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Somalia war schon immer eines der
ärmsten Länder der Welt, dessen Bevölkerung
ausschließlich von einer kargen Landwirtschaft
lebte, das heißt von einer einigermaßen intak-
ten Umwelt.
Seit den frühen 90er Jahren jedoch bestätigen
Berichte der Vereinten Nationen (United Nati-
ons Environmental Program, UNEP) und von
Greenpeace, dass Somalia seit Jahren in großem
Maßstab von europäischen Unternehmen als
Müllabladeplatz genutzt wird, auf dem sie
beträchtliche Mengen ihrer giftigen Abfälle los-
werden können.
Seit 1990 berichten die westlichen Medien
über den anscheinend endlosen Machtkampf
zwischen somalischen Stämmen und Milizen.
MehralsdiesjedochinteressiertdenWestenseit
einiger Zeit ein neues Phänomen: die Piraterie
vor Somalia. Piraten sind eine Gefahr für den
internationalen Seeverkehr zwischen dem Per-
sischen Golf und dem Indischen Ozean. Die
Reaktion erfolgte blitzschnell: Die EU („Ope-
rationAtlanta“),dieNatoundvieleandereLän-
der (z.B. Russland, China, Korea, Japan, der
Iran) schickten Kriegsschiffe. Nachdem die
PirateriedortauchnacheinemJahrkaumnach-
gelassen hat, könnte man zu dem Ergebnis
kommen, dass diese multinationale Mission
relativ erfolglos war. Und seltsam: Angeblich
gehörte zu den Aufgaben der Kriegsschiffflotte
auch die Abschreckung illegaler Fischfangakti-
vitätenindensomalischenGewässern;aberbis-
her wurde in diesem Zusammenhang kein ein-
zigesVorkommnis gemeldet.
Zudem stellen Beobachter fest, dass die allei-
nige Bekämpfung der Piraterie, ohne Berück-
sichtigung aller anderen wesentlichen Dimen-
sionen des Konflikts, keine nachhaltige Lösung
bringen kann. Vielmehr wird der Konflikt von
strategischen Interessen geradezu am Leben
erhalten.
Der Giftmüll, der in den OECD-Ländern
anfällt (Schwermetalle, Verbrennungsrück-
stände, Krankenhaus- und vor allem radioakti-
ver Abfall), ist offenbar ein unvermeidbares
ProduktderindustriellenEntwicklung.Imglo-
balen Maßstab produzieren allein die 31
OECD-Länder mehr als 90 Prozent des welt-
weiten Sondermülls. Aber umweltbewusst, wie
sie sind, möchten diese Länder die giftigen
AbfällenichtinihrerUmgebungentsorgtsehen
(siehe den Slogan NIMBY, „Not in my back-
yard“). Diese Entsorgung ist heute auch nicht
mehr so leicht dort, und außerdem ist sie teuer
und schmälert den Gewinn. Der Ausweg ist
gegeben:ManschafftdenMüllineinmöglichst
weitentferntes,möglichstinstabilesLand.
Es gibt seit 1972 mehrere internationale Ab-
kommen gegen dieses Verfahren, zuletzt den
„BaselBan“von1995,aberkeinVertragkonnte
das Abkippen von Giftmüll in Entwicklungs-
ländern bisher eindämmen. Man kann sagen,
dass in allen Fällen der politische Wille der
mächtigen Verursacher-Länder, diese Verbote
auchdurchzusetzen,gefehlthat.Außerdemtra-
gen auch die Liberalisierung des Welthandels,
niedrige Transportkosten, ungleichgewichtige
Globalisierung, fiktive Reeder in Steueroasen
und ein unglaublicher Hunger nach dem
schnellen Gewinn dazu bei, dass diese Prakti-
kenweitergehen.
Nach dem Zusammenbruch der somali-
schen Zentralregierung im Januar 1991 ver-
stärkte sich der Giftmülltransport nach Soma-
lia. Bald wurde er aber weltöffentlich an den
Pranger gestellt: Der damalige UNEP-Chef Dr.
Mostafa Tolba bestätigte im September 1992,
dass europäische Firmen das politische Chaos
und den Bürgerkrieg in Somalia dazu ausnütz-
ten, ihre Giftmüllfässer vor der Küste ins Meer
Müll-Exporte
Die Somalia-Connection
Ende 2004 lagen plötzlich große rostende Fässer mit radioaktivem Abfall am Strand der somalischen
Küste: Der Tsunami hatte sie vom küstennahen Meeresboden ans Tageslicht befördert. Seit Jahren lassen
hier die Industrieländer ihren Atom-Müll ins Meer werfen, nicht selten mit Wissen ihrer Regierungen
und oft mithilfe der italienischen Mafia.
Von Bashir Mohamed Hussein
Themen
54
zu werfen. Unmittelbar nach dieser Bekannt-
gabe machte Greenpeace in Italien die Namen
einigerdieserFirmenöffentlich.Am9.Septem-
ber 1992 enthüllte Roberto Ferigno (Green-
peace Italien) in einer zusammen mit der
Schweizer Greenpeace-Organisation herausge-
gebenen Erklärung, dass die Firmen Achair
Partners (Schweiz) und der Müllhändler Pro-
gresso (Italien) mit einem selbsternannten
somalischen Gesundheitsminister eine (ungül-
tige) Absprache über die Lieferung von jährlich
500000 Tonnen Giftmüll nach Somalia bis
zumJahr2011getroffenhatten.Erstinjüngster
Zeit, im Juli 2009, sagte der UN-Sonderbeauf-
tragte für Somalia laut AFP: „Ich bin überzeugt,
dass es dort Restmüll in festem Zustand gibt
und vermutlich auch radioaktiven Abfall. Das
ist eine Katastrophe für die somalische Küste
und das somalischeVolkund seineUmwelt.“
Es wurde außerdem sowohl durch die italieni-
schen Medien, als auch durch parlamentarische
Untersuchungsausschüsse bestätigt, dass die
italienischen Truppen bei den UN-Operatio-
nen „Restore Hope“ und UNISOM zwischen
1992 und 1995 an vielen Orten spezielle
Schutzanzüge trugen. Trotzdem, schrieb der
Corriere della Sera, wurden einige Soldaten
kontaminiert. Auch das Wochenmagazin Fa-
miglia Cristiana zitierte aus einer gründlichen
UNEP-Untersuchung an der Küste Somalias
(dem Untersuchungsbericht, der dem Magazin
vorlag) mehrere Fälle illegaler Giftmüll-Anlie-
ferungen.
1997 setzte das italienische Parlament zur
Untersuchung unerlaubter Giftmülldeponien
einen Sonderausschuss ein, die Commissione
parlamentare d’inchiesta sul ciclo di rifiuti. Die
Kommission befasste sich auch mit der Ermor-
dung zweier italienischer Journalisten in Soma-
lia, Ilaria Alpi und Miran Hrovatín, die beide
bei ihren Recherchen über illegale Müll- und
Waffenexporte im März 1994 in Mogadischu
ermordetwordenwaren.Dankihrerinternatio-
nalen Verbindungen entdeckte die Kommis-
sion natürlich auch die systematische Verschif-
fungvonSondermüllinBürgerkriegsländerwie
Somalia. Die darin verwickelten Unternehmen
und Personen arbeiteten dabei Hand in Hand
mit der Mafia und einigen „irregeleiteten“
öffentlichen Einrichtungen. Im Oktober 2000
stellte die Kommission ausdrücklich fest, dass
Somalia einer der bevorzugten Abladeplätze für
Giftmüll aus Italien war, ohne dass ein Ende
dieser Aktivität abzusehen wäre. In Wahrheit
stammte der Giftmüll gar nicht vollständig aus
Italien, sondern auch aus anderen Ländern in
Europa,darunterFrankreichundDeutschland,
und aus den USA. Tatsächlich und ganz legal
können italienische Unternehmen Sondermüll
zur Weiterverarbeitung oder Deponierung im-
portieren. Aus mehreren Untersuchungen wis-
sen wir jedoch, dass dieser Müll durch krimi-
nelle italienische Organisationen und ihre Part-
ner nach Somalia und in andere Länder Afrikas
weiterexportiert wird. Man schätzt, dass mehr
als ein Drittel dieser Sondermüll-Wirtschaft in
derHandderÖko-Mafialiegt.
Schon im November 1998 hatte Famiglia
Cristiana berichtet, dass im Herbst jenes Jahres
ein Team von Journalisten (vom Magazin
selbst, von La Repubblica, TV Svizzera, Radio
Popolare, Agenzia Italia sowie freiberufliche
Reporter) auf einer Reise nach Kenia und
Somalia der Frage nachging, ob es einen Zu-
sammenhang gab zwischen der Ermordung der
beiden Journalisten 1994 und den illegalen
Müll-Exporten nach Somalia. Auch der Ab-
schlussbericht bestätigte, dass schon seit lan-
gem illegal Gift- und Sondermüll an Somalias
Küsten verklappt wurde, und publizierte eine
KartederverschiedenenDeponien.
Unmittelbar nach dem Tsunami an
Weihnachten 2004 spülten die Wellen vor der
somalischen Küste mehrere rostende Behälter
und leckgeschlagene Fässer voller giftiger Stoffe
andenStrand,diehöchstwahrscheinlichvorher
in Küstennähe ins Wasser geworfen worden
waren. Der giftige Inhalt kontaminierte die
Quellen und sogar die Luft, wobei die Effekte
Themen
55
italosomali.org
Giftmülltonne, vom Tsunami ans Licht gebracht
hiervon noch zehn Kilometer landeinwärts zu
spüren waren. Wieder einmal gaben die alar-
miertenVereintenNationeneineWarnungaus.
DieVerdacht auf Beteiligung von Regierungs-
stellen wurde auch von drei weiteren italieni-
schen Zeugengeäußert.
Marcello Giannoni, ein Geschäftsmann, der
selbst mit Giftmüll-Lieferungen nach Somalia
zu tun hatte, sagte im November 1998 vor
einem Richter aus: „Ende der 80er Jahre bis in
die frühen 90er Jahre hinein, gab es einen sehr
mächtigen italienischen Politiker, der mit sol-
chen Müll-Exporten nach Somalia zu tun hatte
(...) Ich darf seinen Namen nicht verraten, aber
es war ein sehr mächtiger Politiker.“ Freimütig
und detailliert klärte er die Richter auch darü-
ber auf, wie „hochgiftiger Müll und radioakti-
ver Müll aus den USA mit italienischen Abfäl-
len vermischt und das Ganze dann nach Soma-
lia geschickt wurde“.
Staatsanwalt Dr. Luciano Tarditi äußerte sich
folgendermaßen: „In den 80er und den 90er
Jahren haben große europäische Industrieun-
ternehmen, mit starker Beteiligung US-ameri-
kanischer Unternehmen, einen umfangreichen
ExportvonGift-undSondermüllnachSomalia
organisiert.“ Er war außerdem überzeugt
davon, dass dies nicht möglich gewesen wäre
„ohnediepolitischeRückendeckung(copertura
politica) und ohne Protektion durch die
Geheimdienste, da der in Frage stehende Ex-
portvonstrategischerBedeutung war“.
Und 2006 teilte Carlo Giovanardi, der italie-
nische Minister für Parlamentsangelegenhei-
ten, dem parlamentarischen Sonderausschuss
mit: „Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass
europäische und nichteuropäische Regierun-
gen und auch die Mafia in die genannten [Gift-
müll-] Handelsgeschäfte und andere Personen
verwickelt waren; dies trifft auch auf den
bekannten Broker Giorgio Comerio zu, der in
eine ganze Reihe von Affären verwickelt ist, die
mitSomaliazutunhaben.“
Erklärungen dieser Art belegen deutlich, dass
die Ablagerung von Giftmüll nicht einfach eine
private oder nur öko-mafiose Verfehlung ist,
sondern zu einem beträchtlichen Teil offenbar
vonstaatlicherSeitegefördertwird.
Nach 20 Jahren Bürgerkrieg funk-
tionieren die öffentlichen Einrichtungen in So-
malia nicht mehr. Staatliche Krankenhäuser gibt
es praktisch keine mehr. In Süd-Somalia, Schau-
platz der anhaltenden Gewalt, aber anscheinend
auch Anlaufstelle der meisten Giftmüll-Schiffe
aus Europa, gibt es nur noch wenige private
oder von internationalen Hilfsorganisationen
betriebene Kliniken. Es ist also unmöglich, die
Gesundheitsprobleme der Bevölkerung syste-
matisch zu erfassen, aber über einige extrem
beunruhigende Erkrankungen, sowohl bei Tie-
ren, als auch bei Menschen, wurde von in- und
ausländischen Medien berichtet.
Themen
56
biokulule.com
Nach Zeugenaussagen waren europäische Regierungen und die Mafia an den Giftmüll-Geschäften beteiligt.
In dem erwähnten UNEP-Bericht nach dem
Tsunami wird festgestellt, es gebe „in Somalia
Beweise dafür, dass Giftmüll auf Deponien das
Grundwasser kontaminiert hat“. Dort war
auch die Rede von bis dahin ungewöhnlichen
Gesundheitsproblemen: „akute Atemwegs-
erkrankungen, schwerer trockener Husten,
Mund- und Magenblutungen, neuartige che-
mische Hautreizungen“. Lokale Ärzte, Somalis
ebenso wie Ausländer, berichten von einer
erhöhten Zahl von Krebserkrankungen, Fehl-
geburten sowie – speziell in der Küstenstadt
Marka, der Hauptstadt der Region Shabeellaha
Hoose (südlich von Mogadischu) – Miss- und
Fehlbildungen bei Neugeborenen. Eine unge-
wöhnlich hohe Zahl von Missbildungen mel-
dete auch die Radiostation HornAfrica in
Mogadischu aufgrund von Berichten mehrerer
Ärzte aus der dortigen SOS-Nothilfeklinik. Dr.
Bashir Sheikh Omar, der Leiter der Entbin-
dungsstation der Klinik, führt diese Entwick-
lung auf die lokalen Giftmüll-Deponien zu-
rück. Die erwähnte Zeitschrift Famiglia Cris-
tiana zitiert die Ärztin Dr. Pirko Honenen
(UNICEF Somalia): „Eine neuartige Krankheit
tötet Menschen in Bardale (Süd-Somalia) in
hoherZahl“;undsiefügthinzu,eshabedort„in
zwei Monaten schon 120 Opfer gegeben (...)
Die Symptome sind hohes Fieber und Blutun-
gen aus demMund.“
Besonders alarmierend war der Bericht einer
Gruppe, die nicht nur Reporter umfasste, son-
dern auch ein Mitglied der Grünen im italieni-
schen Parlament, den Abgeordneten Mauro
Bulgarelli, nach einem Besuch bei einigen ver-
dächtigen Deponien. Sie legte eine Dokumen-
tationdervomTsunamileckgeschlagenenGift-
fässer und der davon ausgehenden Gesund-
heitsgefahren vor, insbesondere in der Gegend
von Warsheik, nahe Mogadischu. Dort hatten
die Reporter Dr. Gabriele Lombardo inter-
viewt. Er erklärte, „seine Kollegen und er, die
[nach dem Tsunami] die Dörfer in der Region
besuchten, hätten eine ganze Reihe rätselhafter
Krankheiten festgestellt, die mit relativ unge-
wöhnlicher Häufigkeit auftraten: Mikro- und
Makrozephalien (abnorm kleine oder große
Schädel)ineinerHäufigkeit,diekeinmedizini-
schesLehrbuchverzeichnet“.
Diese unsystematische Auswahl von Berich-
ten kann natürlich nur schweigen von den vie-
len Haushalten in Somalia, in denen die meis-
tenMenschenjahrelangkeinenArztsehen.
AbersiebelegendenUmfangunddas
GefahrenpotenzialderillegalenPraktiken.
Mächtige Nationen, die vom Chaos des Bür-
gerkriegs profitieren, missbrauchen bedenken-
los einen zusammengebrochenen, also schutz-
losen Staat als Giftmüllkippe. Reiche Länder
des Westens werfen ihre gesundheitsgefährden-
den Abfälle den Bewohnern vor die Haustür:
eine fortwährende, oft staatlich geförderte Ver-
letzungvonMenschenrechten.
Es liegt auf der Hand, dass Entsorgungen sol-
cher Art den kriegerischen Konflikt in dem
„vergessenenLand“nurverlängernkönnen.
ÜbersetzungausdemEnglischen:PhilippReuter
Themen
57
www.navy.mil
17. November 2008: Piraten halten die Mannschaft des chinesischen Fischtrawlers Tianyu-8 gefangen.
Claus Offe im Gespräch mit Gunter Hofmann (Die Zeit) und
Wilhelm Heitmeyer
Rette sich, wer kann!
Der Politikwissenschaftler Claus Offe, Professor an der Hertie School of Governance, kann in der
Finanzwelt keine Chancen für eine durchgreifende Regulierung erkennen. Er befürchtet vielmehr eine
„schleichende undramatische Verrottung“ des politischen Systems, das er auf dem Weg in „post-demo-
kratische Verhältnisse“ sieht: „Die Institutionen funktionieren irgendwie, aber das Interesse des
Publikums nimmt weiter ab“ (Wilhelm Heitmeyer).
siert, sie betrafen einzelne Länder, und sie be-
trafen bestimmte Sektoren der Länder, bei-
spielsweise Stahl- oder Automobilindustrie. Auf
die Industriestaaten im Westen schlugen zwei
dramatische Ölpreissteigerungen durch, die,
wohlgemerkt, durch politische Entscheidungen
der OPEC-Regierungen in Reaktion auf mili-
tärische Konflikte (Jom Kippur, Irak) ausgelöst
worden waren. Das ist das eine. Wir haben da-
mals gedacht (und ich denke das auch heute),
der Nationalstaat sei strukturell parteilich und
verteidige die Interessen der Kapitalverwertung,
von der ja alles abhängt: Akkumulation und
Wachstum als soziale Friedensformel. Im Ei-
geninteresse des Staates liege es, die Steuerbasis
sicherzustellen. Politisch war aus unserer Sicht
der Staat unbedeutend, die Wirtschaft domi-
nierte. Das machte es zunehmend schwieriger,
reformpolitische Versprechungen einzulösen,
wie es zumindest bis Anfang der siebziger Jahre
gelang. Für mich ist das der wichtigste Ein-
schnitt der Nachkriegsgeschichte, diese Zäsur
Herr Offe, wie würden Sie die Qualität der welt-
weiten finanzökonomischen Krise von heute be-
schreiben? Lässt sich die Situation überhaupt mit
den siebziger Jahren vergleichen? Damals zählten
Sie zu den intellektuellen Kritikern des kapitalis-
tischenWirtschaftssystems, die Rede war von einer
Legitimationskrise des Spätkapitalismus.
Aus damaliger Sicht überraschend an der ge-
genwärtigen Finanzmarktkrise ist sicher, auch
wenn es heute eine Platitüde ist, dass Natio-
nalstaaten nicht mehr haftbar sind für Krisen-
bewältigung. Grenzen sind in diesem weltwei-
ten Spekulationsgeschäft weggeschwemmt
worden, was bedeutet, dass einzelne Staaten
nicht einfach Stopschilder aufbauen und sich
„national« schützen können. Richtig bei der
Krisenbewältigung ist daher sicher der Versuch,
auf europäischer oder atlantischer Ebene die
Politik, vor allem neue Kontrollinstrumente,
zu koordinieren – wie mühsam das auch sein
mag. Diese Krise ist ihrer Natur nach ein Glo-
balisierungsphänomen, sie ist nachstaatlich.
Wenn man von unmittelbaren Ursachen für
den Kollaps der Finanzmärkte spricht, ist
gleichwohl ein Ursprungsort zu benennen:
nämlich der US-amerikanische Häusermarkt,
die Subprime-Kredite, die da billig vergeben
worden sind und die dann plötzlich für viele
unbezahlbar wurden. Diese von der Bush-Ad-
ministration und ihrer Zentralbank ausdrück-
lich ermutigte Blasenbildung hat Domi-
noeffekte in alle Richtungen ausgelöst, wie wir
es seit der Weltwirtschaftskrise in den zwanziger
Jahren nicht gesehen haben.
War die Kritik am Spätkapitalismus in den
siebziger Jahren denn politisch motivierte all-
gemeine Systemkritik, oder handelte es sich um
eine reine Wirtschafts-, manche sagen auch Öl-
preiskrise?
Die Krisen der siebziger Jahre kann man auf
zweierlei Weise beschreiben. Sie waren lokali-
Interview
58
Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer
Interview
noch, einen gewissen nationalen Keynesianismus
hat der sozialdemokratische Kanzler doch auch
durchzusetzen versucht, oder?
Das ist richtig. Währungspolitisch konnte
man noch handeln, Schmidt und Giscard er-
fanden die G6, den Weltwirtschaftsgipfel zur
besseren Koordinierung, und die internationale
Konkurrenz auf den Märkten war bei weitem
noch nicht so intensiv wie jetzt. Reste vom
„Rheinischen Kapitalismus«, der „Deutschland
AG« mit funktionierenden Verbänden, der Zu-
sammenarbeit in bestimmten Sektoren, exis-
tierten noch, und wichtige wirtschafts-, sozial-
und geldpolitische Fragen wurden akkordiert.
Davon ist heute kaum noch etwas zu sehen.
Die Beherrschbarkeit hat abgenommen, sagen
Sie. Lässt sich das damit erklären, dass es seit
längerem Kontrollgewinne des Kapitals gegeben
hat und Kontrollverluste der Politik und des
Staates?
Ja, die Staaten im gesamten OECD-Bereich
werden richtig als competition states beschrie-
ben; oberstes Gütekriterium staatlicher Politik
ist die wachstumsorientierte Wettbewerbsfä-
higkeit. Es sind Staaten, die keine Grenzen ha-
ben, mit denen sie sich abschirmen können ge-
genüber ökonomischen Wettbewerbern, erst
recht nicht auf Kapitalmärkten, aber auch auf
Gütermärkten. Erinnern Sie sich: Ein weiteres
Merkmal der Krisen der siebziger Jahre waren
die relativ gut artikulierten Konflikte, die sie
begleiteten. Die Wahlkämpfe handelten von
ernsthaften Fragen, Weltwirtschaftskrise, RAF,
Kernenergie, Nato-Doppelbeschluss, zu wenig
von 1973/74. Vor dem Rücktritt von Willy
Brandt dominierten durchaus optimistische,
aktive reformpolitische Ambitionen. Danach
war es damit glatt zu Ende.
Und ab dann geriet die Politik in eine Krise,
der Staat konnte nicht mehr intervenieren und
gestalten?
Und als Reflex darauf wurde die Zuversicht
in die Leistungsfähigkeit staatlicher Politik
schwer beschädigt. Der öffentliche Korridor
wurde enger, der Staat zog sich zunehmend
zurück hinter Sparzwänge. In der zweiten
Hälfte der siebziger Jahre setzte dann das große
„Umdenken«, die marktliberale Hegemonie
ein. Es wurde nur noch für „weniger Staat«
und einen Rückzug der Politik plädiert. Den-
ken Sie beispielsweise an das Lambsdorff-Pa-
pier, mit dem Helmut Schmidts Sturz vorbe-
reitet worden ist. Das dauerte bei uns an bis
zur Inauguration von Helmut Kohl Ende
1982. In Großbritannien ging Margaret at-
cher mit ihrer neoliberalen Politik noch weiter,
dort hieß es noch radikaler, wir alle hätten zu
hohe Ansprüche, lebten über unsere Verhält-
nisse, erwarteten zu viel vom Staat. Jetzt sei
nichts mehr zu verschenken, nur noch abzu-
bauen. Dieser neoliberale Einbruch in Groß-
britannien, auch in den USA mit Ronald Rea-
gan und zum Teil auch in Deutschland, ging
schon sehr weit.
In den Schmidt-Jahren hieß es aber doch im-
merhin, das deutsche korporative Modell – Ge-
werkschaften, Industrie, Politik – funktioniere
59
Gunter HofmannClaus Offe
Interview
oder zu viel Staat; die Verbände positionierten
sich, die politischen Parteien ließen sich un-
terscheiden, und krisenhafte Entwicklungen
wurden aufgegriffen von politischen Akteuren,
die vergleichsweise klar sprachen, Gewinner
und Verlierer benannten und programmatisch
agierten. „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf
Prozent Arbeitslosigkeit!“– eine Botschaft aus
einer anderen Zeit. Wenn man sich heute Auf-
tritte von Helmut Schmidt aus der damaligen
Zeit ansieht – es ist nicht zu glauben, was für
eine artikulierte, entschlossene, kämpferische
Führungsfigur er noch war. So hat die Politik
wenigstens rhetorisch noch eine Weile an ihrem
Gestaltungsanspruch festgehalten! Eine solche
Gleichzeitigkeit von Krise und Konflikt fehlt
heute vollkommen.
Liegt das auch daran, dass man nicht von Krise
spricht, sondern jetzt von Krisen, also im Plural,
sprechen muss und die Politik mit diesem Szenario
von Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Fiskalkrise,
Klimakrise und möglicherweise Gesellschaftskrise
gar nicht mehr umgehen kann? Dass sich das
auch niemand mehr zutraut? Nur eine aktuelle
Meldung vom heutigen Tage: Die Arbeitsagen-
turen rüsten sich für Massenentlassungen.
Ja, die Politik hat den Überblick verloren.
Seit „9/15“, dem Crash der Lehman Brothers,
habe ich überlegt, dass vielleicht eine Schreck-
sekunde von sechs Monaten eintritt nach dem
Platzen der Finanzmarkt-Blase, dass die Reak-
tion der Öffentlichkeit und der politischen
Akteure sich nur verzögert. Inzwischen denke
ich, das war falsch, sondern was Platz greift,
ist eine fatalistische Dumpfheit und Desori-
entierung. Das Motto heißt eher: Rette sich,
wer kann; man kann sowieso nichts machen
gegen die Naturgewalten der Weltmärkte; das
nächste Jahrzehnt wird eines der weiteren De-
montage des unter gewaltige Sparzwänge ge-
ratenden Sozialstaats.
Ist das eine individuelle Immunisierung?
Die kann sich einTeil der Bevölkerung leisten.
Heute reden die wirtschaftlichen und politischen
Eliten von Krise. Damals war es so, dass wir da-
von geredet haben, aber die Eliten fragten nur:
Von was sprecht ihr eigentlich? Das geht doch
vorüber! Die Situationsdeutung selbst war in
den siebziger Jahren ein Streitpunkt. Heute sind
wir uns alle einig. Allen in den Wirtschaftswis-
senschaften, in den politischen Parteien, in der
Regierung, in internationalen Organisationen
dient das Wort Krise als Schlüsselwort, um die
Lage zu beschreiben. Wie gebannt warten alle
Seiten darauf, dass sie einmal von selbst aufhört;
und dass der Brand nicht nochmals aufflackert,
weil es dann kein Löschwasser mehr gibt.
Hängt das auch damit zusammen, dass sich seit
den siebziger Jahren der Staat so sehr zurückge-
zogen hat und sich im großen und ganzen all-
mählich eine Denkschule, die eine reduzierte
Rolle der Politik forderte, durchgesetzt hat?
Um noch einmal zu vergleichen: Was die Dif-
ferenzen in den siebziger Jahren über die Si-
tuationsdeutung angeht – ich erinnere mich,
1982 erfolgte der Wechsel von Schmidt zu
Kohl, und der versprach die „geistig-moralische
Wende“. Damit stellte er einer falschen Rich-
tung der Politik, wie er glaubte, seine richtige
Richtung gegenüber. Wenn das heute jemand
sagen würde, man wüsste gar nicht, wovon er
redet. Eine weitere Differenz zu damals möchte
ich kurz erwähnen: Heute gelingt es den Re-
gierungen, besonders ausgeprägt in Deutsch-
land, die Krise über die Zeit zu verteilen, sozu-
sagen dünn zu streichen. Sie soll nicht überall
zur gleichen Zeit auftreten, sondern zeitversetzt
ankommen, insbesondere auch wegen des Bun-
destagswahlkampfes.
Gehören dazu denn auch politische Manipula-
tionen wie die ständige Veränderung der Ar-
beitslosenstatistik? Rechnet man die dramatische
Lage klein?
Beschönigen kann man mit vielen Tricks, in-
dem man zum Beispiel Arbeitslose in befristete
Arbeitsverhältnisse übernimmt. Auch statisti-
sche Definitionen sind manipulierbar: Wie viele
Stunden muss man mindestens arbeiten, um
nicht mehr arbeitslos zu sein? Die Antwort ist:
drei pro Woche. Und diese ganzen Minijobs,
Midijobs, Geringfügigkeitsregelungen, das ist
ja ein dichtes Gestrüpp von Vertuschungsma-
növern. Das ist auch ganz erfolgreich, da es
nicht alle betrifft, sondern bestimmte Sektoren
zu verschiedenen Zeitpunkten. Das ist eine
Diffusionsstrategie, ebenso wie das befristete
Kurzarbeitergeld und die Abwrackprämie. Aber
auch unabhängig davon sehe ich nicht, dass es
einen großen Dissens über Ursachen, Folgen,
verfügbare Abhilfen und Präventionen gibt.
Was bedeutet das aber dann für die Rolle des
Staates? Wenn alle sich einig sind, kehrt dann
möglicherweise der starke Staat zurück?
Das wäre sicher angesagt, aber in Deutschland
und in der EU sehe ich es nicht.
60
Paul Krugman, der amerikanische Ökonom und
Nobelpreisträger, sagt das für die USA voraus:
Big government komme wieder. Das wäre dann
der bisher einzige Erfolg, denn die Kontroll-
instrumente der Politik haben auf dem Finanz-
sektor bisher nicht wirklich gegriffen.
Wegen seiner Reform des Gesundheitssystems
steht Obama derzeit mit dem Rücken zur
Wand. Warten wir also ab. Den Clintons ging
es 1995 genauso. Der Medical Industrial Com-
plex ist überall mächtig und hält politische Veto-
Positionen besetzt. Natürlich kann man von ei-
nem „starken Staat“ dann schon sprechen, wenn
er sich finanzpolitisch derart gewaltig engagiert,
wie in den USA und zum Teil in Europa ge-
schehen. Aber das heißt auch, dass er sich dabei
über alle Ohren verschuldet und sich damit na-
türlich auf lange Zeit um so mehr schwächt.
Was geschieht denn, wenn die nächste Finanz-
krise da ist?
So ist es. Wenn ich mich für einen Moment
in deren Schuhe stelle, vermute ich eine gewisse
Überraschung, dass es so leicht war, zu ihrer
Rettung alle Schleusen zu öffnen. Aber sie kön-
nen wohl nicht darauf rechnen, dass das ein
nächstes Mal überhaupt noch möglich sein wird.
Ist das nicht umgekehrt gerade der Erpressungs-
fundus, den die in der Hand haben?
So ist es. Wenn ich mich für einen Moment
in deren Schuhe stelle, vermute ich eine gewisse
Überraschung, dass es so leicht war, zu ihrer
Rettung alle Schleusen zu öffnen. Aber sie kön-
nen wohl nicht darauf rechnen, dass das ein
nächstes Mal überhaupt noch möglich sein
wird.
Könnte man denn sagen, dass dieser Sieg der
verselbständigten Finanzmärkte in den letzten
Jahrzehnten weiter ging, als es die Kapitalismus-
kritiker der siebziger Jahre erwartet hatten?
Ja, sicher. Zwei eorien interessieren mich
dazu. Einmal ist von Risikodiffusion die Rede,
ein Prozess, in dem sehr viele sehr schnell po-
tentiell Leidtragende werden, über Grenzen und
Sektoren hinweg. Das bedeutet Risikominderung,
das Risiko wird auf viele Schultern verlegt. Das
andere ist ein Explosionsmodell: Danach ist die
Gefahr größer, je mehr Akteure betroffen sind
und je schneller die Dominokette kippt. Noch
wissen wir nicht, was davon zutrifft.
Läuft die Entwicklung von der Finanz- über
die Wirtschaftskrise in eine Fiskalkrise?
Nach dem Explosionsmodell muss man davon
ausgehen, dass die Krise sich immer weiterfrisst
und dadurch die Handlungsmöglichkeiten, sie
aussichtsreich zu bekämpfen, zunehmend ver-
lorengehen.
Die Frage ist, ob das Auswirkungen für die so-
ziale Integration dieser Gesellschaft hat. Der
Sozialstaat à la Keines wird beerdigt, weil die
Mittel nicht da sind. Was passiert dann, etwa
mit den Hartz-IV-Empfängern – einschließlich
ihrer Angehörigen sind wir bei rund sieben Mil-
lionen – kommen die je wieder raus aus diesem
System? Wenn nicht, was bedeutet das eigentlich
für diese Gesellschaft?
Bisher führt es jedenfalls nicht zu kollektiven
Konflikten, deren Akteure sich an die Politik
adressieren. Die Konflikte werden anderswo
abgearbeitet; sie treten im Gesundheitsbereich
auf, in den Familien, unter Nachbarn, am
Arbeitsplatz kommt es zu Konflikten, die Kri-
minalitätnimmtzu,diesozialeFragekannvon
rechts her aufgerollt werden. Das sind alles
soziale Pathologien, die an der offiziellen Poli-
tik vorbeigehen. Größere Allianzen werden
nicht geschmiedet werden, es gibt keine orga-
nisierte Reaktion auf die Krise. Sorgfältig und
engagiert denkt Christoph Deutschmann
darüber nach. Er benutzt die Kategorie der
Hoffnung. Gemeint ist die Zuversicht, mit der
man Lebenspläne anlegt und dann verfolgt.
Manche haben (zu Recht) das Gefühl, dass sie
mehr Chancen als Risiken haben. Sie sehen
sich als Leute, die davonkommen und sich die
Lage sogar zu Nutze machen können. Deshalb
werden sie jetzt individuell der „Augen-zu-
und-durch“-Methode folgen. In diesem Sinne
macht die Krise vielleicht auch viele fromm,
die Anlass haben zu denken, sie werden schon
davonkommen. Das ist ein Phänomen einer
geradezu irrationalen und zwanghaften
Zuversicht: Es wird bald alles wieder gut, und
die Steuern werden sinken. Und andere sehen
sich sehr viel mehr Risiken als Chancen ausge-
setzt. Sie finden es schwer, positive Lebensper-
spektiven aufzubauen, deshalb ziehen sie sich
zurück in eine ebenfalls individualistische,
apathische, fatalistische, angstvolle und zyni-
sche Einstellung gegenüber sich selbst, der
staatlichen Politik und allen anderen. So wirkt
dieKriseaufbeidenSeitenkonfliktbetäubend.
In unseren Daten findet sich das auch wieder.
Die Leute sagen: Der Gesellschaft geht es
schlecht, aber mir geht es noch ganz gut.
Interview
61
Interview
Ja, das sind die, die davonzukommen mei-
nen.
Zu diesem nichtpolitischen Verhalten könnte
doch auch die Erfahrung beigetragen haben,
dass die Politik ebendiese Steuerungsfähigkeit
schlicht nicht mehr hat, wenn nicht sogar frei-
willig abgetreten hat, sie kann also nicht mehr
helfend und korrigierend zugunsten der Betrof-
fenen intervenieren.
Das ist Teil des Arguments. Man sieht ja, dass
die Politik nichts zuwege bringt. Dass die Na-
turgewalten des Weltmarktes die staatliche Po-
litik als Spielball vor sich her treiben. Weil das
so ist, so ein vorherrschendes Gefühl, sollten
wir gar keine illusorischen Erwartungen in die
Politik investieren.
Auch nicht die Erwartung, Kontrolle zurück-
erobern zu können?
Nein, wer sollte das tun? Wer sollte diese Er-
wartung haben? Es wirkt so evident hilflos, rat-
los, perspektivlos und manipulativ ablenkend,
was uns die Politik anbietet. Hören Sie sich Po-
litiker-Runden im Fernsehen an: Es ist so trost-
los, dass man erst im übertragenen und dann
bald auch im wörtlichen Sinne abschaltet.
Leben wir denn insofern schon in postdemokra-
tischen Verhältnissen?
Diese Analyse von Colon Crouch und ande-
ren finde ich zumindest sehr anregend. Depo-
litisierungseffekte zeigen sich darin, dass es kein
Gegenüber mehr gibt, an das man sich wenden
könnte. Auch nicht an den Herrn Gysi von
den Linken. Die Politik ist nicht mehr die
Adresse; sie ist sozusagen unbekannt verzogen.
Bei vielen Bürgern scheint das Gefühl abhan-
dengekommen zu sein, überhaupt repräsentiert
zu werden und sich irgendwo in einem politi-
schen Lager positionieren zu können. Auch das
ist übrigens anders als in den siebziger Jahren.
Deshalb spürt man kaum einen Hauch poli-
tisch relevanter Konflikte.
Liegt es daran, dass es systemische Krisen sind und
nicht Krisen einer Partei oder einer Regierung?
Systemisch, ja. Keine der politischen Parteien
oder der Kerninstitutionen der repräsentativen
Demokratie genießt die Qualität, dass man
ernsthafte Hoffnungen in sie investieren wollte.
Adenauer, denkt man gelegentlich während der
zahllosen Gedenkanlässe über die Geschichte
der Republik, stand immerhin für bestimmte
Positionen, und er stand gegen andere, er war
lokalisierbar, und man konnte sich in Relation
zu ihm setzen.
Meinen Sie das, wenn Sie davon sprechen, dass
es eine schleichende undramatische Verrottung
des demokratischen Systems gibt?
So ist es. Dabei gibt es so gut wie keine Anti-
demokraten. Aber sehr viele Leute haben die
Nase voll von dieser Art von Als-ob-Politik.
Während im Wahlkampf wichtigste emen
(Afghanistan, Integration von Migranten, Ar-
beitsmarkt- und Sozialpolitik, europäische In-
tegration) geradezu absichtsvoll beschwiegen
werden, geht es endlos um Nebensachen wie
die Dienstwagenbenutzung der Gesundheits-
ministerin und die Dinner-Party im Bundes-
kanzleramt für Herrn Ackermann. Jeder Passant
weiß: Das ist Politik-Ersatz.
Wir haben in unseren Bevölkerungsbefragungen
nach Kernnormen gefragt wie Solidarität, Ge-
rechtigkeit und Fairness. Fast drei Viertel der
Menschen glauben nicht mehr daran, dass es in
dieser Gesellschaft überhaupt noch eine Chance
gibt, solche Werte zu verwirklichen. Das bedeu-
tet natürlich auch etwas für die Demokratie
und für den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Die Politik schafft es nicht, sie hat ihr Ansehen
verloren und ihre Kraft. Schon ästhetisch wirkt
sie irgendwie vernebelt und konturlos. Was sie
eigentlich leisten sollte, nämlich die laufende
überzeugende Annäherung an die Einlösung
der genannten normativen Anforderungen, das
schafft sie ersichtlich nicht. Ich kenne inzwi-
schen ein Dutzend Leute, die zerstörerische Er-
fahrungen mit dem aktuellen Arbeitsmarkt ge-
macht haben und so gut wie sicher sein können,
dass sie ihre Chancen aufgebraucht haben und
nie wieder im „ersten“ Arbeitsmarkt unterkom-
men werden. Aber die Arbeitsverwaltung schi-
kaniert sie, wenn sie eine Viertelstunde zu spät
kommen, weil sie einmal ihr Kind abgeben
mussten; dann kriegen sie eine Woche lang
keine Zahlung. Ich würde das nicht erwähnen,
wenn es ein Einzelfall wäre.
Wir sind hier nicht zur Ehrenrettung der Po-
litik angetreten – und trotzdem ist es ja auch
eine Gefahr, dass Ressentiments losgetreten
werden. Es versagen doch auch andere. Poli-
tische Ökonomie beispielsweise ist verschwun-
den, in der Wissenschaft herrschte eine Mo-
nokultur im ökonomischen Denken, viele
haben versagt.
Gewiss. Die politische und intellektuelle Re-
62
Interview
Aber „Verrottung“, wenn man bei diesem Bild
bleibt, heißt ja auch, dass nichts mehr wächst.
Wenn das zutrifft, was kommt danach? Stehen
wir vor einer Ära der rechtspopulistischen Be-
wegungen?
Ein Vakuum sehe ich, aber Rechtspopulismus?
Italien ist natürlich schrecklich, da schlägt je-
mand Profit aus dieser Verrottung. Aber Ber-
lusconi ist nicht in der Lage, einen „-ismus“ zu
begründen. Er ist ein Clown, ein male chauvi-
nist, und löst damit einen gewissen Appeal bei
Teilen seiner Wählerschaft aus. Und im übrigen
hat die Linke versagt. Ich sehe die populistische
Gefahr, aber die Anhaltspunkte dafür in
Deutschland sind doch recht schwach. Und
wie es sich glücklich fügt: In Frankreich, in
Deutschland, in den Niederlanden, in Däne-
mark, in Österreich streiten sich die populisti-
schen Rechtsparteien untereinander und ad-
dieren sich vielfach zu null oder zu wenig mehr.
In den alten EU-Ländern, Italien und Grie-
chenland vielleicht ausgenommen, gibt es wohl
gewisse Immunisierungseffekte. In Osteuropa
hingegen ist die Entwicklung gefährlich: Un-
garn besonders, Bulgarien, Rumänien, auch in
Polen, überall tauchen nationalistische Bewe-
gungen auf, anti-EU, antiliberal, antiwestlich.
Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Mitte-Links
oder die Linke in Europa im Grunde implo-
diert, obwohl man sagen würde, eine ökonomi-
sche Krise dieser Art, das ist eigentlich ihre
Stunde.
Sie hat Positionen zu früh geräumt, die jetzt
vielleicht reaktivierbar wären. Das gilt für die
deutsche Sozialdemokratie, das gilt für Labour
in Großbritannien, für die französischen So-
zialisten sowieso. Walter Veltroni in Rom hat
aufgegeben. Er zieht sich zurück aus dem poli-
tischen Leben. Ein Lichtblick ist der Zapatero
in Spanien, aber sein Land befindet sich in
einer wirklich miserablen ökonomischen Si-
tuation. Aber sonst?
Was ist denn zu erwarten? Was wäre, wenn die
Politik nach der Bundestagswahl ihre Botschaf-
ten ändert?
Ich glaube aus heutiger Sicht, mitten im Wahl-
kampf, die Bundestagswahl wird ein tiefer Ein-
schnitt. Dann könnte es, je nach Ausgang, ernst
werden; dann hört man vielleicht mit der Tak-
tik auf, die Krise über die Zeit zu verteilen und
so die Flächenbrände zu limitieren.
Kann man dann sagen, dass es doch sehr sinnvoll
63
putation der Wirtschaftswissenschaft ist nun
wirklich ein Opfer der Krise. Wenn wir nicht
den Paul Krugman und wenige seinesgleichen
hätten, dann würden wir vollends verzweifeln.
Das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dass
in den Modellen der Wirtschaftswissenschaftler
das Wort „Krise“ gar nicht vorkommt.
Einige jüngere Wirtschaftswissenschaftler sa-
gen, wir müssten total neu anfangen und sehr
viel stärker institutionell und soziologisch den-
ken. Diese Modellästhetik der letzten Jahre,
die Wirtschaft als Mathematik, das ist heute
alles zutiefst desavouiert – hoffentlich mit krea-
tiven Folgen.
Auf der anderen Seite fehlt es unserer Gesellschaft
möglicherweise an Mobilisierungsexperten?
Soziale Bewegung gibt es eigentlich nicht
mehr. Paul Virilio hat von „rasendem Still-
stand“ gesprochen. Eine Menge bewegt sich
mit ungeheurer Dramatik (die Technologie,
der Klimawandel, die Massenkultur, die Ge-
schlechter- und Generationenbeziehungen),
aber gleichzeitig herrscht Stillstand, verbunden
mit der Unfähigkeit zur Selbstverständigung
darüber, wo wir sind, was auf uns zukommt
und was die Prioritäten sind. Ausnahmen von
dieser Regel sind symptomatischerweise alte
Leute, von Kurt Biedenkopf bis Erhard Eppler,
Heiner Geissler oder Richard von Weizsäcker,
die lebensgeschichtlich längst heraus sind aus
politischen Ämtern und Ambitionen. Kurt Bie-
denkopf zum Beispiel spricht vieles aus, worauf
seine Parteifreunde wohl nur mit ahnungsloser
Irritation reagieren können. Leute wie er kön-
nen es sich sozusagen leisten, die Wahrheit zu
sagen und neue Gedanken vorzutragen. Sie
leisten sich den Luxus einer gewissen Ehrlich-
keit und einer unbefangenen und informierten
Situationsbetrachtung. Alle anderen sind ein-
gesponnen in Abhängigkeiten und Selbsttäu-
schungen. Es gibt also so etwas wie eine ana-
lytische Militanz der Achtzigjährigen; aber ihre
Einsichten gehen leider oft unter im allgemei-
nen Rauschen.
Um noch einmal zurückzukommen auf Ihre
Formel der „schleichenden undramatischen Ver-
rottung“. Ist das Undramatische nicht gerade
das Dramatische?
Ich hätte gedacht, dass die politischen Parteien
in ihrem eigenen Interesse ehrlich die Situation
beschreiben und zur strategischen Orientierung
beitragen. Das ist leider nicht erkennbar.
Interview
64
ist, dass es so etwas gibt wie stabilisierende Apa-
thie?
Ja, aber das ist kein Dauerzustand. Zumal es
einfach auf der Ebene der Sozialintegration nach
unten gehen kann. Wenn nicht allmählich etwas
für die Massenkaufkraft unternommen wird
(oder wie Deutschmann das mit seiner wirklich
gewagten Formel von der „Sozialisierung der
Lohnfonds“ gesagt hat, eine andere Bezeichnung
für Grundeinkommen), wenn das Einkommen
nicht nach anderen, bürgerrechtlichen Kriterien
verteilt wird, dann sehe ich schwarz. Konjunk-
turpolitisch wäre das übrigens eine ziemlich
gute Idee. Aber da müsste die Politik, da müss-
ten wir alle schmerzhaft umdenken.
Welche Chancen sehen Sie denn für eine Repo-
litisierung? Würde dabei so etwas wie eine
Grundsicherung helfen, so dass die Menschen
nicht länger fürchten müssen, bei jeder Gele-
genheit in die Gefahr zu geraten, gekündigt zu
werden?
Die Angst spielt zwar eine große Rolle. Aber
ich sehe kaum Aussichten für eine Repolitisie-
rung, sei es bei den politischen Parteien, den
Gewerkschaften oder den sozialen Bewegun-
gen.
In unseren Analysen sieht man sehr deutlich,
dass diejenigen, die sich bedroht fühlen, zu-
nächst mal durchaus sagen, dass sie beispielsweise
an Demonstrationen teilnehmen würden. Das
Problem ist, dass die Bedrohten aber seit jeher
diejenigen aus den unteren sozialen Schichten
sind, die kaum mobilisierungsfähig sind.
Unter anderem deshalb, weil sie sich nicht als
Dauerarbeitnehmer in „ihrem“ konkreten Be-
trieb treffen. Wenn man zu Hause sitzt und
sich drei bis fünf Stunden die Woche mit Mi-
nijobs beschäftigt, dann trifft man seinesglei-
chen nicht so leicht und hat für irgendwelche
Mitgliedsbeiträge oder auch nur Zeitungen in
der Regel kein Geld.
Kann man von Demokratieentleerung sprechen?
Ja. Das von jedem demokratischen Verfas-
sungsstaat vorauszusetzende Interesse der Bür-
ger an Parteien und ihren Politikvorhaben ist
weithin erlahmt, so stark, wie es noch nie der
Fall war in meiner politisch bewussten Lebens-
zeit, das heißt seit mehr als 50 Jahren. Das ist
wohl nicht nur in Deutschland so. Der Wahl-
kampf 2009 war, wie allseits beklagt wurde,
buchstäblich gegenstandslos – auch, weil viele
der Hauptprobleme außerhalb der Reichweite
nationalstaatlicher Politik liegen. Nehmen Sie
Afghanistan oder die geplante Rettung von
Opel.
Müsste dann nicht der Umkehrschluss heißen,
damit man nicht gar zu pessimistisch die Poli-
tikwelt betrachtet, dass man erheblich offensivere
politische Alternativen im Post-Nationalstaat-
lichen, in Europa, suchen muss?
Das wäre natürlich der Ausweg: Das, was bis-
her auf der nationalstaatlichen Bühne stattfand,
auf die große europäische Bühne zu bringen.
Das hat Jürgen Habermas seit vielen Jahren ge-
radezu verzweifelt versucht und mutig und ent-
schlossen empfohlen.
Und das Karlsruher Gericht ist ihm gerade in
den Arm gefallen.
Ja, das hätte ich nicht erwartet, dass das na-
tionale Parlament vom Gericht in eine so starke
Veto-Position gerückt wird. Ich neige auch
dazu, zu sagen, man muss auf der europäischen
Ebene versuchen, die Politik wieder flottzuma-
chen. Aber ein regulatives Regime für das Ban-
kenwesen, das nun wirklich Zähne hätte,
kommt auch dort nicht zustande. Und dann:
Es gibt kein europäisches Parteiensystem, nicht
mal ein europäisches Parteiengesetz oder ein
Gesetz zur Parteienfinanzierung. Ja, Europa,
das wäre ein Weg aus der Krise. Sehr zuver-
sichtlich bin ich aber, was Europa angeht, leider
nicht.
Interview mit freundlicher Erlaubnis des Suhrkamp
Verlags entnommen aus Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.),
Deutsche Zustände, Folge 8, Berlin 2010, edition suhr-
kamp 2602.

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Müll-Exporte: die somalia-connection

  • 1. Somalia war schon immer eines der ärmsten Länder der Welt, dessen Bevölkerung ausschließlich von einer kargen Landwirtschaft lebte, das heißt von einer einigermaßen intak- ten Umwelt. Seit den frühen 90er Jahren jedoch bestätigen Berichte der Vereinten Nationen (United Nati- ons Environmental Program, UNEP) und von Greenpeace, dass Somalia seit Jahren in großem Maßstab von europäischen Unternehmen als Müllabladeplatz genutzt wird, auf dem sie beträchtliche Mengen ihrer giftigen Abfälle los- werden können. Seit 1990 berichten die westlichen Medien über den anscheinend endlosen Machtkampf zwischen somalischen Stämmen und Milizen. MehralsdiesjedochinteressiertdenWestenseit einiger Zeit ein neues Phänomen: die Piraterie vor Somalia. Piraten sind eine Gefahr für den internationalen Seeverkehr zwischen dem Per- sischen Golf und dem Indischen Ozean. Die Reaktion erfolgte blitzschnell: Die EU („Ope- rationAtlanta“),dieNatoundvieleandereLän- der (z.B. Russland, China, Korea, Japan, der Iran) schickten Kriegsschiffe. Nachdem die PirateriedortauchnacheinemJahrkaumnach- gelassen hat, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass diese multinationale Mission relativ erfolglos war. Und seltsam: Angeblich gehörte zu den Aufgaben der Kriegsschiffflotte auch die Abschreckung illegaler Fischfangakti- vitätenindensomalischenGewässern;aberbis- her wurde in diesem Zusammenhang kein ein- zigesVorkommnis gemeldet. Zudem stellen Beobachter fest, dass die allei- nige Bekämpfung der Piraterie, ohne Berück- sichtigung aller anderen wesentlichen Dimen- sionen des Konflikts, keine nachhaltige Lösung bringen kann. Vielmehr wird der Konflikt von strategischen Interessen geradezu am Leben erhalten. Der Giftmüll, der in den OECD-Ländern anfällt (Schwermetalle, Verbrennungsrück- stände, Krankenhaus- und vor allem radioakti- ver Abfall), ist offenbar ein unvermeidbares ProduktderindustriellenEntwicklung.Imglo- balen Maßstab produzieren allein die 31 OECD-Länder mehr als 90 Prozent des welt- weiten Sondermülls. Aber umweltbewusst, wie sie sind, möchten diese Länder die giftigen AbfällenichtinihrerUmgebungentsorgtsehen (siehe den Slogan NIMBY, „Not in my back- yard“). Diese Entsorgung ist heute auch nicht mehr so leicht dort, und außerdem ist sie teuer und schmälert den Gewinn. Der Ausweg ist gegeben:ManschafftdenMüllineinmöglichst weitentferntes,möglichstinstabilesLand. Es gibt seit 1972 mehrere internationale Ab- kommen gegen dieses Verfahren, zuletzt den „BaselBan“von1995,aberkeinVertragkonnte das Abkippen von Giftmüll in Entwicklungs- ländern bisher eindämmen. Man kann sagen, dass in allen Fällen der politische Wille der mächtigen Verursacher-Länder, diese Verbote auchdurchzusetzen,gefehlthat.Außerdemtra- gen auch die Liberalisierung des Welthandels, niedrige Transportkosten, ungleichgewichtige Globalisierung, fiktive Reeder in Steueroasen und ein unglaublicher Hunger nach dem schnellen Gewinn dazu bei, dass diese Prakti- kenweitergehen. Nach dem Zusammenbruch der somali- schen Zentralregierung im Januar 1991 ver- stärkte sich der Giftmülltransport nach Soma- lia. Bald wurde er aber weltöffentlich an den Pranger gestellt: Der damalige UNEP-Chef Dr. Mostafa Tolba bestätigte im September 1992, dass europäische Firmen das politische Chaos und den Bürgerkrieg in Somalia dazu ausnütz- ten, ihre Giftmüllfässer vor der Küste ins Meer Müll-Exporte Die Somalia-Connection Ende 2004 lagen plötzlich große rostende Fässer mit radioaktivem Abfall am Strand der somalischen Küste: Der Tsunami hatte sie vom küstennahen Meeresboden ans Tageslicht befördert. Seit Jahren lassen hier die Industrieländer ihren Atom-Müll ins Meer werfen, nicht selten mit Wissen ihrer Regierungen und oft mithilfe der italienischen Mafia. Von Bashir Mohamed Hussein Themen 54
  • 2. zu werfen. Unmittelbar nach dieser Bekannt- gabe machte Greenpeace in Italien die Namen einigerdieserFirmenöffentlich.Am9.Septem- ber 1992 enthüllte Roberto Ferigno (Green- peace Italien) in einer zusammen mit der Schweizer Greenpeace-Organisation herausge- gebenen Erklärung, dass die Firmen Achair Partners (Schweiz) und der Müllhändler Pro- gresso (Italien) mit einem selbsternannten somalischen Gesundheitsminister eine (ungül- tige) Absprache über die Lieferung von jährlich 500000 Tonnen Giftmüll nach Somalia bis zumJahr2011getroffenhatten.Erstinjüngster Zeit, im Juli 2009, sagte der UN-Sonderbeauf- tragte für Somalia laut AFP: „Ich bin überzeugt, dass es dort Restmüll in festem Zustand gibt und vermutlich auch radioaktiven Abfall. Das ist eine Katastrophe für die somalische Küste und das somalischeVolkund seineUmwelt.“ Es wurde außerdem sowohl durch die italieni- schen Medien, als auch durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse bestätigt, dass die italienischen Truppen bei den UN-Operatio- nen „Restore Hope“ und UNISOM zwischen 1992 und 1995 an vielen Orten spezielle Schutzanzüge trugen. Trotzdem, schrieb der Corriere della Sera, wurden einige Soldaten kontaminiert. Auch das Wochenmagazin Fa- miglia Cristiana zitierte aus einer gründlichen UNEP-Untersuchung an der Küste Somalias (dem Untersuchungsbericht, der dem Magazin vorlag) mehrere Fälle illegaler Giftmüll-Anlie- ferungen. 1997 setzte das italienische Parlament zur Untersuchung unerlaubter Giftmülldeponien einen Sonderausschuss ein, die Commissione parlamentare d’inchiesta sul ciclo di rifiuti. Die Kommission befasste sich auch mit der Ermor- dung zweier italienischer Journalisten in Soma- lia, Ilaria Alpi und Miran Hrovatín, die beide bei ihren Recherchen über illegale Müll- und Waffenexporte im März 1994 in Mogadischu ermordetwordenwaren.Dankihrerinternatio- nalen Verbindungen entdeckte die Kommis- sion natürlich auch die systematische Verschif- fungvonSondermüllinBürgerkriegsländerwie Somalia. Die darin verwickelten Unternehmen und Personen arbeiteten dabei Hand in Hand mit der Mafia und einigen „irregeleiteten“ öffentlichen Einrichtungen. Im Oktober 2000 stellte die Kommission ausdrücklich fest, dass Somalia einer der bevorzugten Abladeplätze für Giftmüll aus Italien war, ohne dass ein Ende dieser Aktivität abzusehen wäre. In Wahrheit stammte der Giftmüll gar nicht vollständig aus Italien, sondern auch aus anderen Ländern in Europa,darunterFrankreichundDeutschland, und aus den USA. Tatsächlich und ganz legal können italienische Unternehmen Sondermüll zur Weiterverarbeitung oder Deponierung im- portieren. Aus mehreren Untersuchungen wis- sen wir jedoch, dass dieser Müll durch krimi- nelle italienische Organisationen und ihre Part- ner nach Somalia und in andere Länder Afrikas weiterexportiert wird. Man schätzt, dass mehr als ein Drittel dieser Sondermüll-Wirtschaft in derHandderÖko-Mafialiegt. Schon im November 1998 hatte Famiglia Cristiana berichtet, dass im Herbst jenes Jahres ein Team von Journalisten (vom Magazin selbst, von La Repubblica, TV Svizzera, Radio Popolare, Agenzia Italia sowie freiberufliche Reporter) auf einer Reise nach Kenia und Somalia der Frage nachging, ob es einen Zu- sammenhang gab zwischen der Ermordung der beiden Journalisten 1994 und den illegalen Müll-Exporten nach Somalia. Auch der Ab- schlussbericht bestätigte, dass schon seit lan- gem illegal Gift- und Sondermüll an Somalias Küsten verklappt wurde, und publizierte eine KartederverschiedenenDeponien. Unmittelbar nach dem Tsunami an Weihnachten 2004 spülten die Wellen vor der somalischen Küste mehrere rostende Behälter und leckgeschlagene Fässer voller giftiger Stoffe andenStrand,diehöchstwahrscheinlichvorher in Küstennähe ins Wasser geworfen worden waren. Der giftige Inhalt kontaminierte die Quellen und sogar die Luft, wobei die Effekte Themen 55 italosomali.org Giftmülltonne, vom Tsunami ans Licht gebracht
  • 3. hiervon noch zehn Kilometer landeinwärts zu spüren waren. Wieder einmal gaben die alar- miertenVereintenNationeneineWarnungaus. DieVerdacht auf Beteiligung von Regierungs- stellen wurde auch von drei weiteren italieni- schen Zeugengeäußert. Marcello Giannoni, ein Geschäftsmann, der selbst mit Giftmüll-Lieferungen nach Somalia zu tun hatte, sagte im November 1998 vor einem Richter aus: „Ende der 80er Jahre bis in die frühen 90er Jahre hinein, gab es einen sehr mächtigen italienischen Politiker, der mit sol- chen Müll-Exporten nach Somalia zu tun hatte (...) Ich darf seinen Namen nicht verraten, aber es war ein sehr mächtiger Politiker.“ Freimütig und detailliert klärte er die Richter auch darü- ber auf, wie „hochgiftiger Müll und radioakti- ver Müll aus den USA mit italienischen Abfäl- len vermischt und das Ganze dann nach Soma- lia geschickt wurde“. Staatsanwalt Dr. Luciano Tarditi äußerte sich folgendermaßen: „In den 80er und den 90er Jahren haben große europäische Industrieun- ternehmen, mit starker Beteiligung US-ameri- kanischer Unternehmen, einen umfangreichen ExportvonGift-undSondermüllnachSomalia organisiert.“ Er war außerdem überzeugt davon, dass dies nicht möglich gewesen wäre „ohnediepolitischeRückendeckung(copertura politica) und ohne Protektion durch die Geheimdienste, da der in Frage stehende Ex- portvonstrategischerBedeutung war“. Und 2006 teilte Carlo Giovanardi, der italie- nische Minister für Parlamentsangelegenhei- ten, dem parlamentarischen Sonderausschuss mit: „Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass europäische und nichteuropäische Regierun- gen und auch die Mafia in die genannten [Gift- müll-] Handelsgeschäfte und andere Personen verwickelt waren; dies trifft auch auf den bekannten Broker Giorgio Comerio zu, der in eine ganze Reihe von Affären verwickelt ist, die mitSomaliazutunhaben.“ Erklärungen dieser Art belegen deutlich, dass die Ablagerung von Giftmüll nicht einfach eine private oder nur öko-mafiose Verfehlung ist, sondern zu einem beträchtlichen Teil offenbar vonstaatlicherSeitegefördertwird. Nach 20 Jahren Bürgerkrieg funk- tionieren die öffentlichen Einrichtungen in So- malia nicht mehr. Staatliche Krankenhäuser gibt es praktisch keine mehr. In Süd-Somalia, Schau- platz der anhaltenden Gewalt, aber anscheinend auch Anlaufstelle der meisten Giftmüll-Schiffe aus Europa, gibt es nur noch wenige private oder von internationalen Hilfsorganisationen betriebene Kliniken. Es ist also unmöglich, die Gesundheitsprobleme der Bevölkerung syste- matisch zu erfassen, aber über einige extrem beunruhigende Erkrankungen, sowohl bei Tie- ren, als auch bei Menschen, wurde von in- und ausländischen Medien berichtet. Themen 56 biokulule.com Nach Zeugenaussagen waren europäische Regierungen und die Mafia an den Giftmüll-Geschäften beteiligt.
  • 4. In dem erwähnten UNEP-Bericht nach dem Tsunami wird festgestellt, es gebe „in Somalia Beweise dafür, dass Giftmüll auf Deponien das Grundwasser kontaminiert hat“. Dort war auch die Rede von bis dahin ungewöhnlichen Gesundheitsproblemen: „akute Atemwegs- erkrankungen, schwerer trockener Husten, Mund- und Magenblutungen, neuartige che- mische Hautreizungen“. Lokale Ärzte, Somalis ebenso wie Ausländer, berichten von einer erhöhten Zahl von Krebserkrankungen, Fehl- geburten sowie – speziell in der Küstenstadt Marka, der Hauptstadt der Region Shabeellaha Hoose (südlich von Mogadischu) – Miss- und Fehlbildungen bei Neugeborenen. Eine unge- wöhnlich hohe Zahl von Missbildungen mel- dete auch die Radiostation HornAfrica in Mogadischu aufgrund von Berichten mehrerer Ärzte aus der dortigen SOS-Nothilfeklinik. Dr. Bashir Sheikh Omar, der Leiter der Entbin- dungsstation der Klinik, führt diese Entwick- lung auf die lokalen Giftmüll-Deponien zu- rück. Die erwähnte Zeitschrift Famiglia Cris- tiana zitiert die Ärztin Dr. Pirko Honenen (UNICEF Somalia): „Eine neuartige Krankheit tötet Menschen in Bardale (Süd-Somalia) in hoherZahl“;undsiefügthinzu,eshabedort„in zwei Monaten schon 120 Opfer gegeben (...) Die Symptome sind hohes Fieber und Blutun- gen aus demMund.“ Besonders alarmierend war der Bericht einer Gruppe, die nicht nur Reporter umfasste, son- dern auch ein Mitglied der Grünen im italieni- schen Parlament, den Abgeordneten Mauro Bulgarelli, nach einem Besuch bei einigen ver- dächtigen Deponien. Sie legte eine Dokumen- tationdervomTsunamileckgeschlagenenGift- fässer und der davon ausgehenden Gesund- heitsgefahren vor, insbesondere in der Gegend von Warsheik, nahe Mogadischu. Dort hatten die Reporter Dr. Gabriele Lombardo inter- viewt. Er erklärte, „seine Kollegen und er, die [nach dem Tsunami] die Dörfer in der Region besuchten, hätten eine ganze Reihe rätselhafter Krankheiten festgestellt, die mit relativ unge- wöhnlicher Häufigkeit auftraten: Mikro- und Makrozephalien (abnorm kleine oder große Schädel)ineinerHäufigkeit,diekeinmedizini- schesLehrbuchverzeichnet“. Diese unsystematische Auswahl von Berich- ten kann natürlich nur schweigen von den vie- len Haushalten in Somalia, in denen die meis- tenMenschenjahrelangkeinenArztsehen. AbersiebelegendenUmfangunddas GefahrenpotenzialderillegalenPraktiken. Mächtige Nationen, die vom Chaos des Bür- gerkriegs profitieren, missbrauchen bedenken- los einen zusammengebrochenen, also schutz- losen Staat als Giftmüllkippe. Reiche Länder des Westens werfen ihre gesundheitsgefährden- den Abfälle den Bewohnern vor die Haustür: eine fortwährende, oft staatlich geförderte Ver- letzungvonMenschenrechten. Es liegt auf der Hand, dass Entsorgungen sol- cher Art den kriegerischen Konflikt in dem „vergessenenLand“nurverlängernkönnen. ÜbersetzungausdemEnglischen:PhilippReuter Themen 57 www.navy.mil 17. November 2008: Piraten halten die Mannschaft des chinesischen Fischtrawlers Tianyu-8 gefangen.
  • 5. Claus Offe im Gespräch mit Gunter Hofmann (Die Zeit) und Wilhelm Heitmeyer Rette sich, wer kann! Der Politikwissenschaftler Claus Offe, Professor an der Hertie School of Governance, kann in der Finanzwelt keine Chancen für eine durchgreifende Regulierung erkennen. Er befürchtet vielmehr eine „schleichende undramatische Verrottung“ des politischen Systems, das er auf dem Weg in „post-demo- kratische Verhältnisse“ sieht: „Die Institutionen funktionieren irgendwie, aber das Interesse des Publikums nimmt weiter ab“ (Wilhelm Heitmeyer). siert, sie betrafen einzelne Länder, und sie be- trafen bestimmte Sektoren der Länder, bei- spielsweise Stahl- oder Automobilindustrie. Auf die Industriestaaten im Westen schlugen zwei dramatische Ölpreissteigerungen durch, die, wohlgemerkt, durch politische Entscheidungen der OPEC-Regierungen in Reaktion auf mili- tärische Konflikte (Jom Kippur, Irak) ausgelöst worden waren. Das ist das eine. Wir haben da- mals gedacht (und ich denke das auch heute), der Nationalstaat sei strukturell parteilich und verteidige die Interessen der Kapitalverwertung, von der ja alles abhängt: Akkumulation und Wachstum als soziale Friedensformel. Im Ei- geninteresse des Staates liege es, die Steuerbasis sicherzustellen. Politisch war aus unserer Sicht der Staat unbedeutend, die Wirtschaft domi- nierte. Das machte es zunehmend schwieriger, reformpolitische Versprechungen einzulösen, wie es zumindest bis Anfang der siebziger Jahre gelang. Für mich ist das der wichtigste Ein- schnitt der Nachkriegsgeschichte, diese Zäsur Herr Offe, wie würden Sie die Qualität der welt- weiten finanzökonomischen Krise von heute be- schreiben? Lässt sich die Situation überhaupt mit den siebziger Jahren vergleichen? Damals zählten Sie zu den intellektuellen Kritikern des kapitalis- tischenWirtschaftssystems, die Rede war von einer Legitimationskrise des Spätkapitalismus. Aus damaliger Sicht überraschend an der ge- genwärtigen Finanzmarktkrise ist sicher, auch wenn es heute eine Platitüde ist, dass Natio- nalstaaten nicht mehr haftbar sind für Krisen- bewältigung. Grenzen sind in diesem weltwei- ten Spekulationsgeschäft weggeschwemmt worden, was bedeutet, dass einzelne Staaten nicht einfach Stopschilder aufbauen und sich „national« schützen können. Richtig bei der Krisenbewältigung ist daher sicher der Versuch, auf europäischer oder atlantischer Ebene die Politik, vor allem neue Kontrollinstrumente, zu koordinieren – wie mühsam das auch sein mag. Diese Krise ist ihrer Natur nach ein Glo- balisierungsphänomen, sie ist nachstaatlich. Wenn man von unmittelbaren Ursachen für den Kollaps der Finanzmärkte spricht, ist gleichwohl ein Ursprungsort zu benennen: nämlich der US-amerikanische Häusermarkt, die Subprime-Kredite, die da billig vergeben worden sind und die dann plötzlich für viele unbezahlbar wurden. Diese von der Bush-Ad- ministration und ihrer Zentralbank ausdrück- lich ermutigte Blasenbildung hat Domi- noeffekte in alle Richtungen ausgelöst, wie wir es seit der Weltwirtschaftskrise in den zwanziger Jahren nicht gesehen haben. War die Kritik am Spätkapitalismus in den siebziger Jahren denn politisch motivierte all- gemeine Systemkritik, oder handelte es sich um eine reine Wirtschafts-, manche sagen auch Öl- preiskrise? Die Krisen der siebziger Jahre kann man auf zweierlei Weise beschreiben. Sie waren lokali- Interview 58 Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer
  • 6. Interview noch, einen gewissen nationalen Keynesianismus hat der sozialdemokratische Kanzler doch auch durchzusetzen versucht, oder? Das ist richtig. Währungspolitisch konnte man noch handeln, Schmidt und Giscard er- fanden die G6, den Weltwirtschaftsgipfel zur besseren Koordinierung, und die internationale Konkurrenz auf den Märkten war bei weitem noch nicht so intensiv wie jetzt. Reste vom „Rheinischen Kapitalismus«, der „Deutschland AG« mit funktionierenden Verbänden, der Zu- sammenarbeit in bestimmten Sektoren, exis- tierten noch, und wichtige wirtschafts-, sozial- und geldpolitische Fragen wurden akkordiert. Davon ist heute kaum noch etwas zu sehen. Die Beherrschbarkeit hat abgenommen, sagen Sie. Lässt sich das damit erklären, dass es seit längerem Kontrollgewinne des Kapitals gegeben hat und Kontrollverluste der Politik und des Staates? Ja, die Staaten im gesamten OECD-Bereich werden richtig als competition states beschrie- ben; oberstes Gütekriterium staatlicher Politik ist die wachstumsorientierte Wettbewerbsfä- higkeit. Es sind Staaten, die keine Grenzen ha- ben, mit denen sie sich abschirmen können ge- genüber ökonomischen Wettbewerbern, erst recht nicht auf Kapitalmärkten, aber auch auf Gütermärkten. Erinnern Sie sich: Ein weiteres Merkmal der Krisen der siebziger Jahre waren die relativ gut artikulierten Konflikte, die sie begleiteten. Die Wahlkämpfe handelten von ernsthaften Fragen, Weltwirtschaftskrise, RAF, Kernenergie, Nato-Doppelbeschluss, zu wenig von 1973/74. Vor dem Rücktritt von Willy Brandt dominierten durchaus optimistische, aktive reformpolitische Ambitionen. Danach war es damit glatt zu Ende. Und ab dann geriet die Politik in eine Krise, der Staat konnte nicht mehr intervenieren und gestalten? Und als Reflex darauf wurde die Zuversicht in die Leistungsfähigkeit staatlicher Politik schwer beschädigt. Der öffentliche Korridor wurde enger, der Staat zog sich zunehmend zurück hinter Sparzwänge. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre setzte dann das große „Umdenken«, die marktliberale Hegemonie ein. Es wurde nur noch für „weniger Staat« und einen Rückzug der Politik plädiert. Den- ken Sie beispielsweise an das Lambsdorff-Pa- pier, mit dem Helmut Schmidts Sturz vorbe- reitet worden ist. Das dauerte bei uns an bis zur Inauguration von Helmut Kohl Ende 1982. In Großbritannien ging Margaret at- cher mit ihrer neoliberalen Politik noch weiter, dort hieß es noch radikaler, wir alle hätten zu hohe Ansprüche, lebten über unsere Verhält- nisse, erwarteten zu viel vom Staat. Jetzt sei nichts mehr zu verschenken, nur noch abzu- bauen. Dieser neoliberale Einbruch in Groß- britannien, auch in den USA mit Ronald Rea- gan und zum Teil auch in Deutschland, ging schon sehr weit. In den Schmidt-Jahren hieß es aber doch im- merhin, das deutsche korporative Modell – Ge- werkschaften, Industrie, Politik – funktioniere 59 Gunter HofmannClaus Offe
  • 7. Interview oder zu viel Staat; die Verbände positionierten sich, die politischen Parteien ließen sich un- terscheiden, und krisenhafte Entwicklungen wurden aufgegriffen von politischen Akteuren, die vergleichsweise klar sprachen, Gewinner und Verlierer benannten und programmatisch agierten. „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit!“– eine Botschaft aus einer anderen Zeit. Wenn man sich heute Auf- tritte von Helmut Schmidt aus der damaligen Zeit ansieht – es ist nicht zu glauben, was für eine artikulierte, entschlossene, kämpferische Führungsfigur er noch war. So hat die Politik wenigstens rhetorisch noch eine Weile an ihrem Gestaltungsanspruch festgehalten! Eine solche Gleichzeitigkeit von Krise und Konflikt fehlt heute vollkommen. Liegt das auch daran, dass man nicht von Krise spricht, sondern jetzt von Krisen, also im Plural, sprechen muss und die Politik mit diesem Szenario von Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Fiskalkrise, Klimakrise und möglicherweise Gesellschaftskrise gar nicht mehr umgehen kann? Dass sich das auch niemand mehr zutraut? Nur eine aktuelle Meldung vom heutigen Tage: Die Arbeitsagen- turen rüsten sich für Massenentlassungen. Ja, die Politik hat den Überblick verloren. Seit „9/15“, dem Crash der Lehman Brothers, habe ich überlegt, dass vielleicht eine Schreck- sekunde von sechs Monaten eintritt nach dem Platzen der Finanzmarkt-Blase, dass die Reak- tion der Öffentlichkeit und der politischen Akteure sich nur verzögert. Inzwischen denke ich, das war falsch, sondern was Platz greift, ist eine fatalistische Dumpfheit und Desori- entierung. Das Motto heißt eher: Rette sich, wer kann; man kann sowieso nichts machen gegen die Naturgewalten der Weltmärkte; das nächste Jahrzehnt wird eines der weiteren De- montage des unter gewaltige Sparzwänge ge- ratenden Sozialstaats. Ist das eine individuelle Immunisierung? Die kann sich einTeil der Bevölkerung leisten. Heute reden die wirtschaftlichen und politischen Eliten von Krise. Damals war es so, dass wir da- von geredet haben, aber die Eliten fragten nur: Von was sprecht ihr eigentlich? Das geht doch vorüber! Die Situationsdeutung selbst war in den siebziger Jahren ein Streitpunkt. Heute sind wir uns alle einig. Allen in den Wirtschaftswis- senschaften, in den politischen Parteien, in der Regierung, in internationalen Organisationen dient das Wort Krise als Schlüsselwort, um die Lage zu beschreiben. Wie gebannt warten alle Seiten darauf, dass sie einmal von selbst aufhört; und dass der Brand nicht nochmals aufflackert, weil es dann kein Löschwasser mehr gibt. Hängt das auch damit zusammen, dass sich seit den siebziger Jahren der Staat so sehr zurückge- zogen hat und sich im großen und ganzen all- mählich eine Denkschule, die eine reduzierte Rolle der Politik forderte, durchgesetzt hat? Um noch einmal zu vergleichen: Was die Dif- ferenzen in den siebziger Jahren über die Si- tuationsdeutung angeht – ich erinnere mich, 1982 erfolgte der Wechsel von Schmidt zu Kohl, und der versprach die „geistig-moralische Wende“. Damit stellte er einer falschen Rich- tung der Politik, wie er glaubte, seine richtige Richtung gegenüber. Wenn das heute jemand sagen würde, man wüsste gar nicht, wovon er redet. Eine weitere Differenz zu damals möchte ich kurz erwähnen: Heute gelingt es den Re- gierungen, besonders ausgeprägt in Deutsch- land, die Krise über die Zeit zu verteilen, sozu- sagen dünn zu streichen. Sie soll nicht überall zur gleichen Zeit auftreten, sondern zeitversetzt ankommen, insbesondere auch wegen des Bun- destagswahlkampfes. Gehören dazu denn auch politische Manipula- tionen wie die ständige Veränderung der Ar- beitslosenstatistik? Rechnet man die dramatische Lage klein? Beschönigen kann man mit vielen Tricks, in- dem man zum Beispiel Arbeitslose in befristete Arbeitsverhältnisse übernimmt. Auch statisti- sche Definitionen sind manipulierbar: Wie viele Stunden muss man mindestens arbeiten, um nicht mehr arbeitslos zu sein? Die Antwort ist: drei pro Woche. Und diese ganzen Minijobs, Midijobs, Geringfügigkeitsregelungen, das ist ja ein dichtes Gestrüpp von Vertuschungsma- növern. Das ist auch ganz erfolgreich, da es nicht alle betrifft, sondern bestimmte Sektoren zu verschiedenen Zeitpunkten. Das ist eine Diffusionsstrategie, ebenso wie das befristete Kurzarbeitergeld und die Abwrackprämie. Aber auch unabhängig davon sehe ich nicht, dass es einen großen Dissens über Ursachen, Folgen, verfügbare Abhilfen und Präventionen gibt. Was bedeutet das aber dann für die Rolle des Staates? Wenn alle sich einig sind, kehrt dann möglicherweise der starke Staat zurück? Das wäre sicher angesagt, aber in Deutschland und in der EU sehe ich es nicht. 60
  • 8. Paul Krugman, der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger, sagt das für die USA voraus: Big government komme wieder. Das wäre dann der bisher einzige Erfolg, denn die Kontroll- instrumente der Politik haben auf dem Finanz- sektor bisher nicht wirklich gegriffen. Wegen seiner Reform des Gesundheitssystems steht Obama derzeit mit dem Rücken zur Wand. Warten wir also ab. Den Clintons ging es 1995 genauso. Der Medical Industrial Com- plex ist überall mächtig und hält politische Veto- Positionen besetzt. Natürlich kann man von ei- nem „starken Staat“ dann schon sprechen, wenn er sich finanzpolitisch derart gewaltig engagiert, wie in den USA und zum Teil in Europa ge- schehen. Aber das heißt auch, dass er sich dabei über alle Ohren verschuldet und sich damit na- türlich auf lange Zeit um so mehr schwächt. Was geschieht denn, wenn die nächste Finanz- krise da ist? So ist es. Wenn ich mich für einen Moment in deren Schuhe stelle, vermute ich eine gewisse Überraschung, dass es so leicht war, zu ihrer Rettung alle Schleusen zu öffnen. Aber sie kön- nen wohl nicht darauf rechnen, dass das ein nächstes Mal überhaupt noch möglich sein wird. Ist das nicht umgekehrt gerade der Erpressungs- fundus, den die in der Hand haben? So ist es. Wenn ich mich für einen Moment in deren Schuhe stelle, vermute ich eine gewisse Überraschung, dass es so leicht war, zu ihrer Rettung alle Schleusen zu öffnen. Aber sie kön- nen wohl nicht darauf rechnen, dass das ein nächstes Mal überhaupt noch möglich sein wird. Könnte man denn sagen, dass dieser Sieg der verselbständigten Finanzmärkte in den letzten Jahrzehnten weiter ging, als es die Kapitalismus- kritiker der siebziger Jahre erwartet hatten? Ja, sicher. Zwei eorien interessieren mich dazu. Einmal ist von Risikodiffusion die Rede, ein Prozess, in dem sehr viele sehr schnell po- tentiell Leidtragende werden, über Grenzen und Sektoren hinweg. Das bedeutet Risikominderung, das Risiko wird auf viele Schultern verlegt. Das andere ist ein Explosionsmodell: Danach ist die Gefahr größer, je mehr Akteure betroffen sind und je schneller die Dominokette kippt. Noch wissen wir nicht, was davon zutrifft. Läuft die Entwicklung von der Finanz- über die Wirtschaftskrise in eine Fiskalkrise? Nach dem Explosionsmodell muss man davon ausgehen, dass die Krise sich immer weiterfrisst und dadurch die Handlungsmöglichkeiten, sie aussichtsreich zu bekämpfen, zunehmend ver- lorengehen. Die Frage ist, ob das Auswirkungen für die so- ziale Integration dieser Gesellschaft hat. Der Sozialstaat à la Keines wird beerdigt, weil die Mittel nicht da sind. Was passiert dann, etwa mit den Hartz-IV-Empfängern – einschließlich ihrer Angehörigen sind wir bei rund sieben Mil- lionen – kommen die je wieder raus aus diesem System? Wenn nicht, was bedeutet das eigentlich für diese Gesellschaft? Bisher führt es jedenfalls nicht zu kollektiven Konflikten, deren Akteure sich an die Politik adressieren. Die Konflikte werden anderswo abgearbeitet; sie treten im Gesundheitsbereich auf, in den Familien, unter Nachbarn, am Arbeitsplatz kommt es zu Konflikten, die Kri- minalitätnimmtzu,diesozialeFragekannvon rechts her aufgerollt werden. Das sind alles soziale Pathologien, die an der offiziellen Poli- tik vorbeigehen. Größere Allianzen werden nicht geschmiedet werden, es gibt keine orga- nisierte Reaktion auf die Krise. Sorgfältig und engagiert denkt Christoph Deutschmann darüber nach. Er benutzt die Kategorie der Hoffnung. Gemeint ist die Zuversicht, mit der man Lebenspläne anlegt und dann verfolgt. Manche haben (zu Recht) das Gefühl, dass sie mehr Chancen als Risiken haben. Sie sehen sich als Leute, die davonkommen und sich die Lage sogar zu Nutze machen können. Deshalb werden sie jetzt individuell der „Augen-zu- und-durch“-Methode folgen. In diesem Sinne macht die Krise vielleicht auch viele fromm, die Anlass haben zu denken, sie werden schon davonkommen. Das ist ein Phänomen einer geradezu irrationalen und zwanghaften Zuversicht: Es wird bald alles wieder gut, und die Steuern werden sinken. Und andere sehen sich sehr viel mehr Risiken als Chancen ausge- setzt. Sie finden es schwer, positive Lebensper- spektiven aufzubauen, deshalb ziehen sie sich zurück in eine ebenfalls individualistische, apathische, fatalistische, angstvolle und zyni- sche Einstellung gegenüber sich selbst, der staatlichen Politik und allen anderen. So wirkt dieKriseaufbeidenSeitenkonfliktbetäubend. In unseren Daten findet sich das auch wieder. Die Leute sagen: Der Gesellschaft geht es schlecht, aber mir geht es noch ganz gut. Interview 61
  • 9. Interview Ja, das sind die, die davonzukommen mei- nen. Zu diesem nichtpolitischen Verhalten könnte doch auch die Erfahrung beigetragen haben, dass die Politik ebendiese Steuerungsfähigkeit schlicht nicht mehr hat, wenn nicht sogar frei- willig abgetreten hat, sie kann also nicht mehr helfend und korrigierend zugunsten der Betrof- fenen intervenieren. Das ist Teil des Arguments. Man sieht ja, dass die Politik nichts zuwege bringt. Dass die Na- turgewalten des Weltmarktes die staatliche Po- litik als Spielball vor sich her treiben. Weil das so ist, so ein vorherrschendes Gefühl, sollten wir gar keine illusorischen Erwartungen in die Politik investieren. Auch nicht die Erwartung, Kontrolle zurück- erobern zu können? Nein, wer sollte das tun? Wer sollte diese Er- wartung haben? Es wirkt so evident hilflos, rat- los, perspektivlos und manipulativ ablenkend, was uns die Politik anbietet. Hören Sie sich Po- litiker-Runden im Fernsehen an: Es ist so trost- los, dass man erst im übertragenen und dann bald auch im wörtlichen Sinne abschaltet. Leben wir denn insofern schon in postdemokra- tischen Verhältnissen? Diese Analyse von Colon Crouch und ande- ren finde ich zumindest sehr anregend. Depo- litisierungseffekte zeigen sich darin, dass es kein Gegenüber mehr gibt, an das man sich wenden könnte. Auch nicht an den Herrn Gysi von den Linken. Die Politik ist nicht mehr die Adresse; sie ist sozusagen unbekannt verzogen. Bei vielen Bürgern scheint das Gefühl abhan- dengekommen zu sein, überhaupt repräsentiert zu werden und sich irgendwo in einem politi- schen Lager positionieren zu können. Auch das ist übrigens anders als in den siebziger Jahren. Deshalb spürt man kaum einen Hauch poli- tisch relevanter Konflikte. Liegt es daran, dass es systemische Krisen sind und nicht Krisen einer Partei oder einer Regierung? Systemisch, ja. Keine der politischen Parteien oder der Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie genießt die Qualität, dass man ernsthafte Hoffnungen in sie investieren wollte. Adenauer, denkt man gelegentlich während der zahllosen Gedenkanlässe über die Geschichte der Republik, stand immerhin für bestimmte Positionen, und er stand gegen andere, er war lokalisierbar, und man konnte sich in Relation zu ihm setzen. Meinen Sie das, wenn Sie davon sprechen, dass es eine schleichende undramatische Verrottung des demokratischen Systems gibt? So ist es. Dabei gibt es so gut wie keine Anti- demokraten. Aber sehr viele Leute haben die Nase voll von dieser Art von Als-ob-Politik. Während im Wahlkampf wichtigste emen (Afghanistan, Integration von Migranten, Ar- beitsmarkt- und Sozialpolitik, europäische In- tegration) geradezu absichtsvoll beschwiegen werden, geht es endlos um Nebensachen wie die Dienstwagenbenutzung der Gesundheits- ministerin und die Dinner-Party im Bundes- kanzleramt für Herrn Ackermann. Jeder Passant weiß: Das ist Politik-Ersatz. Wir haben in unseren Bevölkerungsbefragungen nach Kernnormen gefragt wie Solidarität, Ge- rechtigkeit und Fairness. Fast drei Viertel der Menschen glauben nicht mehr daran, dass es in dieser Gesellschaft überhaupt noch eine Chance gibt, solche Werte zu verwirklichen. Das bedeu- tet natürlich auch etwas für die Demokratie und für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Politik schafft es nicht, sie hat ihr Ansehen verloren und ihre Kraft. Schon ästhetisch wirkt sie irgendwie vernebelt und konturlos. Was sie eigentlich leisten sollte, nämlich die laufende überzeugende Annäherung an die Einlösung der genannten normativen Anforderungen, das schafft sie ersichtlich nicht. Ich kenne inzwi- schen ein Dutzend Leute, die zerstörerische Er- fahrungen mit dem aktuellen Arbeitsmarkt ge- macht haben und so gut wie sicher sein können, dass sie ihre Chancen aufgebraucht haben und nie wieder im „ersten“ Arbeitsmarkt unterkom- men werden. Aber die Arbeitsverwaltung schi- kaniert sie, wenn sie eine Viertelstunde zu spät kommen, weil sie einmal ihr Kind abgeben mussten; dann kriegen sie eine Woche lang keine Zahlung. Ich würde das nicht erwähnen, wenn es ein Einzelfall wäre. Wir sind hier nicht zur Ehrenrettung der Po- litik angetreten – und trotzdem ist es ja auch eine Gefahr, dass Ressentiments losgetreten werden. Es versagen doch auch andere. Poli- tische Ökonomie beispielsweise ist verschwun- den, in der Wissenschaft herrschte eine Mo- nokultur im ökonomischen Denken, viele haben versagt. Gewiss. Die politische und intellektuelle Re- 62
  • 10. Interview Aber „Verrottung“, wenn man bei diesem Bild bleibt, heißt ja auch, dass nichts mehr wächst. Wenn das zutrifft, was kommt danach? Stehen wir vor einer Ära der rechtspopulistischen Be- wegungen? Ein Vakuum sehe ich, aber Rechtspopulismus? Italien ist natürlich schrecklich, da schlägt je- mand Profit aus dieser Verrottung. Aber Ber- lusconi ist nicht in der Lage, einen „-ismus“ zu begründen. Er ist ein Clown, ein male chauvi- nist, und löst damit einen gewissen Appeal bei Teilen seiner Wählerschaft aus. Und im übrigen hat die Linke versagt. Ich sehe die populistische Gefahr, aber die Anhaltspunkte dafür in Deutschland sind doch recht schwach. Und wie es sich glücklich fügt: In Frankreich, in Deutschland, in den Niederlanden, in Däne- mark, in Österreich streiten sich die populisti- schen Rechtsparteien untereinander und ad- dieren sich vielfach zu null oder zu wenig mehr. In den alten EU-Ländern, Italien und Grie- chenland vielleicht ausgenommen, gibt es wohl gewisse Immunisierungseffekte. In Osteuropa hingegen ist die Entwicklung gefährlich: Un- garn besonders, Bulgarien, Rumänien, auch in Polen, überall tauchen nationalistische Bewe- gungen auf, anti-EU, antiliberal, antiwestlich. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Mitte-Links oder die Linke in Europa im Grunde implo- diert, obwohl man sagen würde, eine ökonomi- sche Krise dieser Art, das ist eigentlich ihre Stunde. Sie hat Positionen zu früh geräumt, die jetzt vielleicht reaktivierbar wären. Das gilt für die deutsche Sozialdemokratie, das gilt für Labour in Großbritannien, für die französischen So- zialisten sowieso. Walter Veltroni in Rom hat aufgegeben. Er zieht sich zurück aus dem poli- tischen Leben. Ein Lichtblick ist der Zapatero in Spanien, aber sein Land befindet sich in einer wirklich miserablen ökonomischen Si- tuation. Aber sonst? Was ist denn zu erwarten? Was wäre, wenn die Politik nach der Bundestagswahl ihre Botschaf- ten ändert? Ich glaube aus heutiger Sicht, mitten im Wahl- kampf, die Bundestagswahl wird ein tiefer Ein- schnitt. Dann könnte es, je nach Ausgang, ernst werden; dann hört man vielleicht mit der Tak- tik auf, die Krise über die Zeit zu verteilen und so die Flächenbrände zu limitieren. Kann man dann sagen, dass es doch sehr sinnvoll 63 putation der Wirtschaftswissenschaft ist nun wirklich ein Opfer der Krise. Wenn wir nicht den Paul Krugman und wenige seinesgleichen hätten, dann würden wir vollends verzweifeln. Das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dass in den Modellen der Wirtschaftswissenschaftler das Wort „Krise“ gar nicht vorkommt. Einige jüngere Wirtschaftswissenschaftler sa- gen, wir müssten total neu anfangen und sehr viel stärker institutionell und soziologisch den- ken. Diese Modellästhetik der letzten Jahre, die Wirtschaft als Mathematik, das ist heute alles zutiefst desavouiert – hoffentlich mit krea- tiven Folgen. Auf der anderen Seite fehlt es unserer Gesellschaft möglicherweise an Mobilisierungsexperten? Soziale Bewegung gibt es eigentlich nicht mehr. Paul Virilio hat von „rasendem Still- stand“ gesprochen. Eine Menge bewegt sich mit ungeheurer Dramatik (die Technologie, der Klimawandel, die Massenkultur, die Ge- schlechter- und Generationenbeziehungen), aber gleichzeitig herrscht Stillstand, verbunden mit der Unfähigkeit zur Selbstverständigung darüber, wo wir sind, was auf uns zukommt und was die Prioritäten sind. Ausnahmen von dieser Regel sind symptomatischerweise alte Leute, von Kurt Biedenkopf bis Erhard Eppler, Heiner Geissler oder Richard von Weizsäcker, die lebensgeschichtlich längst heraus sind aus politischen Ämtern und Ambitionen. Kurt Bie- denkopf zum Beispiel spricht vieles aus, worauf seine Parteifreunde wohl nur mit ahnungsloser Irritation reagieren können. Leute wie er kön- nen es sich sozusagen leisten, die Wahrheit zu sagen und neue Gedanken vorzutragen. Sie leisten sich den Luxus einer gewissen Ehrlich- keit und einer unbefangenen und informierten Situationsbetrachtung. Alle anderen sind ein- gesponnen in Abhängigkeiten und Selbsttäu- schungen. Es gibt also so etwas wie eine ana- lytische Militanz der Achtzigjährigen; aber ihre Einsichten gehen leider oft unter im allgemei- nen Rauschen. Um noch einmal zurückzukommen auf Ihre Formel der „schleichenden undramatischen Ver- rottung“. Ist das Undramatische nicht gerade das Dramatische? Ich hätte gedacht, dass die politischen Parteien in ihrem eigenen Interesse ehrlich die Situation beschreiben und zur strategischen Orientierung beitragen. Das ist leider nicht erkennbar.
  • 11. Interview 64 ist, dass es so etwas gibt wie stabilisierende Apa- thie? Ja, aber das ist kein Dauerzustand. Zumal es einfach auf der Ebene der Sozialintegration nach unten gehen kann. Wenn nicht allmählich etwas für die Massenkaufkraft unternommen wird (oder wie Deutschmann das mit seiner wirklich gewagten Formel von der „Sozialisierung der Lohnfonds“ gesagt hat, eine andere Bezeichnung für Grundeinkommen), wenn das Einkommen nicht nach anderen, bürgerrechtlichen Kriterien verteilt wird, dann sehe ich schwarz. Konjunk- turpolitisch wäre das übrigens eine ziemlich gute Idee. Aber da müsste die Politik, da müss- ten wir alle schmerzhaft umdenken. Welche Chancen sehen Sie denn für eine Repo- litisierung? Würde dabei so etwas wie eine Grundsicherung helfen, so dass die Menschen nicht länger fürchten müssen, bei jeder Gele- genheit in die Gefahr zu geraten, gekündigt zu werden? Die Angst spielt zwar eine große Rolle. Aber ich sehe kaum Aussichten für eine Repolitisie- rung, sei es bei den politischen Parteien, den Gewerkschaften oder den sozialen Bewegun- gen. In unseren Analysen sieht man sehr deutlich, dass diejenigen, die sich bedroht fühlen, zu- nächst mal durchaus sagen, dass sie beispielsweise an Demonstrationen teilnehmen würden. Das Problem ist, dass die Bedrohten aber seit jeher diejenigen aus den unteren sozialen Schichten sind, die kaum mobilisierungsfähig sind. Unter anderem deshalb, weil sie sich nicht als Dauerarbeitnehmer in „ihrem“ konkreten Be- trieb treffen. Wenn man zu Hause sitzt und sich drei bis fünf Stunden die Woche mit Mi- nijobs beschäftigt, dann trifft man seinesglei- chen nicht so leicht und hat für irgendwelche Mitgliedsbeiträge oder auch nur Zeitungen in der Regel kein Geld. Kann man von Demokratieentleerung sprechen? Ja. Das von jedem demokratischen Verfas- sungsstaat vorauszusetzende Interesse der Bür- ger an Parteien und ihren Politikvorhaben ist weithin erlahmt, so stark, wie es noch nie der Fall war in meiner politisch bewussten Lebens- zeit, das heißt seit mehr als 50 Jahren. Das ist wohl nicht nur in Deutschland so. Der Wahl- kampf 2009 war, wie allseits beklagt wurde, buchstäblich gegenstandslos – auch, weil viele der Hauptprobleme außerhalb der Reichweite nationalstaatlicher Politik liegen. Nehmen Sie Afghanistan oder die geplante Rettung von Opel. Müsste dann nicht der Umkehrschluss heißen, damit man nicht gar zu pessimistisch die Poli- tikwelt betrachtet, dass man erheblich offensivere politische Alternativen im Post-Nationalstaat- lichen, in Europa, suchen muss? Das wäre natürlich der Ausweg: Das, was bis- her auf der nationalstaatlichen Bühne stattfand, auf die große europäische Bühne zu bringen. Das hat Jürgen Habermas seit vielen Jahren ge- radezu verzweifelt versucht und mutig und ent- schlossen empfohlen. Und das Karlsruher Gericht ist ihm gerade in den Arm gefallen. Ja, das hätte ich nicht erwartet, dass das na- tionale Parlament vom Gericht in eine so starke Veto-Position gerückt wird. Ich neige auch dazu, zu sagen, man muss auf der europäischen Ebene versuchen, die Politik wieder flottzuma- chen. Aber ein regulatives Regime für das Ban- kenwesen, das nun wirklich Zähne hätte, kommt auch dort nicht zustande. Und dann: Es gibt kein europäisches Parteiensystem, nicht mal ein europäisches Parteiengesetz oder ein Gesetz zur Parteienfinanzierung. Ja, Europa, das wäre ein Weg aus der Krise. Sehr zuver- sichtlich bin ich aber, was Europa angeht, leider nicht. Interview mit freundlicher Erlaubnis des Suhrkamp Verlags entnommen aus Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 8, Berlin 2010, edition suhr- kamp 2602.