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                                                                                                                   DISKUSSION




Wann hört der Spaß auf?
Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine,
das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß,
die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichen
Industrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel.

VON JULIA PENNIGSDORF
Sonntag, 20. Mai 2012	   vVvvvv                                                                              so.Diskussion
                                                                                                             Wann hört der Spaß auf?




          E
                s sind zwei Bilder, die sich ähneln und doch grund-        T-Shirt. Sie steht aufrecht, vor ihr steht ihr Sohn, fast vier
                verschieden sind. Auf dem einen ist eine Mutter zu         Jahre alt. Groß sieht er aus in seiner Camouflagehose, viel-
                sehen, die ihr Baby stillt. Sanft hält sie den Kopf des    leicht auch wegen des selbstbewussten, trotzigen Blicks.
          Säuglings, vom Kind sind nur die Stupsnase und die wa-           Er steht auf einem kleinen Stuhl und trinkt ebenfalls ganz
          chen, blauen Augen zu sehen, die das Gesicht der Mutter          selbstverständlich Milch aus der Brust seiner Mutter.
          fixieren. Es ist ein Bild, das berührt, das Zufriedenheit aus-
          strahlt, Liebe, Schutz, Geborgenheit symbolisiert. Auf dem       Die Reaktionen auf die beiden Bilder könnten unterschied-
          anderen Bild ist ebenfalls eine Mutter zu sehen. Eine attrak-    licher nicht sein. Der Frau, die ihren Säugling stillt, dürften
          tive, moderne Frau, die blonden Haare sind locker zu einem       die gesellschaftlichen Sympathien sicher sein – zumindest
          Zopf geschlungen, die 26-Jährige trägt enge Röhrenjeans,         so lange sie ihrem Kind dezent und möglichst nicht öffent-
          flache Ballerinas und ein ärmelloses, tief ausgeschnittenes      lich die Brust gibt. Jamie Lynee Grumet, so heißt die Frau
                                                                           aus Los Angeles, die sich für das aktuelle amerikanische
                                                                           Time-Magazine mit ihrem dreijährigen Sohn Aram hat fo-
Fotolia




                                                                           tografieren lassen, hat sich jedoch ins gesellschaftliche
                                                                           Aus gestellt.

                                                                           Es hagelt Proteste, die Emotionen kochen hoch. Widerlich
                                                                           sei das, so die Meinung vieler, ekelig und abstoßend. Die
                                                                           Mutter handle egoistisch, sogar von Kindesmissbrauch ist
                                                                           die Rede. Supermarktketten weigern sich, das Magazin
                                                                           auszulegen, Psychologen sorgen sich um das Kindeswohl,
                                                                           Mütter diskutieren erregt über das Langzeitstillen. Wie




                                                                                                                                  «
Sonntag, 20. Mai 2012	   vvVvvv                                                                               so.Diskussion
                                                                                                    Wann hört der Spaß auf?


lange sollte man stillen? Sind Frauen, die gar nicht stillen,     raterin und Ernährungsexpertin Aleyd von Gartzen, führen
Rabenmütter? Werden aus ungestillten Kindern bindungs-            neben den positiven Aspekten für die emotionale Bindung
unfähige Erwachsene? Die Verunsicherung ist groß.                 die gesundheitlichen Vorteile des längeren Stillens an. Und
                                                                  zwar für Mutter wie Kind. „Stillen wirkt bei den Kindern prä-
Dass das Thema Extremstillen kontrovers diskutiert wird, ventiv gegen Allergien, Übergewicht und viele andere akute
ist nicht neu. Immer mal wieder machen Frauen auf sich wie chronische Erkrankungen“, sagt von Gartzen, „und die
aufmerksam, die ihre Kinder, die bereits vier, fünf Jahre Mütter schützt es beispielsweise vor Brust- und Eierstock-
alt sind oder schon in die Schule ge-
hen, noch stillen. Die Argumente sind
bei Gegnern wie Befürwortern die im-
                                           »    Stillen wirkt bei den Kindern
                                                präventiv gegen Allergien,
                                                                                      krebs.“ Von Gartzen ist keine Verfech-
                                                                                      terin des extremen Langzeitstillens.
                                                                                      Sie sagte aber: „Jeder Monat zählt. Je
mer gleichen: Die Gegner argumentie-            Übergewicht und viele                 länger desto besser, zumindest aus

                                                                              «
ren, dass die Mütter aus egoistischen           andere akute wie chronische           gesundheitlichen Gründen.“ Und sie
Gründen und aufgrund persönlicher               Erkrankungen.                         sagt: „Auch wenn das heute gesell-
                                                Aleyd von Gartzen
Defizite handeln, dass sie ihr Kind ab-                                               schaftlich nicht toleriert wird, rein bio-
hängig machen und möglichst lange an sich binden wollen. logisch gesehen liegt das natürliche Abstillalter zwischen
Sie fragen danach, wie eine sexuelle Beziehung zwischen zwei und sieben Jahren.“ So gesehen liegen Grumet und die
den Eltern funktionieren solle, wenn ein Kind jahrelang ge- meisten anderen langzeitstillenden Mütter also durchaus
stillt werde. Sie finden, dass es ein Zeichen von Normalität innerhalb der Norm.
und nicht zuletzt auch Emanzipation sei, dass eine Frau
ihren Körper irgendwann auch wieder für sich haben wolle. Von Gartzen ärgert an der erneuten Diskussion vor allem,
                                                                  dass es zur Verunsicherung bei jungen Müttern führt. „Vie-
Die Befürworter, etwa die hannoversche Hebamme, Stillbe- le wissen gar nicht genau, ob sie nun stillen sollen oder




                                                                                                                        «
Sonntag, 20. Mai 2012	   vvvVvv                                                                              so.Diskussion
                                                                                                   Wann hört der Spaß auf?


nicht und wenn ja wie lange. Wenn sie die abwerten-         sonntag interview
den Reaktionen ihres Umfelds mitbekommen, dann
lassen sie es gleich ganz“, befürchtet die Hebamme.
Dabei hat Deutschland keine gute Stillquote. Sechs
Monate, so die offizielle Empfehlung der Weltgesund-
heitsorganisation und der Kinderärzte, sollen Frauen
ihre Kinder mindestens voll stillen, also ihnen nichts
weiter geben außer der Muttermilch. Das aber schaf-
fen nicht einmal 20 Prozent. „Der Aufschrei müsste
genau in die andere Richtung gehen. Nicht, weil Frau-
                                                            ... mit MARTIN SCHOELLER,
en zu lange stillen, sondern weil viel zu selten und zu
                                                            Fotograf, sorgt aktuell mit dem Titelfoto des Time-
kurz gestillt wird“, findet von Gartzen.                    Magazines, für hitzige Diskussionen.

Ihre Kollegin, Brigitte Salisch, zweite Vorsitzende des
Deutschen Hebammenverbandes Niedersachsen, teilt            »Sie war keine esoterische Spinnerin«
diese Ansicht. „Stillen ist das Natürlichste der Welt.
Keine andere Kultur macht so ein Tamtam daraus“,            Sind Sie erstaunt, dass das Titelfoto für so viel Furore




                                                                                                                        BITTE SCROLLEN
sagt sie und fügt lächelnd an: „Es sind nie Mutter und      sorgt?
Kind, die sich so viel Gedanken machen, sondern es ist      Ja, das hätte ich nie erwartet. Man hat mir bei Time ge-
immer die Außenwelt.“ Salisch plädiert für mehr Ge-         sagt, es sei der am meisten diskutierte Titel in der Ge-
lassenheit und Toleranz. „Wir gehen in Deutschland          schichte des Magazins. Ich weiß zwar nicht, wie man
sehr verkopft an die Sache heran“, kritisiert sie, „stän-   das messen will, weil es vor 50 Jahren kein Internet gab.
                                                            Aber es ist ein Riesenerfolg für die Printmedien insge-




                                                                                                                    «
                                                            samt.
Sonntag, 20. Mai 2012	   vvvvVv                                                                         so.Diskussion
                                                                                              Wann hört der Spaß auf?


dig streiten wir herum, fragen, wie lange stillen, wann ab-
stillen, wann mit der Beikost beginnen? Man sollte der Sa-
che einfach mal seinen Lauf lassen. Kinder und Mütter sind
verschieden. Vieles ergibt sich. Irgendwann werden Kinder
neugierig, wollen das Essen, das auf dem Tisch steht und
das alle essen, probieren. Irgendwann merken Mütter, dass
sie nicht mehr stillen wollen. Es könnte so entspannt sein,
ohne dauernde Einmischung von außen.“

In der Tat gibt es kaum etwas, das so intim und privat ist,
wie die Frage, ob eine Frau ihr Baby stillt und wie lange
sie es tut. Trotzdem reden eine Menge Leute mit. Und das
nicht behutsam und differenziert, sondern von beiden Sei-




                                                                                                                           obs
ten mit der vollen Argumentationswucht von Menschen,
die sich sicher sind, sie stünden auf der richtigen Seite.    gegründet. Mit ihrer Gründung hat sich die Bundesregie-
                                                              rung der sogenannten Innocenti Declaration „zum Schutz,
Dabei ist es nicht so, dass Stillen in Deutschland uner-      zur Förderung und Unterstützung des Stillens“ angeschlos-
wünscht ist. Im Gegenteil. Es gibt sogar eine beim Bundes-    sen und eine Forderung der Weltgesundheitsversammlung
ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-        von 1992 erfüllt. Ziel der Kommission: die Entwicklung ei-
cherschutz angesiedelte Nationale Stillkommission, die        ner neuen Stillkultur in Deutschland zu unterstützen und
sich die Förderung des Stillens auf die Fahnen geschrieben    dazu beizutragen, dass Stillen zur normalen Ernährung für
hat. Die Kommission wurde 1994 am Robert-Koch-Institut        Säuglinge wird.




                                                                                                                 «
Sonntag, 20. Mai 2012	   vvvvvV                                                                          so.Diskussion
                                                                                               Wann hört der Spaß auf?


Bleibt also nur noch die Frage, wie lange Kinder gestillt     hängt vom Entwicklungsstand des Kindes und der Mutter-
werden sollen. Es fällt auf, dass alle Empfehlungen dazu      Kind-Beziehung ab. Es gibt keine festen Grenzen, wann
bewusst vage gehalten werden. Die Weltgesundheitsorga-        das geschehen muss“, sagt er, „und das ist auch gut so.“
nisation schreibt auf ihrer Homepage: „Stillen ist der bes-   Dennoch gäbe es natürlich Fälle, die auch er mit Bauch-
te Weg der Versorgung von Neugeborenen mit den Nähr-          schmerzen sehe. Spätestens ab dem Schulalter müsse man
stoffen, die sie benötigen. Die WHO empfiehlt, Säuglinge      das Stillen kritisch hinterfragen und sich die individuellen
bis zum Alter von 6 Monaten voll zu stillen und das Stillen   Gründe genauer anschauen, um sicherzustellen, dass kei-
unter Hinzunahme von Folgenahrung bis zum Alter von 2         ne krankhafte Interaktion vorliegt. „Es ist schwer auf die
Jahren oder länger fortzuführen.“                             Frage der Stilldauer eine verbindliche Antwort zu geben“,
                                                              räumt der Mediziner ein, „vielleicht kann man es so sagen:
Was unter länger zu verstehen ist, wird nicht weiter ausge-   Man muss schauen, ob das Stillen nach dem Kleinkindal-
führt. Die LaLecheLiga, ein Verein, der weltweit Beratung     ter, also über das Alter von drei Jahren hinaus, Sinn für das
rund um das Thema Stillen anbietet, erklärt ebenfalls in      Kind macht oder ob es mehr der Mutter dient. Es kann aber
einer Stellungsnahme zur Frage „Wie lange kann, soll oder     immer auch Ausnahmen geben, beispielsweise wenn Kin-
darf eine Stillbeziehung dauern“, dass es aufgrund biolo-     der minderbegabt, entwicklungsverzögert oder chronisch
gischer, kultureller und individueller Aspekte „keine all-    krank sind.“                                              N
gemeingültige Antwort oder Empfehlung hinsichtlich der
Stilldauer geben kann.“

Diese Ansicht teilt auch Burkhard Neuhaus, Chefarzt der
Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinder- und
Jugendkrankenhauses auf der Bult. „Das Ende der Stillzeit
so.Diskussion
                                                                             Die Lehren des Dr. Sears




Die Lehren des
                       S
                            kandalöses Titelbild? Für deutsche Leser des amerikanischen Time
                            Magazine ließ sich dieser Tage zumindest am Kiosk nicht nachvoll-

Dr. Sears                   ziehen, was in den USA für Furore sorgte. Statt der Mutter mit ei-
                       nem fast Vierjährigen an der bloßen Brust ziert das Cover der aktuellen
                       europäischen Ausgabe Frankreichs neuen Präsidenten François Hollande.


VON EVA-MARIA TRÄGER   Dennoch wird auch in Deutschland die Erziehungsdebatte, der richtige
                       Umgang mit Kindern, engagiert geführt. Unter den mehr als 18 000 Er-
                       gebnissen, die der Online-Buchversand Amazon in der Kategorie „Eltern
                       und Kind“ auflistet, sind auch Werke jenes Mannes, dessen Geschich-
                       te sich hinter dem umstrittenen Time-Cover verbirgt: William Sears.

                       Vier Bücher sind von dem Kinderarzt neu und auf Deutsch lieferbar. Sei-
                       ne Theorie des „Attachment Parenting“, der „bindungsorientierten El-
                       ternschaft“, ist auch in Europa bekannt. In den USA aber ist „Dr. Sears“,
                       wie er sich nennt, ein Star – ein Guru. Mehr als 1,5 Millionen Exempla-
                       re von Sears’ 1992 veröffentlichter Eltern-Bibel „The Baby Book“ wur-




                                                                                                    BITTE SCROLLEN
                       den weltweit verkauft, schreibt Time-Autorin Kate Pickert. Die Chancen
                       stünden gut, dass nahezu jede amerikanische Mutter eines Kindes im
                       schulfähigen Alter oder jünger mit Sears’ Methoden in Berührung ge-
DR. WILLIAM SEARS      kommen sei, und sie – bewusst oder unbewusst – auch angewendet hat.
                       Die Grundthese ist einfach, verlangt den Müttern aber einiges ab: Ziel ist
                       die größtmögliche Nähe zum Kind – laut Sears eine unbedingte Voraus-
                       setzung für eine Bindung, die Basis für ein späteres erfolgreiches Leben.

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Hannoversche Allgemeine: Langzeitstillen

  • 1. so. DISKUSSION Wann hört der Spaß auf? Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine, das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß, die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichen Industrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel. VON JULIA PENNIGSDORF
  • 2. Sonntag, 20. Mai 2012 vVvvvv so.Diskussion Wann hört der Spaß auf? E s sind zwei Bilder, die sich ähneln und doch grund- T-Shirt. Sie steht aufrecht, vor ihr steht ihr Sohn, fast vier verschieden sind. Auf dem einen ist eine Mutter zu Jahre alt. Groß sieht er aus in seiner Camouflagehose, viel- sehen, die ihr Baby stillt. Sanft hält sie den Kopf des leicht auch wegen des selbstbewussten, trotzigen Blicks. Säuglings, vom Kind sind nur die Stupsnase und die wa- Er steht auf einem kleinen Stuhl und trinkt ebenfalls ganz chen, blauen Augen zu sehen, die das Gesicht der Mutter selbstverständlich Milch aus der Brust seiner Mutter. fixieren. Es ist ein Bild, das berührt, das Zufriedenheit aus- strahlt, Liebe, Schutz, Geborgenheit symbolisiert. Auf dem Die Reaktionen auf die beiden Bilder könnten unterschied- anderen Bild ist ebenfalls eine Mutter zu sehen. Eine attrak- licher nicht sein. Der Frau, die ihren Säugling stillt, dürften tive, moderne Frau, die blonden Haare sind locker zu einem die gesellschaftlichen Sympathien sicher sein – zumindest Zopf geschlungen, die 26-Jährige trägt enge Röhrenjeans, so lange sie ihrem Kind dezent und möglichst nicht öffent- flache Ballerinas und ein ärmelloses, tief ausgeschnittenes lich die Brust gibt. Jamie Lynee Grumet, so heißt die Frau aus Los Angeles, die sich für das aktuelle amerikanische Time-Magazine mit ihrem dreijährigen Sohn Aram hat fo- Fotolia tografieren lassen, hat sich jedoch ins gesellschaftliche Aus gestellt. Es hagelt Proteste, die Emotionen kochen hoch. Widerlich sei das, so die Meinung vieler, ekelig und abstoßend. Die Mutter handle egoistisch, sogar von Kindesmissbrauch ist die Rede. Supermarktketten weigern sich, das Magazin auszulegen, Psychologen sorgen sich um das Kindeswohl, Mütter diskutieren erregt über das Langzeitstillen. Wie «
  • 3. Sonntag, 20. Mai 2012 vvVvvv so.Diskussion Wann hört der Spaß auf? lange sollte man stillen? Sind Frauen, die gar nicht stillen, raterin und Ernährungsexpertin Aleyd von Gartzen, führen Rabenmütter? Werden aus ungestillten Kindern bindungs- neben den positiven Aspekten für die emotionale Bindung unfähige Erwachsene? Die Verunsicherung ist groß. die gesundheitlichen Vorteile des längeren Stillens an. Und zwar für Mutter wie Kind. „Stillen wirkt bei den Kindern prä- Dass das Thema Extremstillen kontrovers diskutiert wird, ventiv gegen Allergien, Übergewicht und viele andere akute ist nicht neu. Immer mal wieder machen Frauen auf sich wie chronische Erkrankungen“, sagt von Gartzen, „und die aufmerksam, die ihre Kinder, die bereits vier, fünf Jahre Mütter schützt es beispielsweise vor Brust- und Eierstock- alt sind oder schon in die Schule ge- hen, noch stillen. Die Argumente sind bei Gegnern wie Befürwortern die im- » Stillen wirkt bei den Kindern präventiv gegen Allergien, krebs.“ Von Gartzen ist keine Verfech- terin des extremen Langzeitstillens. Sie sagte aber: „Jeder Monat zählt. Je mer gleichen: Die Gegner argumentie- Übergewicht und viele länger desto besser, zumindest aus « ren, dass die Mütter aus egoistischen andere akute wie chronische gesundheitlichen Gründen.“ Und sie Gründen und aufgrund persönlicher Erkrankungen. sagt: „Auch wenn das heute gesell- Aleyd von Gartzen Defizite handeln, dass sie ihr Kind ab- schaftlich nicht toleriert wird, rein bio- hängig machen und möglichst lange an sich binden wollen. logisch gesehen liegt das natürliche Abstillalter zwischen Sie fragen danach, wie eine sexuelle Beziehung zwischen zwei und sieben Jahren.“ So gesehen liegen Grumet und die den Eltern funktionieren solle, wenn ein Kind jahrelang ge- meisten anderen langzeitstillenden Mütter also durchaus stillt werde. Sie finden, dass es ein Zeichen von Normalität innerhalb der Norm. und nicht zuletzt auch Emanzipation sei, dass eine Frau ihren Körper irgendwann auch wieder für sich haben wolle. Von Gartzen ärgert an der erneuten Diskussion vor allem, dass es zur Verunsicherung bei jungen Müttern führt. „Vie- Die Befürworter, etwa die hannoversche Hebamme, Stillbe- le wissen gar nicht genau, ob sie nun stillen sollen oder «
  • 4. Sonntag, 20. Mai 2012 vvvVvv so.Diskussion Wann hört der Spaß auf? nicht und wenn ja wie lange. Wenn sie die abwerten- sonntag interview den Reaktionen ihres Umfelds mitbekommen, dann lassen sie es gleich ganz“, befürchtet die Hebamme. Dabei hat Deutschland keine gute Stillquote. Sechs Monate, so die offizielle Empfehlung der Weltgesund- heitsorganisation und der Kinderärzte, sollen Frauen ihre Kinder mindestens voll stillen, also ihnen nichts weiter geben außer der Muttermilch. Das aber schaf- fen nicht einmal 20 Prozent. „Der Aufschrei müsste genau in die andere Richtung gehen. Nicht, weil Frau- ... mit MARTIN SCHOELLER, en zu lange stillen, sondern weil viel zu selten und zu Fotograf, sorgt aktuell mit dem Titelfoto des Time- kurz gestillt wird“, findet von Gartzen. Magazines, für hitzige Diskussionen. Ihre Kollegin, Brigitte Salisch, zweite Vorsitzende des Deutschen Hebammenverbandes Niedersachsen, teilt »Sie war keine esoterische Spinnerin« diese Ansicht. „Stillen ist das Natürlichste der Welt. Keine andere Kultur macht so ein Tamtam daraus“, Sind Sie erstaunt, dass das Titelfoto für so viel Furore BITTE SCROLLEN sagt sie und fügt lächelnd an: „Es sind nie Mutter und sorgt? Kind, die sich so viel Gedanken machen, sondern es ist Ja, das hätte ich nie erwartet. Man hat mir bei Time ge- immer die Außenwelt.“ Salisch plädiert für mehr Ge- sagt, es sei der am meisten diskutierte Titel in der Ge- lassenheit und Toleranz. „Wir gehen in Deutschland schichte des Magazins. Ich weiß zwar nicht, wie man sehr verkopft an die Sache heran“, kritisiert sie, „stän- das messen will, weil es vor 50 Jahren kein Internet gab. Aber es ist ein Riesenerfolg für die Printmedien insge- « samt.
  • 5. Sonntag, 20. Mai 2012 vvvvVv so.Diskussion Wann hört der Spaß auf? dig streiten wir herum, fragen, wie lange stillen, wann ab- stillen, wann mit der Beikost beginnen? Man sollte der Sa- che einfach mal seinen Lauf lassen. Kinder und Mütter sind verschieden. Vieles ergibt sich. Irgendwann werden Kinder neugierig, wollen das Essen, das auf dem Tisch steht und das alle essen, probieren. Irgendwann merken Mütter, dass sie nicht mehr stillen wollen. Es könnte so entspannt sein, ohne dauernde Einmischung von außen.“ In der Tat gibt es kaum etwas, das so intim und privat ist, wie die Frage, ob eine Frau ihr Baby stillt und wie lange sie es tut. Trotzdem reden eine Menge Leute mit. Und das nicht behutsam und differenziert, sondern von beiden Sei- obs ten mit der vollen Argumentationswucht von Menschen, die sich sicher sind, sie stünden auf der richtigen Seite. gegründet. Mit ihrer Gründung hat sich die Bundesregie- rung der sogenannten Innocenti Declaration „zum Schutz, Dabei ist es nicht so, dass Stillen in Deutschland uner- zur Förderung und Unterstützung des Stillens“ angeschlos- wünscht ist. Im Gegenteil. Es gibt sogar eine beim Bundes- sen und eine Forderung der Weltgesundheitsversammlung ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- von 1992 erfüllt. Ziel der Kommission: die Entwicklung ei- cherschutz angesiedelte Nationale Stillkommission, die ner neuen Stillkultur in Deutschland zu unterstützen und sich die Förderung des Stillens auf die Fahnen geschrieben dazu beizutragen, dass Stillen zur normalen Ernährung für hat. Die Kommission wurde 1994 am Robert-Koch-Institut Säuglinge wird. «
  • 6. Sonntag, 20. Mai 2012 vvvvvV so.Diskussion Wann hört der Spaß auf? Bleibt also nur noch die Frage, wie lange Kinder gestillt hängt vom Entwicklungsstand des Kindes und der Mutter- werden sollen. Es fällt auf, dass alle Empfehlungen dazu Kind-Beziehung ab. Es gibt keine festen Grenzen, wann bewusst vage gehalten werden. Die Weltgesundheitsorga- das geschehen muss“, sagt er, „und das ist auch gut so.“ nisation schreibt auf ihrer Homepage: „Stillen ist der bes- Dennoch gäbe es natürlich Fälle, die auch er mit Bauch- te Weg der Versorgung von Neugeborenen mit den Nähr- schmerzen sehe. Spätestens ab dem Schulalter müsse man stoffen, die sie benötigen. Die WHO empfiehlt, Säuglinge das Stillen kritisch hinterfragen und sich die individuellen bis zum Alter von 6 Monaten voll zu stillen und das Stillen Gründe genauer anschauen, um sicherzustellen, dass kei- unter Hinzunahme von Folgenahrung bis zum Alter von 2 ne krankhafte Interaktion vorliegt. „Es ist schwer auf die Jahren oder länger fortzuführen.“ Frage der Stilldauer eine verbindliche Antwort zu geben“, räumt der Mediziner ein, „vielleicht kann man es so sagen: Was unter länger zu verstehen ist, wird nicht weiter ausge- Man muss schauen, ob das Stillen nach dem Kleinkindal- führt. Die LaLecheLiga, ein Verein, der weltweit Beratung ter, also über das Alter von drei Jahren hinaus, Sinn für das rund um das Thema Stillen anbietet, erklärt ebenfalls in Kind macht oder ob es mehr der Mutter dient. Es kann aber einer Stellungsnahme zur Frage „Wie lange kann, soll oder immer auch Ausnahmen geben, beispielsweise wenn Kin- darf eine Stillbeziehung dauern“, dass es aufgrund biolo- der minderbegabt, entwicklungsverzögert oder chronisch gischer, kultureller und individueller Aspekte „keine all- krank sind.“ N gemeingültige Antwort oder Empfehlung hinsichtlich der Stilldauer geben kann.“ Diese Ansicht teilt auch Burkhard Neuhaus, Chefarzt der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinder- und Jugendkrankenhauses auf der Bult. „Das Ende der Stillzeit
  • 7. so.Diskussion Die Lehren des Dr. Sears Die Lehren des S kandalöses Titelbild? Für deutsche Leser des amerikanischen Time Magazine ließ sich dieser Tage zumindest am Kiosk nicht nachvoll- Dr. Sears ziehen, was in den USA für Furore sorgte. Statt der Mutter mit ei- nem fast Vierjährigen an der bloßen Brust ziert das Cover der aktuellen europäischen Ausgabe Frankreichs neuen Präsidenten François Hollande. VON EVA-MARIA TRÄGER Dennoch wird auch in Deutschland die Erziehungsdebatte, der richtige Umgang mit Kindern, engagiert geführt. Unter den mehr als 18 000 Er- gebnissen, die der Online-Buchversand Amazon in der Kategorie „Eltern und Kind“ auflistet, sind auch Werke jenes Mannes, dessen Geschich- te sich hinter dem umstrittenen Time-Cover verbirgt: William Sears. Vier Bücher sind von dem Kinderarzt neu und auf Deutsch lieferbar. Sei- ne Theorie des „Attachment Parenting“, der „bindungsorientierten El- ternschaft“, ist auch in Europa bekannt. In den USA aber ist „Dr. Sears“, wie er sich nennt, ein Star – ein Guru. Mehr als 1,5 Millionen Exempla- re von Sears’ 1992 veröffentlichter Eltern-Bibel „The Baby Book“ wur- BITTE SCROLLEN den weltweit verkauft, schreibt Time-Autorin Kate Pickert. Die Chancen stünden gut, dass nahezu jede amerikanische Mutter eines Kindes im schulfähigen Alter oder jünger mit Sears’ Methoden in Berührung ge- DR. WILLIAM SEARS kommen sei, und sie – bewusst oder unbewusst – auch angewendet hat. Die Grundthese ist einfach, verlangt den Müttern aber einiges ab: Ziel ist die größtmögliche Nähe zum Kind – laut Sears eine unbedingte Voraus- setzung für eine Bindung, die Basis für ein späteres erfolgreiches Leben.