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1.Advent 08 Off. 5
                                                         KV-Wahl

Mein Vater, liebe Gemeinde, war im Krieg weit hinter der Front
in einer Spezialeinheit eingesetzt. Seine Aufgabe war es, als
Horchfunker geheime Funksignale aufgefangen; er hat dann
versucht, den geheimen Code/den Schlüssel zum Verständnis des
Ganzen, zu knacken. Um es gleich vorweg zu sagen: Das, liebe
Leute, geht mit der Offenbahrung wie eigentlich mit der ganzen
übrigen Bibel so nicht ! Überhaupt kann man Sekten oder
irgendwie problematische Glaubensrichtungen gerade daran
erkennen, dass sie die Bibel oder auch nur das Buch der
Offenbahrungen einfach und direkt (nach dem Verfahren „klipp/
klapp“) als eine Art direkte Anweisung, als Rezeptbuch oder als
unmissverständliches Drehbuch der Geschichte darstellen. So soll
z.B. der genaue Weltuntergang zu berechnen sein, was dann
regelmäßig natürlich nicht eintrat, wie wir alle wissen.
Jedenfalls ist, angefangen mit den Zeugen Jehowas bis hin zu
heutigen amerikanischen Sekten, gerade damit, und zwar
besonders mit der geheimen Offenbahrung, schon zuviel
Schindluder getrieben und zuviel Unheil angerichtet worden, als
dass wir dieses Verfahren der Entschlüsselung der Geheimbilder
hier und heute betreiben sollten.
Fragen wir also nicht, was die Bilder enthalten. Sie enthalten sich
selbst und das genügt. Gehen wir lieber ein wenig um mit ihnen,
oder besser: gehen wir ein wenig in den Bildern spazieren und
lesen uns hinein in sie; denn, wenn wir darin nicht zu finden sind,
sagen sie uns nichts (oder nur krauses Zeug).
Am Besten liest man die Bibel zunächst mit dergleichen Brille,
mit der wir auch unser eigenes Leben oder sagen wir unsere
Tageszeitung lesen; aber immer sollten wir lesen in diesem
Bewußtsein, dass die Texte ein Mehr enthalten und nie einfach
schematisch entschlüsselt werden können: das sie tiefer sind als
unsere inneren Bilder, und breiter sind als unsere kleine,
beschränkte Lebenserfahrung und höher sind als all unsere
Vernunft. Lesen wir:
Eine erste Szene... Der auf dem Thron. Er hat die versiegelte
Buchrolle in Händen - innen und außen ist die Rolle beschrieben.
Aber, sie ist unlesbar, versiegelt, verschlossen. Niemand könnte
die Siegel lösen. Niemand hier wäre würdig und fähig dazu. Die
geheime Rolle ist und bleibt also ein Buch mit sieben Siegeln.
Und: der Seher weint ! Wer unter uns, der seine Brille und die
entsprechenden Tageszeitungen nicht beiseite gelegt hat, könnte
dieses Weinen nicht gut verstehen ?
Vieles ist zum Weinen. Wer würde nicht gern die Siegel
aufbrechen und das Buch der Welt und das des eigenen Lebens
verstehen und lesen können... ?
Warum nur gibt es soviel an Blut, Schweiß und Tränen. Die
Flutkatastrophe, die den Brüder und Schwestern im ugandischen
Soroti jetzt vor Weihnachten erneut Leid und Krankheit und
Hunger bescherte... Wieder ist es der sowieso so viel ärmere
Norden. Schon das: unfassbares Leid ! Oder, ( anderes Beispiel,
vielleicht ganz aus unserer eigenen Nähe: ) der Krebs, den eine
Nachbarin erleidet oder ein anderer geliebter Mensch. Und so
weiter, und so fort… . Ich bin mir ziemlich sicher: Jeder hier
könnte fortfahren und am Ende würden wir reichlich ratlos
schwimmen... wir kämen ins Schwimmen inmitten eines Meeres
ungezählter Tränen.
Und dennoch ! Es genügt nicht, dass der auf dem Thron die
geheimnisvolle Weltschrift lesen kann. Die, die da leiden oder
mitleiden, wollen auch wissen, warum ihnen dieses zugefügt wird.
Erdbeben und Fluten, Krankheit und Krieg - das sind ja
bekanntermaßen Bilder aus jener Johannes-Apokalypse/der
geheimen Offenbahrung , aus der unser Bibelabschnitt stammt.
Dort ist es die Schuld der Menschen, die das Verderben zur Folge
hat. Aber, nicht alles (nicht Krankheit und auch nicht andere
Katastrophen ) lassen sich immer auf die Schuld der Menschen
zurückführen. Aber, wessen Schuld ist es dann ? Wer hat das so
gewollt ?
Liebe Gemeinde ! Geben wir zu: Wir wissen es nicht. Die Siegel
sind nicht erbrochen und wir müssen uns einfach eingestehen:
Keiner kann die Welt als Ganzes verstehen. Keiner von uns kann
selbst schon sein eigenes kleines Leben als Ganzes durchschauen.
Keiner außer dem Einen, der auf dem Thron saß.
Noch einmal zur Schuld: Es ist nicht alles Schuld der Menschen,
wie es uns manchmal allzu religiöse oder allzu politische
Menschen weis machen wollen.
Der Tod ist der Sünde Sold, heißt es einmal bei Paulus. Unsere
Schuld ist groß genug. Aber, soviel Sold ? Und: so viel (!) für so
viele, die es nicht verdienen ?! Bei allem, was ich von Gott
mitbekommen habe und woran ich auch fest glaube, bleibt doch
genug auch für mich übrig, was einfach nicht verstehbar ist.
Welch ein unauslotbarer Schmerz durchzieht die Welt, denn: sie
kann an so vielen Stellen nicht gelesen und nicht verstanden
werden. Es gibt eine Art Kälte des Weltalls und eine Sinnlosigkeit
des Leidens, über die man sich nicht irgendwie frömmelnd oder
erklärend hinwegsetzen könnte. Da ist der Thron leer und der
Seher weint und wir mit ihm.
Wie also ?
Sage Gott ab und stirb ! sagte dazu Hiobs Frau, als all das Unglück
über die beiden und ihre Kinder gekommen war. Und der
fromme Hiob antwortet: Wenn wir das Gute von Gott annehmen,
warum nicht auch das Böse ? Dieser Satz ist in meiner Lutherbibel
fett gedruckt, wie alle Sätze, die uns Ergebung, Hinnehmen und
Demut lehren. Aber, was soll das ? Welche fettgedruckte und
verlogene Logik ist das, die uns die Tränen ausreden will anstatt
sie zu trocknen ?!
Der Seher jedenfalls weint.
Es wird nicht leichter, wenn wir weitergehen ins nächste Bild. Es
tritt einer zum Weinenden und sagt: Hör auf zu weinen ! Der Löwe
aus dem Stamme Juda hat gesiegt. Er kann die sieben Siegel öffnen.
Der Löwe wird dann zum Lamm. Löwen siegen - Lämmer
werden geschlachtet.
Die Menschen, gerade wenn sie nichts zum Lachen haben, lieben
die Löwen, lieben Sieger, lieben die starken Götter. Zu dem, der
hier gleichzeitig Löwe und Lamm genannt wird, hatte der
Versucher in der Wüste gesagt: Wenn Du Gottes Sohn bist, dann
sprich, und die Steine werden in Brot verwandelt. Stürze Dich von der
Zinne des Tempels, und Gott wird nicht zulassen, dass Du zerschmettert
wirst. Unverwundbarkeit und Stärke, das sind die Götter damals
wie heute.
Steige herab vom Kreuz, sagten die Leute später zu ihm, vielleicht
mehr aus Verzweiflung als aus Hohn. Gehöre zu den Sieger ! Sei
stärker als die Starken ! Dann... wollen wir an Dich glauben. Vielleicht
meinen diese Leute folgendes mit der Anbetung der Sieger: Wenn
unser Leben schon so glanzlos und kärglich ist, dann wollen wir uns
wenigstens am Glanz der Sieger sonnen. An den Geschichten der Reichen,
am Glanz der Königshäuser, an den Wegen der Erfolgreichen.
Liebe Gemeinde. Solche Märchen von den Gewinnern sind
nichts anderes als Opium für das gemeine Volk. Christus aber ist,
um Gottes willen, der Verlierer. Das ist wahrlich ein hartes Wort.
Welch ein unfeierliches Bild steht da für uns am Anfang des
Advents: Das Lamm wurde geschlachtet um euretwillen. Damit ihr frei
werdet, heißt es da.
Wie werden wir frei ? Nun wird es wirklich ganz schwierig und
heikel, denn da heißt es: Du bist geschlachtet worden und hast (die
Menschen) für Gott mit Deinem Blut erkauft. Was soll das heißen ?
Beim wem kann man ( bitte schön ) etwas für Blut kaufen ? Wer
nimmt Blut in Zahlung ? Wer läßt sich versöhnen mit dem Blut
eines Unschuldigen ?
Ich gehöre nicht zu denen, die solche Redeweise vom erlösenden
Blut gerne gebraucht. Vor allem, wenn sie zu glatt und formelhaft
gebraucht wird, finde ich es schwierig.
Deshalb will ich, vorsichtig tastend dazu nichts erklären; nur
erzählen. Zweierlei aus zwei Lebensgeschichten.
Die erste (mehr von außen ) die Geschichte der französischen
Jüdin Simone Weil, Philosophin und Sozialistin. Eine verrückte
Geschichte: 1940 wurde sie von den Nazis verhaftet, verhört und
versehentlich wieder freigelassen. Sie konnte mit ihrer Familie
nach New York entkommen. Schon 1941 verlässt sie diese
Sicherheit, um näher bei ihrem leidenden Volk zu sein. So nah
wie möglich. Sie geht nach England, da sie nicht nach Frankreich
zurück kann. Dort weigert sie sich, mehr zu essen, als den
Franzosen im besetzten Frankreich auf ihren Lebensmittelkarten
zugeteilt wird. Sie hatte aber eine Tuberkulose, und sie stirbt, von
Krankheit und Hunger geschwächt.
Was für ein Tod und warum erinnert er mich an den Jesus von
Nazareth ? Auf ihrem Totenschein stand: Tod infolge von Versagen
des Herzens ? Aber hat dieses Herz versagt ? Simone de Beauvoir
sagt über sie: Sie hatte ein Herz, das imstande war, für den ganzen
Erdkreis zu schlagen. Charles de Gaulle, der spätere Präsident,
über sie: Sie ist verrückt ! Man entscheide selber. Wem hat dieser
Tod genützt ? Oder ist das schon die falsche Frage ?
Eine zweite Geschichte zum Schluss von meinem Vater, der in
jener Zeit, weis Gott, kein Held war; aber einmal doch. Er
erzählte mir von seinen Soldatenjahren im besetzten Frankreich.
Die scheinbare Normalität dort vor der Landung der Alliierten.
Das Brot, das man aß, schien so wie jedes französische Brot zu
sein. Die Zeitungen/die Radiosendungen klangen französisch
und waren es doch nicht; es waren Nachrichten der Besatzer. Die
Lieder und Akkordeonklänge in den Bars und Cafés schienen wie
immer zu klingen. Doch eines nachts ( mein Vater war mit seiner
Einheit einquartiert bei einem französischen Dorfpfarrer ),…
eines nachts hörte er im Nebenzimmer die Stimme der Freiheit.
Einen Sender aus England, der in französischer Sprache
( untermalt mit Liedern ) die bevorstehende Landung der
Alliierten ankündigt. Mein Vater hätte seinen katholischen
Kollegen, den Priester, anzeigen können oder sogar müssen.
Seine kleine Heldentat war es, es nicht zu tun. Er, der so begabt
war, die kompliziertesten Geheimcodes zu durchschauen, hatte in
diesem Moment nicht viel mehr als eine schwache Ahnung von
dem, was es heißt, nicht schuldig sondern frei zu werden. Wenn
man so will war er in diesem Moment zu einer Art Horchfunker
Gottes geworden.
Auf uns übertragen: Das Evangelium ( so wie auch die
Offenbahrung heute ) geben uns meist nur eine Ahnung davon,
was es heißt, frei zu werden. Advent heißt ja in etwa: Es kommt
einer, der bei uns landen will. Der uns frei machen will von
Schuld und Versagen, von all dem, was uns besetzt und gefangen
hält. Der Schleier wird eines Tages von unseren Augen
genommen und wir werden sehen, was wir jetzt nur glauben und
ahnen können.
Noch ein letztes Mal die Stimme, die den weinenden Seher tröstet
und zu ihm spricht: Höre auf zu weinen ! Der Löwe aus dem Stamme
Juda, der Sproß Davids hat ( insgeheim schon ) gesiegt. ER kann die
sieben Siegel des Buches öffnen.          Und die Ältesten und
Kirchenvorsteher in dieser Szene knien nieder und singen:
Würdig bist Du (wahrhaft würdig), die Buchrolle zu nehmen und ihre
Siegel zu öffnen.
Einmal, so ist es uns versprochen, einmal wird es so sein. Diese
Kirchenvorsteher hier, und all Ältesten vor ihnen bis zurück zu
den Tagen der Urgemeinde... und alle, die heute gewählt werden
und in all den Jahren, die da noch kommen sollen bis hin zum
Jüngsten Tag, alle werden anbeten und niederfallen vor dem
Löwen Judas, der das Lamm Gottes ist.
Und, wir werden dann aufstehen und im Lande der Freiheit
angekommen sein. Wir werden mit den Heiligen Gottes und mit
den Engeln singen… das Lied vom Lamm und all die anderen
schönen Lieder: auch das vom Kind Gottes, das unter uns lebte.
Advenire/Advent heißt: ankommen. Es kommt ein Schiff, das bei
uns ankommen will. Es kommt ein Schiff geladen, bis an sein höchsten
Bord, trägt Gottes Sohn, voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort. So soll es
sein – so wird es sein. AMEN

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  • 1. 1.Advent 08 Off. 5 KV-Wahl Mein Vater, liebe Gemeinde, war im Krieg weit hinter der Front in einer Spezialeinheit eingesetzt. Seine Aufgabe war es, als Horchfunker geheime Funksignale aufgefangen; er hat dann versucht, den geheimen Code/den Schlüssel zum Verständnis des Ganzen, zu knacken. Um es gleich vorweg zu sagen: Das, liebe Leute, geht mit der Offenbahrung wie eigentlich mit der ganzen übrigen Bibel so nicht ! Überhaupt kann man Sekten oder irgendwie problematische Glaubensrichtungen gerade daran erkennen, dass sie die Bibel oder auch nur das Buch der Offenbahrungen einfach und direkt (nach dem Verfahren „klipp/ klapp“) als eine Art direkte Anweisung, als Rezeptbuch oder als unmissverständliches Drehbuch der Geschichte darstellen. So soll z.B. der genaue Weltuntergang zu berechnen sein, was dann regelmäßig natürlich nicht eintrat, wie wir alle wissen. Jedenfalls ist, angefangen mit den Zeugen Jehowas bis hin zu heutigen amerikanischen Sekten, gerade damit, und zwar besonders mit der geheimen Offenbahrung, schon zuviel Schindluder getrieben und zuviel Unheil angerichtet worden, als dass wir dieses Verfahren der Entschlüsselung der Geheimbilder hier und heute betreiben sollten. Fragen wir also nicht, was die Bilder enthalten. Sie enthalten sich selbst und das genügt. Gehen wir lieber ein wenig um mit ihnen, oder besser: gehen wir ein wenig in den Bildern spazieren und lesen uns hinein in sie; denn, wenn wir darin nicht zu finden sind, sagen sie uns nichts (oder nur krauses Zeug). Am Besten liest man die Bibel zunächst mit dergleichen Brille, mit der wir auch unser eigenes Leben oder sagen wir unsere Tageszeitung lesen; aber immer sollten wir lesen in diesem Bewußtsein, dass die Texte ein Mehr enthalten und nie einfach schematisch entschlüsselt werden können: das sie tiefer sind als unsere inneren Bilder, und breiter sind als unsere kleine,
  • 2. beschränkte Lebenserfahrung und höher sind als all unsere Vernunft. Lesen wir: Eine erste Szene... Der auf dem Thron. Er hat die versiegelte Buchrolle in Händen - innen und außen ist die Rolle beschrieben. Aber, sie ist unlesbar, versiegelt, verschlossen. Niemand könnte die Siegel lösen. Niemand hier wäre würdig und fähig dazu. Die geheime Rolle ist und bleibt also ein Buch mit sieben Siegeln. Und: der Seher weint ! Wer unter uns, der seine Brille und die entsprechenden Tageszeitungen nicht beiseite gelegt hat, könnte dieses Weinen nicht gut verstehen ? Vieles ist zum Weinen. Wer würde nicht gern die Siegel aufbrechen und das Buch der Welt und das des eigenen Lebens verstehen und lesen können... ? Warum nur gibt es soviel an Blut, Schweiß und Tränen. Die Flutkatastrophe, die den Brüder und Schwestern im ugandischen Soroti jetzt vor Weihnachten erneut Leid und Krankheit und Hunger bescherte... Wieder ist es der sowieso so viel ärmere Norden. Schon das: unfassbares Leid ! Oder, ( anderes Beispiel, vielleicht ganz aus unserer eigenen Nähe: ) der Krebs, den eine Nachbarin erleidet oder ein anderer geliebter Mensch. Und so weiter, und so fort… . Ich bin mir ziemlich sicher: Jeder hier könnte fortfahren und am Ende würden wir reichlich ratlos schwimmen... wir kämen ins Schwimmen inmitten eines Meeres ungezählter Tränen. Und dennoch ! Es genügt nicht, dass der auf dem Thron die geheimnisvolle Weltschrift lesen kann. Die, die da leiden oder mitleiden, wollen auch wissen, warum ihnen dieses zugefügt wird. Erdbeben und Fluten, Krankheit und Krieg - das sind ja bekanntermaßen Bilder aus jener Johannes-Apokalypse/der geheimen Offenbahrung , aus der unser Bibelabschnitt stammt. Dort ist es die Schuld der Menschen, die das Verderben zur Folge hat. Aber, nicht alles (nicht Krankheit und auch nicht andere Katastrophen ) lassen sich immer auf die Schuld der Menschen zurückführen. Aber, wessen Schuld ist es dann ? Wer hat das so gewollt ?
  • 3. Liebe Gemeinde ! Geben wir zu: Wir wissen es nicht. Die Siegel sind nicht erbrochen und wir müssen uns einfach eingestehen: Keiner kann die Welt als Ganzes verstehen. Keiner von uns kann selbst schon sein eigenes kleines Leben als Ganzes durchschauen. Keiner außer dem Einen, der auf dem Thron saß. Noch einmal zur Schuld: Es ist nicht alles Schuld der Menschen, wie es uns manchmal allzu religiöse oder allzu politische Menschen weis machen wollen. Der Tod ist der Sünde Sold, heißt es einmal bei Paulus. Unsere Schuld ist groß genug. Aber, soviel Sold ? Und: so viel (!) für so viele, die es nicht verdienen ?! Bei allem, was ich von Gott mitbekommen habe und woran ich auch fest glaube, bleibt doch genug auch für mich übrig, was einfach nicht verstehbar ist. Welch ein unauslotbarer Schmerz durchzieht die Welt, denn: sie kann an so vielen Stellen nicht gelesen und nicht verstanden werden. Es gibt eine Art Kälte des Weltalls und eine Sinnlosigkeit des Leidens, über die man sich nicht irgendwie frömmelnd oder erklärend hinwegsetzen könnte. Da ist der Thron leer und der Seher weint und wir mit ihm. Wie also ? Sage Gott ab und stirb ! sagte dazu Hiobs Frau, als all das Unglück über die beiden und ihre Kinder gekommen war. Und der fromme Hiob antwortet: Wenn wir das Gute von Gott annehmen, warum nicht auch das Böse ? Dieser Satz ist in meiner Lutherbibel fett gedruckt, wie alle Sätze, die uns Ergebung, Hinnehmen und Demut lehren. Aber, was soll das ? Welche fettgedruckte und verlogene Logik ist das, die uns die Tränen ausreden will anstatt sie zu trocknen ?! Der Seher jedenfalls weint. Es wird nicht leichter, wenn wir weitergehen ins nächste Bild. Es tritt einer zum Weinenden und sagt: Hör auf zu weinen ! Der Löwe aus dem Stamme Juda hat gesiegt. Er kann die sieben Siegel öffnen. Der Löwe wird dann zum Lamm. Löwen siegen - Lämmer werden geschlachtet.
  • 4. Die Menschen, gerade wenn sie nichts zum Lachen haben, lieben die Löwen, lieben Sieger, lieben die starken Götter. Zu dem, der hier gleichzeitig Löwe und Lamm genannt wird, hatte der Versucher in der Wüste gesagt: Wenn Du Gottes Sohn bist, dann sprich, und die Steine werden in Brot verwandelt. Stürze Dich von der Zinne des Tempels, und Gott wird nicht zulassen, dass Du zerschmettert wirst. Unverwundbarkeit und Stärke, das sind die Götter damals wie heute. Steige herab vom Kreuz, sagten die Leute später zu ihm, vielleicht mehr aus Verzweiflung als aus Hohn. Gehöre zu den Sieger ! Sei stärker als die Starken ! Dann... wollen wir an Dich glauben. Vielleicht meinen diese Leute folgendes mit der Anbetung der Sieger: Wenn unser Leben schon so glanzlos und kärglich ist, dann wollen wir uns wenigstens am Glanz der Sieger sonnen. An den Geschichten der Reichen, am Glanz der Königshäuser, an den Wegen der Erfolgreichen. Liebe Gemeinde. Solche Märchen von den Gewinnern sind nichts anderes als Opium für das gemeine Volk. Christus aber ist, um Gottes willen, der Verlierer. Das ist wahrlich ein hartes Wort. Welch ein unfeierliches Bild steht da für uns am Anfang des Advents: Das Lamm wurde geschlachtet um euretwillen. Damit ihr frei werdet, heißt es da. Wie werden wir frei ? Nun wird es wirklich ganz schwierig und heikel, denn da heißt es: Du bist geschlachtet worden und hast (die Menschen) für Gott mit Deinem Blut erkauft. Was soll das heißen ? Beim wem kann man ( bitte schön ) etwas für Blut kaufen ? Wer nimmt Blut in Zahlung ? Wer läßt sich versöhnen mit dem Blut eines Unschuldigen ? Ich gehöre nicht zu denen, die solche Redeweise vom erlösenden Blut gerne gebraucht. Vor allem, wenn sie zu glatt und formelhaft gebraucht wird, finde ich es schwierig. Deshalb will ich, vorsichtig tastend dazu nichts erklären; nur erzählen. Zweierlei aus zwei Lebensgeschichten. Die erste (mehr von außen ) die Geschichte der französischen Jüdin Simone Weil, Philosophin und Sozialistin. Eine verrückte Geschichte: 1940 wurde sie von den Nazis verhaftet, verhört und
  • 5. versehentlich wieder freigelassen. Sie konnte mit ihrer Familie nach New York entkommen. Schon 1941 verlässt sie diese Sicherheit, um näher bei ihrem leidenden Volk zu sein. So nah wie möglich. Sie geht nach England, da sie nicht nach Frankreich zurück kann. Dort weigert sie sich, mehr zu essen, als den Franzosen im besetzten Frankreich auf ihren Lebensmittelkarten zugeteilt wird. Sie hatte aber eine Tuberkulose, und sie stirbt, von Krankheit und Hunger geschwächt. Was für ein Tod und warum erinnert er mich an den Jesus von Nazareth ? Auf ihrem Totenschein stand: Tod infolge von Versagen des Herzens ? Aber hat dieses Herz versagt ? Simone de Beauvoir sagt über sie: Sie hatte ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. Charles de Gaulle, der spätere Präsident, über sie: Sie ist verrückt ! Man entscheide selber. Wem hat dieser Tod genützt ? Oder ist das schon die falsche Frage ? Eine zweite Geschichte zum Schluss von meinem Vater, der in jener Zeit, weis Gott, kein Held war; aber einmal doch. Er erzählte mir von seinen Soldatenjahren im besetzten Frankreich. Die scheinbare Normalität dort vor der Landung der Alliierten. Das Brot, das man aß, schien so wie jedes französische Brot zu sein. Die Zeitungen/die Radiosendungen klangen französisch und waren es doch nicht; es waren Nachrichten der Besatzer. Die Lieder und Akkordeonklänge in den Bars und Cafés schienen wie immer zu klingen. Doch eines nachts ( mein Vater war mit seiner Einheit einquartiert bei einem französischen Dorfpfarrer ),… eines nachts hörte er im Nebenzimmer die Stimme der Freiheit. Einen Sender aus England, der in französischer Sprache ( untermalt mit Liedern ) die bevorstehende Landung der Alliierten ankündigt. Mein Vater hätte seinen katholischen Kollegen, den Priester, anzeigen können oder sogar müssen. Seine kleine Heldentat war es, es nicht zu tun. Er, der so begabt war, die kompliziertesten Geheimcodes zu durchschauen, hatte in diesem Moment nicht viel mehr als eine schwache Ahnung von dem, was es heißt, nicht schuldig sondern frei zu werden. Wenn
  • 6. man so will war er in diesem Moment zu einer Art Horchfunker Gottes geworden. Auf uns übertragen: Das Evangelium ( so wie auch die Offenbahrung heute ) geben uns meist nur eine Ahnung davon, was es heißt, frei zu werden. Advent heißt ja in etwa: Es kommt einer, der bei uns landen will. Der uns frei machen will von Schuld und Versagen, von all dem, was uns besetzt und gefangen hält. Der Schleier wird eines Tages von unseren Augen genommen und wir werden sehen, was wir jetzt nur glauben und ahnen können. Noch ein letztes Mal die Stimme, die den weinenden Seher tröstet und zu ihm spricht: Höre auf zu weinen ! Der Löwe aus dem Stamme Juda, der Sproß Davids hat ( insgeheim schon ) gesiegt. ER kann die sieben Siegel des Buches öffnen. Und die Ältesten und Kirchenvorsteher in dieser Szene knien nieder und singen: Würdig bist Du (wahrhaft würdig), die Buchrolle zu nehmen und ihre Siegel zu öffnen. Einmal, so ist es uns versprochen, einmal wird es so sein. Diese Kirchenvorsteher hier, und all Ältesten vor ihnen bis zurück zu den Tagen der Urgemeinde... und alle, die heute gewählt werden und in all den Jahren, die da noch kommen sollen bis hin zum Jüngsten Tag, alle werden anbeten und niederfallen vor dem Löwen Judas, der das Lamm Gottes ist. Und, wir werden dann aufstehen und im Lande der Freiheit angekommen sein. Wir werden mit den Heiligen Gottes und mit den Engeln singen… das Lied vom Lamm und all die anderen schönen Lieder: auch das vom Kind Gottes, das unter uns lebte. Advenire/Advent heißt: ankommen. Es kommt ein Schiff, das bei uns ankommen will. Es kommt ein Schiff geladen, bis an sein höchsten Bord, trägt Gottes Sohn, voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort. So soll es sein – so wird es sein. AMEN