Wann hört der Spaß auf?
Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine,
das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß,
die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichen
Industrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel.
VON JULIA PENNIGSDORF
1. so.
DISKUSSION
Wann hört der Spaß auf?
Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine,
das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß,
die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichen
Industrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel.
VON JULIA PENNIGSDORF
2. Sonntag, 20. Mai 2012 vVvvvv so.Diskussion
Wann hört der Spaß auf?
E
s sind zwei Bilder, die sich ähneln und doch grund- T-Shirt. Sie steht aufrecht, vor ihr steht ihr Sohn, fast vier
verschieden sind. Auf dem einen ist eine Mutter zu Jahre alt. Groß sieht er aus in seiner Camouflagehose, viel-
sehen, die ihr Baby stillt. Sanft hält sie den Kopf des leicht auch wegen des selbstbewussten, trotzigen Blicks.
Säuglings, vom Kind sind nur die Stupsnase und die wa- Er steht auf einem kleinen Stuhl und trinkt ebenfalls ganz
chen, blauen Augen zu sehen, die das Gesicht der Mutter selbstverständlich Milch aus der Brust seiner Mutter.
fixieren. Es ist ein Bild, das berührt, das Zufriedenheit aus-
strahlt, Liebe, Schutz, Geborgenheit symbolisiert. Auf dem Die Reaktionen auf die beiden Bilder könnten unterschied-
anderen Bild ist ebenfalls eine Mutter zu sehen. Eine attrak- licher nicht sein. Der Frau, die ihren Säugling stillt, dürften
tive, moderne Frau, die blonden Haare sind locker zu einem die gesellschaftlichen Sympathien sicher sein – zumindest
Zopf geschlungen, die 26-Jährige trägt enge Röhrenjeans, so lange sie ihrem Kind dezent und möglichst nicht öffent-
flache Ballerinas und ein ärmelloses, tief ausgeschnittenes lich die Brust gibt. Jamie Lynee Grumet, so heißt die Frau
aus Los Angeles, die sich für das aktuelle amerikanische
Time-Magazine mit ihrem dreijährigen Sohn Aram hat fo-
Fotolia
tografieren lassen, hat sich jedoch ins gesellschaftliche
Aus gestellt.
Es hagelt Proteste, die Emotionen kochen hoch. Widerlich
sei das, so die Meinung vieler, ekelig und abstoßend. Die
Mutter handle egoistisch, sogar von Kindesmissbrauch ist
die Rede. Supermarktketten weigern sich, das Magazin
auszulegen, Psychologen sorgen sich um das Kindeswohl,
Mütter diskutieren erregt über das Langzeitstillen. Wie
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3. Sonntag, 20. Mai 2012 vvVvvv so.Diskussion
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lange sollte man stillen? Sind Frauen, die gar nicht stillen, raterin und Ernährungsexpertin Aleyd von Gartzen, führen
Rabenmütter? Werden aus ungestillten Kindern bindungs- neben den positiven Aspekten für die emotionale Bindung
unfähige Erwachsene? Die Verunsicherung ist groß. die gesundheitlichen Vorteile des längeren Stillens an. Und
zwar für Mutter wie Kind. „Stillen wirkt bei den Kindern prä-
Dass das Thema Extremstillen kontrovers diskutiert wird, ventiv gegen Allergien, Übergewicht und viele andere akute
ist nicht neu. Immer mal wieder machen Frauen auf sich wie chronische Erkrankungen“, sagt von Gartzen, „und die
aufmerksam, die ihre Kinder, die bereits vier, fünf Jahre Mütter schützt es beispielsweise vor Brust- und Eierstock-
alt sind oder schon in die Schule ge-
hen, noch stillen. Die Argumente sind
bei Gegnern wie Befürwortern die im-
» Stillen wirkt bei den Kindern
präventiv gegen Allergien,
krebs.“ Von Gartzen ist keine Verfech-
terin des extremen Langzeitstillens.
Sie sagte aber: „Jeder Monat zählt. Je
mer gleichen: Die Gegner argumentie- Übergewicht und viele länger desto besser, zumindest aus
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ren, dass die Mütter aus egoistischen andere akute wie chronische gesundheitlichen Gründen.“ Und sie
Gründen und aufgrund persönlicher Erkrankungen. sagt: „Auch wenn das heute gesell-
Aleyd von Gartzen
Defizite handeln, dass sie ihr Kind ab- schaftlich nicht toleriert wird, rein bio-
hängig machen und möglichst lange an sich binden wollen. logisch gesehen liegt das natürliche Abstillalter zwischen
Sie fragen danach, wie eine sexuelle Beziehung zwischen zwei und sieben Jahren.“ So gesehen liegen Grumet und die
den Eltern funktionieren solle, wenn ein Kind jahrelang ge- meisten anderen langzeitstillenden Mütter also durchaus
stillt werde. Sie finden, dass es ein Zeichen von Normalität innerhalb der Norm.
und nicht zuletzt auch Emanzipation sei, dass eine Frau
ihren Körper irgendwann auch wieder für sich haben wolle. Von Gartzen ärgert an der erneuten Diskussion vor allem,
dass es zur Verunsicherung bei jungen Müttern führt. „Vie-
Die Befürworter, etwa die hannoversche Hebamme, Stillbe- le wissen gar nicht genau, ob sie nun stillen sollen oder
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4. Sonntag, 20. Mai 2012 vvvVvv so.Diskussion
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nicht und wenn ja wie lange. Wenn sie die abwerten- sonntag interview
den Reaktionen ihres Umfelds mitbekommen, dann
lassen sie es gleich ganz“, befürchtet die Hebamme.
Dabei hat Deutschland keine gute Stillquote. Sechs
Monate, so die offizielle Empfehlung der Weltgesund-
heitsorganisation und der Kinderärzte, sollen Frauen
ihre Kinder mindestens voll stillen, also ihnen nichts
weiter geben außer der Muttermilch. Das aber schaf-
fen nicht einmal 20 Prozent. „Der Aufschrei müsste
genau in die andere Richtung gehen. Nicht, weil Frau-
... mit MARTIN SCHOELLER,
en zu lange stillen, sondern weil viel zu selten und zu
Fotograf, sorgt aktuell mit dem Titelfoto des Time-
kurz gestillt wird“, findet von Gartzen. Magazines, für hitzige Diskussionen.
Ihre Kollegin, Brigitte Salisch, zweite Vorsitzende des
Deutschen Hebammenverbandes Niedersachsen, teilt »Sie war keine esoterische Spinnerin«
diese Ansicht. „Stillen ist das Natürlichste der Welt.
Keine andere Kultur macht so ein Tamtam daraus“, Sind Sie erstaunt, dass das Titelfoto für so viel Furore
BITTE SCROLLEN
sagt sie und fügt lächelnd an: „Es sind nie Mutter und sorgt?
Kind, die sich so viel Gedanken machen, sondern es ist Ja, das hätte ich nie erwartet. Man hat mir bei Time ge-
immer die Außenwelt.“ Salisch plädiert für mehr Ge- sagt, es sei der am meisten diskutierte Titel in der Ge-
lassenheit und Toleranz. „Wir gehen in Deutschland schichte des Magazins. Ich weiß zwar nicht, wie man
sehr verkopft an die Sache heran“, kritisiert sie, „stän- das messen will, weil es vor 50 Jahren kein Internet gab.
Aber es ist ein Riesenerfolg für die Printmedien insge-
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samt.
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dig streiten wir herum, fragen, wie lange stillen, wann ab-
stillen, wann mit der Beikost beginnen? Man sollte der Sa-
che einfach mal seinen Lauf lassen. Kinder und Mütter sind
verschieden. Vieles ergibt sich. Irgendwann werden Kinder
neugierig, wollen das Essen, das auf dem Tisch steht und
das alle essen, probieren. Irgendwann merken Mütter, dass
sie nicht mehr stillen wollen. Es könnte so entspannt sein,
ohne dauernde Einmischung von außen.“
In der Tat gibt es kaum etwas, das so intim und privat ist,
wie die Frage, ob eine Frau ihr Baby stillt und wie lange
sie es tut. Trotzdem reden eine Menge Leute mit. Und das
nicht behutsam und differenziert, sondern von beiden Sei-
obs
ten mit der vollen Argumentationswucht von Menschen,
die sich sicher sind, sie stünden auf der richtigen Seite. gegründet. Mit ihrer Gründung hat sich die Bundesregie-
rung der sogenannten Innocenti Declaration „zum Schutz,
Dabei ist es nicht so, dass Stillen in Deutschland uner- zur Förderung und Unterstützung des Stillens“ angeschlos-
wünscht ist. Im Gegenteil. Es gibt sogar eine beim Bundes- sen und eine Forderung der Weltgesundheitsversammlung
ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- von 1992 erfüllt. Ziel der Kommission: die Entwicklung ei-
cherschutz angesiedelte Nationale Stillkommission, die ner neuen Stillkultur in Deutschland zu unterstützen und
sich die Förderung des Stillens auf die Fahnen geschrieben dazu beizutragen, dass Stillen zur normalen Ernährung für
hat. Die Kommission wurde 1994 am Robert-Koch-Institut Säuglinge wird.
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Bleibt also nur noch die Frage, wie lange Kinder gestillt hängt vom Entwicklungsstand des Kindes und der Mutter-
werden sollen. Es fällt auf, dass alle Empfehlungen dazu Kind-Beziehung ab. Es gibt keine festen Grenzen, wann
bewusst vage gehalten werden. Die Weltgesundheitsorga- das geschehen muss“, sagt er, „und das ist auch gut so.“
nisation schreibt auf ihrer Homepage: „Stillen ist der bes- Dennoch gäbe es natürlich Fälle, die auch er mit Bauch-
te Weg der Versorgung von Neugeborenen mit den Nähr- schmerzen sehe. Spätestens ab dem Schulalter müsse man
stoffen, die sie benötigen. Die WHO empfiehlt, Säuglinge das Stillen kritisch hinterfragen und sich die individuellen
bis zum Alter von 6 Monaten voll zu stillen und das Stillen Gründe genauer anschauen, um sicherzustellen, dass kei-
unter Hinzunahme von Folgenahrung bis zum Alter von 2 ne krankhafte Interaktion vorliegt. „Es ist schwer auf die
Jahren oder länger fortzuführen.“ Frage der Stilldauer eine verbindliche Antwort zu geben“,
räumt der Mediziner ein, „vielleicht kann man es so sagen:
Was unter länger zu verstehen ist, wird nicht weiter ausge- Man muss schauen, ob das Stillen nach dem Kleinkindal-
führt. Die LaLecheLiga, ein Verein, der weltweit Beratung ter, also über das Alter von drei Jahren hinaus, Sinn für das
rund um das Thema Stillen anbietet, erklärt ebenfalls in Kind macht oder ob es mehr der Mutter dient. Es kann aber
einer Stellungsnahme zur Frage „Wie lange kann, soll oder immer auch Ausnahmen geben, beispielsweise wenn Kin-
darf eine Stillbeziehung dauern“, dass es aufgrund biolo- der minderbegabt, entwicklungsverzögert oder chronisch
gischer, kultureller und individueller Aspekte „keine all- krank sind.“ N
gemeingültige Antwort oder Empfehlung hinsichtlich der
Stilldauer geben kann.“
Diese Ansicht teilt auch Burkhard Neuhaus, Chefarzt der
Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinder- und
Jugendkrankenhauses auf der Bult. „Das Ende der Stillzeit
7. so.Diskussion
Die Lehren des Dr. Sears
Die Lehren des
S
kandalöses Titelbild? Für deutsche Leser des amerikanischen Time
Magazine ließ sich dieser Tage zumindest am Kiosk nicht nachvoll-
Dr. Sears ziehen, was in den USA für Furore sorgte. Statt der Mutter mit ei-
nem fast Vierjährigen an der bloßen Brust ziert das Cover der aktuellen
europäischen Ausgabe Frankreichs neuen Präsidenten François Hollande.
VON EVA-MARIA TRÄGER Dennoch wird auch in Deutschland die Erziehungsdebatte, der richtige
Umgang mit Kindern, engagiert geführt. Unter den mehr als 18 000 Er-
gebnissen, die der Online-Buchversand Amazon in der Kategorie „Eltern
und Kind“ auflistet, sind auch Werke jenes Mannes, dessen Geschich-
te sich hinter dem umstrittenen Time-Cover verbirgt: William Sears.
Vier Bücher sind von dem Kinderarzt neu und auf Deutsch lieferbar. Sei-
ne Theorie des „Attachment Parenting“, der „bindungsorientierten El-
ternschaft“, ist auch in Europa bekannt. In den USA aber ist „Dr. Sears“,
wie er sich nennt, ein Star – ein Guru. Mehr als 1,5 Millionen Exempla-
re von Sears’ 1992 veröffentlichter Eltern-Bibel „The Baby Book“ wur-
BITTE SCROLLEN
den weltweit verkauft, schreibt Time-Autorin Kate Pickert. Die Chancen
stünden gut, dass nahezu jede amerikanische Mutter eines Kindes im
schulfähigen Alter oder jünger mit Sears’ Methoden in Berührung ge-
DR. WILLIAM SEARS kommen sei, und sie – bewusst oder unbewusst – auch angewendet hat.
Die Grundthese ist einfach, verlangt den Müttern aber einiges ab: Ziel ist
die größtmögliche Nähe zum Kind – laut Sears eine unbedingte Voraus-
setzung für eine Bindung, die Basis für ein späteres erfolgreiches Leben.