt und
weissgrau sonnengebleicht.
Welch ein Anblick das sein muss, stelle ich mir vor, wenn die ganze Familie im Januar mit
ihren Ziegen und Schafen und Pferden diese Pfade erklimmt, auf denen wir uns jetzt hier
hochgequält haben. Und im April geht es dann mit Sack und Pack wieder ins Tal.
Irgendwo habe ich gelesen, dass die Pehuenche Bergnomaden sind. Ich sehe es vor mir.
Wir erreichen mit Manuel die „Familienaraukarie“ – ein gigantischer Baum von dem er
behauptet, dass er über tausend Jahre alt sei. Zumindest sieht die Araukarie so aus. Wir
steigen ab und machen eine Pause. Die Pferde werden am Pferch festgebunden und
knabbern an den für sie offensichtlich leckeren Sträuchern.
Ich gehe um diese Riesenaraukarie herum und versuche den Baum auszu-messen. Er hat
einen Umfang von ca. 8 und eine Höhe von 25 Metern. Seine Borke ist schuppenartig,
knorrig und sonnengebleicht – der Boden übersät mit den Früchten des weiblichen
Baumes – den Piñones, eines der Grund-nahrungsmittel der Pehuenche.
9. Von den indianischen Behausungen um uns herum abgesehen, die in einem auffälligen
Einklang mit ihrer Umgebung sind, ist die Natur hier oben völlig unberührt. Es liegt kein
Müll herum, nichts ist abgebrochen oder abgesägt, herausgerissen oder achtlos
weggeschmissen, aufgegraben oder wieder gleichgültig zugeschüttet. Es sieht hier auch
anders aus als bei den indianischen Behausungen im Tal, wo umherliegende
Gummireifen, ausgediente Plastik-Kanister, Teile von Plastikplanen, Papier und allerlei
Drahtgeflecht unbenutzt herumliegen und keiner sich daran zu stören scheint. Eine
Vermutung von mir ist, dass die Pehuenche traditionell immer mit Naturmaterialien wie
Holz, Steinen, Tierfellen und Tiersehnen gearbeitet haben. Einfach weggeschmissen fallen
diese Dinge in der Natur kaum auf – Plastikeimer aber schon. Möglicherweise „sehen“ die
Indianer dies aber gar nicht – vielleicht eine plausible Erklärung.
Ich gehe an den kleinen, reissenden Fluss, der aus den Bergen oben mit klarem aber
eiskaltem Wasser ins Tal schiesst und trinke und erfrische mich ein bisschen. Endlich
kann ich mich wieder recken und strecken. Von hier aus hat man einen ausgezeichneten
Blick über das Trapa-Trapa-Tal. Wir sind auf ungefähr 2000 m Höhe und unter uns liegt
die Pehuenche-Behausung mit unserem Jeep klein wie ein Spielzeug-Auto. Am Horizont
erstrecken sich die hoch aufragenden Kordilleren mit schneebedeckten Vulkanen –
halblinks hinter mir ein tiefblauer Bergsee der so still daliegt, dass sich ein Teil der
Bergkette auf der Wasseroberfläche widerspiegelt. Links und rechts Araukarien, die der
ganzen Atmosphäre einen absolut romantischen Rahmen geben.
Irgendwie kann ich mich daran erinnern, dass Manuel etwas von den indianischen Göttern
erzählt hat, die über das Gebiet der Pehuenche wachen und die kein Indianer durch
unangemessene Handlungen zu erzürnen wagen würde. Ist ein Foto dieser
paradiesischen Landschaft ein solcher Frevel? Ich möchte unbedingt ein Foto machen,
gehe an meine Tasche und finde meine Kamera nicht. So ein Mist – ich erinnere mich –
hab sie im Tal vergessen. Aber wir sind ja mit Kameras „gespickt“, und so frage ich Elias
nach seiner. Der greift in seine Tasche und meint: „Hab ich wohl im Auto vergessen!“ Ich
gehe zu Daniel um ihn nach seiner Kamera zu fragen, kann mir aber schon denken wie
die Antwort ausfällt. Natürlich hat auch er sie nicht dabei und sagt nachdenklich: „Das find
ich aber schon komisch – normalerweise hab ich die eigentlich immer dabei ...“
Merkwürdig, denke ich, da machen wir einen solch hochinteressanten Trip ins
Sommerweidegebiet der Indianer und alle vergessen ihre Kameras?
10. So kommt kein Foto zustande und wir gehen zu den Pferden, um ins Tal zu reiten. Manuel
schlägt einen anderen Weg ein, der angenehm langsam abfallend ist und durch einen
lichten Laubwald führt. Den Göttern sei gedankt dass wir nicht wieder den steilen Abhang
hinunter müssen, den wir heraufgekommen sind.
KEIN FOTO!!.leider kamara vergessen!.
Wir gelangen an eine Stelle, an der Manuel uns bedeutet von den Pferden abzusteigen.
Warum das denn jetzt? Will er die Riemen der Sättel schon wieder nachziehen? Ich steige
ab, übergebe ihm die Zügel und gehe ein paar Schritte nach vorn, als ich bemerke, dass
wir wieder vor einem Abgrund stehen. Dieser allerdings ist so steil, dass wir nicht auf den
Pferden hinunter können. Jeder von uns steht hier oben und blickt mit nach vorn
gestrecktem Hals über die Kante. Wenn ich Haare auf meinem Kopf hätte würden die sich
spätestens jetzt aufrichten.
Selbst Manuel steigt von seinem Pferd ab, bindet die anderen Tiere hier oben an einen
Baum und führt seins vorsichtig hinunter. Wir folgen zu Fuss. Auch hier wieder dieselbe
Geschichte. Ein schmaler Pfad der steil nach unten führt – mit grossen Steinen, die aus
dem Erdreich herausschauen und über die die Hufe von Manuels Pferd abenteuerlich
abrutschen. Alle haben Mühe sich rechts an Sträuchern und Felsen beim Abstieg
festzuhalten – und diesmal fällt links und nicht rechts das Kliff nach unten. Ohne Frage –
ein Abrutschen hier hätte unweigerlich den Sturz ins 300 m tiefer liegende Tal zur Folge.
Die Gravität scheint an unseren Schuhsohlen zu saugen. Daniel geht hinter mir und als ich
mich nach ihm umdrehe schaut er mich wortlos an.
11. Wir kommen an einen grossen Felsüberhang, der ein Stück in den Berg hineingeht und
machen eine Pause. Nach Manuels Angaben hat hier eine Familie gewohnt. Sieht auch so
aus. In einer Ecke sind Reste eines Stalles zu sehen und in einer anderen sind die Wände
dieser Höhle geschwärzt von der Feuerstelle. Wasser tropft von der überhängenden
Decke. Es ist klamm und feucht und das Licht fällt hier nur spärlich herein. Unsere
Konversation erscheint gedämpft. Manuel schwingt sich wieder auf sein Pferd und macht
sich auf den Weg nach oben. Mir ist schon klar, dass er die anderen Pferde einzeln hier
herunterführen wird – aber warum reitet er auf seinem Pferd wieder hinauf? Nach einiger
Zeit hören wir über uns ein Geräusch, als ob ein grosser Gegenstand irgendwo aufschlägt.
Wir schauen uns ernst und wortlos fragend an.
Über uns auf dem engen Pfad hört man Pferdehufe sich langsam und vorsichtig vorwärts
tastend und schliesslich kommt Manuel auf seinem Pferd um die Ecke. Hinter ihm das
Pferd von Elias – an das seine gebunden. Dahinter das nächste an das Pferd von Elias
gebunden und schliesslich das letzte auch noch.
Staunend stehen wir da und können es nicht fassen, dass dieser junge Mann den
gefährlichen Pfad auf seinem Pferd heruntergeritten ist und die anderen Tiere auch noch
im Schlepptau mit sich geführt hat. Keiner von uns wagt etwas zu sagen, aber wir
schütteln stillschweigend unsere Köpfe über seinen Mut und sein Können. Ich glaube
nicht, dass man diese Aktion von ihm als waghalsig bezeichnen kann, denn er scheint die
Situation ruhig und kühl im Griff zu haben. Kühl ist vielleicht untertrieben – eiskalt trifft es
besser.
Weiter geht es ins Tal hinunter und als wir wieder den Fluss durchqueren müssen bricht
unsere Konversation diesmal nicht ab. Die Erleichterung über den gut verlaufenen Abstieg
minimiert sicherlich unsere Anspannung – zumindest ist es bei mir so.
12. Als wir die Hofstelle erreichen ist es Nachmittag und alle Frauen scheinen geschäftig
umherzulaufen. Auf einem kleinen Holztisch liegt ein Ziegenfell mit der Innenseite nach
oben – daneben weidet die hübsche Tochter des Hauses die kleine Ziege aus. Die
grösseren Teile der Ziege werden auf einen langen Spiess gezogen und in den Innenraum
der Behausung gebracht. Hier brennt ein kleiner, gusseiserner Ofen, vor dem ein fast
fertig gebackenes Brot vor der Ofenöffnung liegt.
Die Mutter von Manuel drückt Elias einen Blechbecher mit Mate-Tee und Blechstrohhalm
in die Hand. Als Elias den Becher geleert hat wird er für uns wieder mit heissem Wasser
aufgefüllt, das über die Blätter im Becher gegossen wird. Der Tee ist schmackhaft und
süss und wirkt belebend und erfrischend.
Wir werden in die Hütte gebeten. Es ist fast dunkel hier. Das Tageslicht fällt kaum hinein.
An der Seite steht ein Tisch, auf dem drei Teller für uns angerichtet sind. Das
Ziegenfleisch kommt in die Mitte des Tisches und wir dürfen zulangen. Ein Salat ist
ebenfalls zubereitet worden, aber von den anwesenden Pehuenche setzt sich keiner zu
uns an den Tisch. Erst auf unser Drängen setzt Manuel sich scheu zu uns und beginnt
ebenfalls zuzulangen. Alle anderen stehen draussen und schauen uns beim Essen zu
oder unterhalten sich und lachen und kichern. Die Atmosphäre ist entspannt.
Selbstverständlich können wir nicht das ganze Ziegenfleisch verspeisen – wir verstehen
dass die Familie sich später daran gütlich tun wird wenn die Fremden wieder weg sind. Es
dürfte für sie Fleisch für mehrere Tage übrig geblieben sein.
13. Schliesslich kommt der Abschied. Wir müssen uns noch um ein Nachlager bemühen, weil
wir noch eine Nacht im Trapa-Trapa-Tal verbringen wollen.
So verabschieden wir uns also von allen – natürlich besonders von unserem netten und
bescheidenen Führer Manuel, der uns zu unserem Auto bringt. Wir haben unter uns
ausgemacht, dass Daniel die 30 000 Peso für alle erstmal auslegen soll. Elias und ich
werden ihm unsere Anteile später geben. Es ist klar, dass wir den ausgemachten
Geldbetrag Manuel überreichen werden.
Während Manuel also noch mit uns am Auto steht und sich mit allen unterhält und uns
eine gute Reise wünscht, zieht Daniel das vorher abgezählte Bündel von Banknoten mit
30 000 Peso aus seiner Tasche, reicht es Manuel und bedankt sich noch einmal bei ihm.
Und nun passiert etwas, was mich wirklich beeindruckt. Während Daniel ihm mit
ausgestrecktem Arm die Banknoten im Bündel überreicht, von dem man selbst auf den
zweiten Blick gar nicht sehen kann, wieviel es beinhaltet, schaut Manuel unserm Daniel in
die Augen, nimmt das Geld ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen und steckt es in
die Tasche ohne seine Unterhaltung mit Daniel zu unterbrechen. Das wars.
Wir besteigen unseren Jeep und fahren in Richtung Westen – der untergehenden Sonne
entgegen – tief beeindruckt von unseren neuen Erfahrungen an diesem Tag.