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Demenz und Bindung
Die Bedeutung von Beziehung für die
Arbeit mit Menschen mit Demenz
Dr.med.Dipl.Psych. Wilhelm Stuhlmann
Herdecke 28. 02. 2014
2. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Zur gelingenden Begleitung eines Menschen
mit Demenz gehören die Anerkennung und
Berücksichtigung seiner wesentlichen
Grundbedürfnisse.
Dies wird erkennbar am Wohlbefinden der
betroffenen Person und der feinfühligen
Gestaltung der Beziehungen, der
Kommunikation, der Abläufe und der
Umgebung.
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In der Hierarchie der Grundbedürfnisse gilt die
sichere Bindung zu den aktuell bedeutsamen
Bezugspersonen als lebensnotwendige
Grundlage der menschlichen Existenz.
Nur mit starkem Vertrauen in die Personen, die sich auf
die Bedürfnisse eines Menschen in einer die Existenz
bedrohenden Lebensphase einlassen wollen und können,
gelingt es an das existentielle Bedürfnis anzuknüpfen.
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Bindung ist ein notwendiges biologisches,
psychisches und soziales Grundbedürfnis
Bindung sichert das Überleben in der ersten
Lebensphase durch Genährt werden, Erleben von
Schutz, Wärme und Geborgenheit.
Damit ist Bindung eine Grundlage (sicherer Hafen), sich
etwas zuzutrauen um Selbstsicherheit und
Selbstvertrauen zu entwickeln, aber auch um
Vertrauen zu erleben (Gegenseitigkeit von Vertrauen,
Entwicklung von Urvertrauen)
Das Gelingen einer Bindung als sichere Basis wird
insbesondere durch die Eigenschaft der Feinfühligkeit
der Bezugs- und Pflegepersonen sichergestellt.
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Feinfühligkeit ist die Fähigkeit zum Erkennen und zur
Umsetzung von Grundbedürfnissen durch:
Wahrnehmung von Signalen – durch aufmerksames
Beobachten
Richtige Interpretation der Signale aus der Sicht der
Person heraus, d.h. nicht gefärbt durch die Bedürfnisse
der Bezugs- oder Pflegeperson.
Prompte Reaktion – damit Verstärkung des Erlebens der
eigenen Wirksamkeit der (Pflege) abhängigen Person.
Angemessene, die Würde wahrende Reaktion,
(Situations-, Alters - und Krankheitsangemessen).
Anwendung in den Alltagssituationen der Betreuung,
Pflege und Behandlung.
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Zum Signalsytem der Feinfühligkeit gehören
Blickkontakt
Lächeln
Stimmodulation
Geruch
Bewegung und Berührung
Kinästhetische Stimulation
Tendenz zum Mund, Saugen
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Das Grundbedürfnis nach Bindung
entwickelt sich danach aus einer biologisch determinierten
Überlebensstrategie ein System der sozialen Interaktion
zur Beziehungsgestaltung.
Dies ist die Grundlage zur Entwicklung von Vertrauen und
Selbstvertrauen, zur Wahrnehmung und Gestaltung von
Beziehungen nach den Mustern verinnerlichter
Bindungsmodelle bzw. Bindungsmuster.
Frühe Erfahrungen mit den ersten Bezugspersonen prägen ein
inneres Modell zum leben von Beziehungen im weiteren
Leben (bis lebenslang).
Diese Bindungsanteile können über Generationen hinweg
(Kind-Eltern-Großeltern) wirksam bleiben.
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Neurobiologische Aspekte von Bindung
Auf der Ebene von Aktivierung neuronaler Strukturen sind mehrere
Neurotransmitter (Botenstoffe) beteiligt, die Erregung in bestimmten
Hirnarealen zu steuern
Neurotransmitter Einige wichtige Funktionen (u.a.)
Dopamin Belohnungssystem, positive
Erwartungen
Endorphin „Glückshormon“, schmerzlindernd
Oxytocin „Bindungshormon, Fähigkeit zur
Empathie, Anregen der
Milchproduktion
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Dopamin versetzt den Organismus psychisch und physisch in
einen Zustand von Konzentration und Handlungsbereitschaft
macht uns bereit in Beziehung zu gehen
Das wiederum bewirkt die Freisetzung endogener Opiode und es
kommt zu einer Art Wohlfühleffekt
Lebensfreude – Stärkung des Immunsystems
Daraufhin bildet das Gehirn einen dritten Botenstoff Oxytozin,
der gelungene Bindungen rückwirkend stabilisiert
schafft Vertrauen
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Spiegelneurone im Dienste der Bindung und der
Empathie
Beziehung und Bindung finden in einem gegenseitigen und
gleichzeitigen Austausch von Signalen statt.
Emotionale Ausdrucksweisen von Emotionen, insbesondere
der Empathie, werden im Rahmen der
Bindungserfahrungen im Kontakt mit den frühen
Bezugspersonen erworben.
Ein neuropsychologisches System von Spiegelneuronen
aktiviert die eigenen entsprechenden Hirnregionen durch
Beobachtung, durch die Wahrnehmung von Verhalten und
den Ausdruck von Emotionen.
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Die Spiegelneurone regeln unser
emotionales Mitempfinden und unsere
Intuition
- Sie sind Nervenzellen des Gehirns, die bei
uns eine best. Handlung oder Empfindung
steuern können, die aber auch aktiv werden,
wenn wir diese Handlung bei einer anderen
Person beobachten
•- Sie brauchen immer ein Gegenüber um sich
zu entwickeln
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Bindungstypen oder situativ dominierende
Bindungsanteile
Sichere Bindung – Grundvertrauen
Unsichere Bindungen
Vermeidend – Angst vor Nähe, Bedrohung und
Enttäuschung
Konflikthaft, ambivalent – Abhängig, Regression-
Aggression
Desorganisiert – nach (Re)Traumatisierung
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Eine sichere Bindung, bzw. ein hoher sicherer
Bindungsanteil, ist aus heutiger Sicht der beste
seelische Rückhalt zu Bewältigung von Lebenskrisen
wie z.B. psychische Erkrankungen oder schwerer
körperlicher Krankheiten.
Eine sichere Bindung ist getragen von einem tiefen
(Ur)Vertrauen und der Gewissheit, ohne
Gegenleistung geliebt und angenommen zu werden.
Das Erleben einer sicheren Bindung ist auch das
Fundament der Identität als Person.
Menschen mit Demenz können ihre Identität nur mit
Unterstützung und der Nähe durch andere Menschen
aufrechterhalten.
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Sichere Bindung und Wohlbefinden
Menschen mit einem sicheren Bindungsmuster haben früh
erlebt, dass sie von der Bezugsperson nicht im Stich
gelassen wurden, sie konnten (und durften) auch negative
Emotionen wie Trauer und Ärger der Bezugsperson
gegenüber zeigen.
Bei sicher gebundenen Personen mit Demenz ist oft eine
grundlegende Lebenszufriedenheit im Sinnen von
Grundvertrauen erkennbar.
Diese zeigt sich z.B. in der Akzeptanz von Hilfe, dem
Umgehen mit Abhängigkeit, Zeigen von Dankbarkeit und
Vertrauen gegenüber Bezugspersonen, Erleben von Freude
und weitgehendem Wohlbefinden, oft begleitet von dem
Wusch, auch selber helfen zu wollen.
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Problematische Verhaltensweisen,
die für die Kranken selbst und die
Bezugspersonen oft zu einem starken Stress und
zu einer enormen Belastung werden können, sind
oft unter der Bindungsperspektive anders
wahrnehmbar und verstehbar
Diese Perspektive ist hilfreich beim
Verstehen
Verändern oder
Aushalten.
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Zwei Bindungsstrategien
der unsicheren Bindungsanteile
Vermeiden von Bindung
Betonen von Kompetenz, Kontrolle und Autonomie
Kampf um deren Erhalt
Verinnerlichte Angst vor Zurückweisung und
Enttäuschung
Verstärkte Suche und Aktivierung von Bindung
Klammern, Rufen, Betonen von Hilflosigkeit und
Abhängigkeit, regressives Verhalten bzw.
Regressions-Aggressions-Spirale
Wahrgenommen werden sichert die Existenz, ist
also lebenswichtig
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Das unsichere Bindungsmuster der
Vermeidung von Nähe
entsteht durch ein frühes Defizit an Vertrauen, durch erlebte
Vernachlässigung, Nichtverfügbarkeit der Bezugspersonen,
Verweigerung oder Entzug der Unterstützung.
Nur auf sich selbst vertrauend, werden vermiedene
Bedürfnisse nach Nähe aus Angst vor erneuter Enttäuschung
zunehmend als Autonomie („ich brauche Niemanden“,
“cooler Typ“) erlebt.
Der Umgang mit Nähe wird eher misstrauisch, zurückhaltend
und manchmal als bedrohlich gesehen. Die Vermeidung von
Bindung zeigt sich dann eher in Verhaltensweisen wie
Verleugnung, Projektionen, Misstrauen, wahnhafter
Erlebnisverarbeitung und Fehlinterpretation.
Auch das Umdeuten von Situationen der Nähe als
Bedrohung gehört dazu.
18. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Das unsichere ambivalente konflikthafte
Bindungsmuster
Weist auf die gestörte bzw. problematische Regulation von
Distanz und Nähe hin.
Unsicherheit und Ambivalenz entstehen im Erleben von
Unzuverlässigkeit oder Wechselhaftigkeit der Zuwendung
von wichtigen Bezugspersonen.
Bei Menschen mit Demenz finden sich oft ambivalente
Verhaltensweisen, die eine Bindungssuche auslösen.
So sind u.a. anklammernde, ängstliche und die Hilflosigkeit
betonende Verhaltensweisen, das Suchen und Fordern von
Hilfe, Regression oder wechselnde Stimmungslagen als
stark aktiviertes Bindungsverhalten eines unsicheren
Bindungsmusters zu verstehen.
19. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Bindungssuche und Bindungsvermeidung bei
Menschen mit Demenz
Auslösen von
Bindungssuche
Auslösen von
Bindungsvermeidung
Situationen Einsamkeit, Einschränkung der
Autonomie und der
Bewegungsfreiheit, Trennungen (real
oder befürchtet) Überforderung,
Erschöpfung, Krankheit, Schmerzen,
ständiger Wechsel der
Bezugspersonen oder der
Umgebung
Abbrechen von Blickkontakt
Zulassen müssen von unerwünschter
Nähe und Grenzüberschreitungen bei
der (Intim)pflege oder unerwünschter
oder unangenehmer Berührungen,
Fehlinterpretation von Situationen, bis
zu wahnhaftem Erleben,
Wiederholung traumatischer
Erfahrungen real oder durch
Taumasymbole aus der Vergangenheit
Verhalten Rufen, Weinen, Zeigen von Angst
und Panik, ständiges wiederholen
von Fragen (häufig Zeitfragen),
Schreien, weg(hin)laufen,
Elternsuche, Überzeugung verlassen
worden zu sein, nachlaufen,
sammeln und horten aber auch
helfen wollen, helfen dürfen,
Dankbarkeit und Vertrauen zeigen
und dankbar annehmen
Misstrauen , (Wieder)herstellen der
Kontrolle durch Rückzug,
Verweigerung oder Abwehr,
Ablehnung von Medikamenten,
Zurückweisung von Personen, Abwehr
bei der Pflege, verbale und/oder
körperliche Aggressivität, Umdeuten
von Situationen der Nähe als
Bedrohung
20. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Gefährdung der Bindungssicherheit
durch Bedrohung der Autonomie bei
Pflegebedürftigkeit
Vertrauen in den eigenen Körper geht
zunehmend verloren
Vertrauen in die Personen, von denen
Abhängigkeit besteht wir durch häufigen
Wechsel unsicher
Vertrauen in die eigenen seelischen
Kräfte zur Krisenbewältigung wird gefährdet
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Besondere und häufige Gefährdungen der
Bindungssicherheit im Krankenhaus
Identitätsgefährdungen (Person wird zum Fall,
Anonymität der Umgebung, Entfremdungen)
Unterbrochene Kontinuität (Tagesstruktur, Rituale)
Räumlicher, zeitlicher und situativer Orientierungsverlust
Mein Körper lässt mich im Stich
Biographisches Problem mit Hilflosigkeit und
Abhängigkeit umzugehen oder Hilfe annehmen zu
können. So kann Hilfe annehmen zu müssen bedeuten
schwach zu sein
Beziehungsabbrüche erleben müssen
Hilflosigkeit oft aus Retraumatisierung entstanden
Kompetenzverlust nach Krankenhausaufenthalt ca. 30%
22. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Ansätze zur Förderung der Bindungssicherheit
von Menschen mit Demenz
Bezugs- und Pflegepersonen
Konstanz der Bezugspersonen (Bezugspflege)
Feinfühligkeit und absolute Zuverlässigkeit bei
Zusagen
Reflektion der eigenen Bindungsgeschichte und
Bindungsbedürfnisse
Klärung von Rollen und Aufgaben im Team
Kooperation mit Angehörigen
Fallberatung und Unterstützung durch die Leitung.
23. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Ansätze zur Förderung der Bindungssicherheit
von Menschen mit Demenz
Kommunikation mit Menschen mit Demenz
Stützen der Identität aus der Biographie
Anerkennen und Bestätigen der Gefühle
unbedingtes Gespür für das Gleichgewicht zwischen
Nähe und Distanz – das bedeutet eindeutiges
Respektieren von Grenzen, Schutz vor
Grenzüberschreitungen und emotionalem Stress
Förderung von konkretem Verhalten als emotional
bedeutsame Aktivierung
Nutzen aller Zugänge über die Sinnesorgane und den
Lagesinn zur Hilfe der Identitätsstützung, Anregung
und Bewältigung der Einsamkeit
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Ansätze zur Förderung der Bindungssicherheit
von Menschen mit Demenz
Gestaltung der Umgebung
Normalität, Übersichtlichkeit, Sicherheit und
Vertrautheit der Umgebung
Hilfen und Signale zur Orientierung
Erkennbarkeit der Individualität der Person an der
biographisch orientierten Elementen im Zimmer
Auch bei schwerer Kranken ist ein Wechsel der
Örtlichkeit zwischen Krankenzimmer und einem
Aufenthaltsraum oft möglich
Schutz vor Reizüberflutung
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Ansätze zur Förderung der Bindungssicherheit
von Menschen mit Demenz
Strukturen und Abläufe
Hohe Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit der
Zeitangaben und der Zeitabläufe
Strukturen wirken dadurch, dass Sie passieren
Orientierung an der Langsamkeit (Geduld)
Prinzip der Handlungskette: ein Element nach dem
anderen
Prinzip der Einzeitigkeit: nur eine Information zur
selben Zeit
Kürzer und regelmäßig ist besser als selten und
länger
26. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
Menschen mit Demenz unter der
Bindungsperspektive zu begegnen, stellt
also kein neues Konzept dar.
Es wird die Sichtweise um die Perspektive erweitert,
dass auch im höheren Lebensalter die Wurzeln
biographischer Bindungserfahrungen lebendig
bleiben
Diese Sichtweise hilft, Menschen mit Demenz so
anzunehmen, wie sie geworden sind
und hilft, die Spielregeln der Krankheit zu verstehen
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Magritte (1936/1937)
Der Geist der Geometrie
28. Dr. med. Dipl. Psych. Wilhelm Stuhlmann © 2014 - www.geronet.de
- lichen
Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Literaturangaben und weitere Informationen zum Vortrag
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